Seit drei Jahrzehnten dominieren in Bosnien-Herzegowina kriminelle Ethno-Clans die politische Szene, die die zerstörerischen Ideologien der 90er Jahre nie ad acta gelegt haben. Bei den Lokalwahlen entdeckten viele Wähler/innen nun die Macht ihrer Stimme, um den Herrschenden in den urbanen Zentren eine Absage zu erteilen. In Sarajevo siegte ein alternativer Parteienblock. Die serbischen Sezessionisten um den obstruierenden Präsidentenvertreter Milorad Dodik erlitten ausgerechnet in ihrer Hochburg Banja Luka eine Niederlage. Der Urnengang wurde von massivem Wahlbetrug begleitet.
Die Stimmung war merklich gedrückt: Als der serbische Vertreter im bosnischen Staatspräsidium, Milorad Dodik, die Ergebnisse der Lokalwahlen kommentierte, war ihm anzumerken, dass er mit diesem Ausgang nicht gerechnet hatte. Ausgerechnet in Banja Luka, Verwaltungssitz der serbisch dominierten Entität Bosniens, der Republika Srpska, musste Dodiks Partei „Bündnis unabhängiger Sozialdemokraten“ (SNSD) sich geschlagen geben. Der 27-Jährige Oppositionspolitiker Drasko Stanivukovic wird nun Bürgermeister in Banja Luka. Ein Fehler, kommentierte Dodik - ganz so, als ob der Wählerwille einzig an den Maßstäben seiner Partei zu messen sei. Und kündigte sogleich Sanktionen gegen die Aufmüpfigen in Banja Luka an: Er werde der Stadt den Geldhahn zudrehen, drohte Dodik in Tyrannenmanier, auch für das Heizen würden die Subventionen gekappt.
Das Wahlergebnis des jungen Herausforderers Stanivukovic ist angesichts der Einschüchterungspolitik der Dodik-Partei, die die Zivilgesellschaft brutal unterdrückt und regelmäßig mit Sezession droht, ein beachtlicher historischer Einschnitt. Nach Jahren der Dauerherrschaft von Milorad Dodik haben sich die Bürger/innen nun gegen einen der größten Provokateure der bosnischen Innenpolitik positioniert. Dennoch gilt auch Stanivukovic als serbischer Nationalist, der freilich mit Chuzpe und starken Attacken gegen das Establishment für sich warb und nun mit einem Stimmenanteil von 54 Prozent den Kandidaten der Dodik-Partei zu Fall brachte. Auch in Bijeljina verlor Dodiks SNSD, auch hier kommt es zu einem Wechsel im Bürgermeisteramt.
Historische Niederlagen erlitt vor allem auch die Bosniakenpartei „Partei der demokratischen Aktion“ (SDA) in der Hauptstadt Sarajevo. Nach mehreren Jahren an der Macht verlor die SDA gleich mehrere Bürgermeisterposten an eine Vier-Parteien-Koalition, die angetreten war, die Vormachtstellung der von starken Korruptionsaffären gebeutelten SDA zu beenden. Zu dem Viererblock gehört die liberale „Nasa stranka“, ein unabhängiges Bündnis, die Partei „Recht und Volk“, gegründet von abtrünnigen SDA-Vertretern sowie die „Sozialdemokratische Partei“ (SDP). Die Wahlergebnisse in Sarajevo seien ein „Debakel“ für die SDA, titelten die Zeitungen, auch wenn Parteichef Bakir Izetbegovic dies nicht einräumen wollte. Man habe Sarajevo verloren, aber Bosnien gewonnen, erklärte Izetbegovic kaum überzeugend, schließlich musste seine Partei auch anderswo Verluste hinnehmen.
Nasa stranka beschwört die Multiethnizität
Der neue Bürgermeister in Sarajevos Zentrum, Srdjan Mandic, Mitglied der multiethnischen Nasa stranka, konstatierte sichtlich bewegt, die Siege der Vierer-Koalition markierten den Beginn eines neuen Bosnien-Herzegowina. Dass nun in Sarajevo, das jahrelang im Krieg von serbischen Truppen eingekesselt und beschossen worden war, ein Serbe mit einer neuen, liberalen und anti-nationalistischen Politik ausstrahlen kann, belegt, dass diese Wahl tatsächlich den lang erwarteten Beginn einer neuen Ära einleiten könnte. Menschen würden nun nicht mehr nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit beurteilt, sondern nach ihren Qualitäten und Kenntnissen, unterstrich der Vorsitzende der Nasa stranka, Predrag Kojovic, der allzu oft selber Hasstiraden ausgesetzt ist, auch er ist Serbe.
Andere Kommentatoren reagieren dagegen eher verhalten: Es gebe bislang keinen flächendeckenden Trend einer Absage an die Nationalisten. Die völkisch ausgerichtete „Kroatische Demokratische Union“ (HDZ BiH) etwa konnte ihre Position in den kroatisch dominierten Orten noch verteidigen. Die aggressive Politik ihres Chefs, Dragan Covic, die sich gegen die derzeitige Dayton-Friedensordnung richtet, ein stets benutztes „Opfernarrativ“ sowie Glorifizierungen der im Bosnienkrieg begangenen Kriegsverbrechen („Herceg-Bosna“) kommen bei den Kroaten, der kleinsten Gruppe der konstitutiven Völker, weiterhin gut an.
Dennoch lassen die Wahlergebnisse vom Wochenende einen Lichtblick erkennen: Erste Schritte wurden gemacht auf dem langen Weg der Normalisierung, der den seit Jahrzehnten selbstherrlich agierenden monolithischen Ethnoblöcken ein Ende aufzeigen könnte. Motiviert durch den Fall der Bastionen in Banja Luka und Sarajevo erscheint es nun denkbar, dass bei den nächsten allgemeinen Wahlen in zwei Jahren alternative Kräfte weiteren Aufwind erleben.
Jahrzehntelang nutzten die bosniakische SDA, die kroatische HDZ und die serbische SNSD den Nationalismus gezielt als Instrumentarium, um zwischen den ethnischen Gruppen weiter Zwietracht zu sähen. Gezielt hielten sie die Menschen in einem System der Angst, in dem die tatsächlichen Probleme des Nachkriegslandes weitestgehend ignoriert werden. Insbesondere die Luftverschmutzung in vielen bosnischen Städten mit Werten, die weltweit führend sind, bedarf dringend neuer, nachhaltiger Lösungsansätze.
Korruptionsaffären in der Pandemie
Die Corona-Pandemie, die in Bosnien durch relativ hohe Fallzahlen und überdurchschnittlich viele Todesfälle charakterisiert ist, hat den Menschen landesweit gezeigt, dass dumpfe Nationalparolen und die Zementierung von Konflikten entlang ethnischer Trennlinien die wahren Herausforderungen des Landes nicht zu lösen vermögen. Dass unter SDA-Ägide in der kroatisch-bosniakischen Föderation des Landes aus China Beatmungsgeräte für mehrere Millionen Euro angeschafft wurden, die gar nicht funktionieren, belegte nur einmal mehr, dass die alles umfassende Korruption dazu angetan ist, Menschenleben zu gefährden. Konsequenzen hatte dies, wie so oft, bislang nicht. Der involvierte Premierminister der Föderation, Fadil Novalic, ist weiter im Amt. Zweifelsfrei hat die „Affäre Beatmungsgerät“, die auch international für Schlagzeilen sorgte, das Vertrauen der Bürger/innen in die etablierten Parteien nachhaltig erschüttert.
Mit den kriminell motivierten Eliten kam der Reformweg Bosniens in den letzten Jahren nahezu gänzlich zum Erliegen, Länder in der Region wie Albanien und Nord-Mazedonien zogen an Bosnien vorbei, das nun mit Abstand das Schlusslicht auf dem Weg zur EU-Integration darstellt. Bildungs- und Gesundheitssysteme entsprechen kaum europäischen Standards. Immer wieder blockieren die Parteien HDZ BiH, SNSD und SDA notwendige Schritte vor allem zur Reformierung des politisch kontrollierten Justizwesens. Die korrupten Clans wissen, dass sie sich in einem funktionierenden Staate irgendwann vor Gericht verantworten müssten.
Umso brutaler gingen die nationalistischen Parteien auch im Wahlkampf vor, um ihre Vormachtstellung zu verteidigen. Harsche Angriffe gegen Kandidaten der anderen ethnischen Gruppe gab es zuhauf, landesweit kam es zu Drohungen und Wahlbetrug.
Der Direktor der unabhängigen Wahlbeobachtung „Pod lupom“ („Unter der Lupe“), Dario Jovanovic, erklärte Medienberichten zufolge, Zehntausende Wähler/innen hätten ihr Wahlrecht nicht ausüben können. Bei der Zentralen Wahlkommission gingen alleine 5.000 Beschwerden von Wähler/innen ein, die angaben, man habe ihre Identitäten gestohlen. Die OSZE-Mission in Bosnien-Herzegowina rief die Wahlkommission sowie die Staatsanwaltschaft umgehend auf, aktiv zu werden.
Schon vor dem Urnengang hatten Beobachter vor weitreichender Manipulation und Wahlfälschung gewarnt. Dieses Mal waren die Parteiclans tatsächlich schon im Vorfeld besonders aktiv: 28.000 angebliche Wähler/innen wurden von der Zentralen Wahlkommission erst gar nicht zugelassen - ein Rekord, wie die Kommission urteilte. Fiktive Identitäten wurden auch im Ausland, unter anderem in Serbien, geschaffen.
Kampf um Deutungshoheit in Srebrenica
Srebrenica, wo 1995 mehr als 8.000 muslimische Jungen und Männer von serbischen Einheiten umgebracht wurden, wurde pünktlich zur Wahl mit Autos mit serbischen Nummernschildern geflutet. Eine Initiative „Meine Adresse Srebrenica“ fordert nun Aufklärung. Nicht-Einwohner Srebrenicas sollen mit falschen Dokumenten ausgestattet worden sein und hätten damit illegaler Weise an den Wahlen teilgenommen, so der Vorwurf der Bosniaken. Da die Serben sowohl in Banja Luka als auch in Belgrad den begangenen Genozid leugnen, hat das kleine Örtchen im Osten des Landes eine besondere Bedeutung für den Kampf der Ideologen. So will man die Deutungshoheit über die schlimmsten Verbrechen, die seit Ende des 2. Weltkrieges in Europa begangen wurden, behalten. Der alte und wohl auch der neue Bürgermeister, ein Serbe der Partei SNSD, stellt den Völkermord in Abrede, da hierfür die Beweise fehlten, so die groteske Begründung.
Wie nervös die Großparteien vor dem Wahlgang waren, zeigte sich auch daran, dass die Konterfeis der Kandidaten nahezu überall vertreten waren: Auf Plakaten, auf Taschentuchpackungen und Schokoladen, die in die Briefkästen geworfen wurden, ja selbst auf Tablettenschachteln wurden Patienten noch daran erinnert, für wen sie ihre Stimme abgeben sollten.
Das Leben der meisten Menschen in Bosnien-Herzegowina ist von Armut geprägt. Rentner können mitunter nur überleben, weil sie in Containern nach Essbarem suchen, während die Systemgewinnler mit SUV´s durch die Straßen rauschen und die staatlichen Ressourcen weiter für sich und ihre Günstlinge nutzen. Staatliche Töpfe fungieren dabei als Cash-cows für eine politische Klasse, die sich zum obersten Prinzip gesetzt hat, sich selber zu bereichern.
Genug Gründe für Unmut also, der sich aufgestaut hat. Und so rief der Hohe Repräsentant Valentin Inzko, der über den fragilen Frieden im Lande wacht, die Bevölkerung vor dem Urnengang nachdrücklich dazu auf, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Die eigene Stimme, so Inzko, sei vergleichbar mit den „Bonnpower“ im Kleinen, jenen Befugnissen, mit denen der international Entsandte obstruierende Politiker absetzen kann. Inzko nutzte diesen Vergleich, um an die eigene Verantwortung zu appellieren, da viele im Lande immer wieder ein Einschreiten der Internationalen Gemeinschaft fordern.
Kriminalisierter Wahlprozess
Der Appell Inzkos kam nicht von ungefähr: Viele Bosnier haben den Glauben an einen demokratischen Wandel längst verloren, nicht zuletzt, weil die Urnengänge von vielen als nicht unabhängig erachtet werden. Der gesamte Wahlprozess sei in der Tat heillos kriminalisiert, urteilt die Analystin Tanja Topic.
Insbesondere Angestellte von Verwaltung und staatlichen Firmen werden in Bosnien regelrecht erpresst, für die herrschende Klasse zu stimmen, andernfalls, so die Drohungen, würden sie ihren Arbeitsplatz verlieren. Da der private Sektor so gut wie kaum entwickelt ist, sind Jobs in der Verwaltung und in staatlichen Organisationen umso beliebter. Taxifahrern in Sarajevo etwa wird angedroht, dass sie ihre Konzession verlieren, sollten sie nicht die SDA unterstützen. Mitunter müssen die Wähler/innen ihre Stimmabgabe per Mobiltelefon-Aufnahme dokumentieren. Auf dem Land werden Kleinstbeträge und „Wahlgaben“ wie Mehl und Zucker angeboten, um Stimmen für die Parteien zu sichern.
Mit der Unterzeichnung des Friedensabschlusses von Dayton, die sich im Dezember zum 25. Mal jährt, wurden die einstigen Kriegshandlungen zwischen den Serben, Kroaten und Bosniaken beendet. Die Republika Srpska wurde als eine von zwei Entitäten (Landesteilen) festgeschrieben – de facto ein Resultat der gnadenlosen Vernichtungspolitik von Serbenpräsident Slobodan Milosevic und dem bosnischen Serbenführer Radovan Karadzic. Ihre Gewaltpolitik gegen alles Nicht-Serbische kulminierte im Juli 1995 im Genozid von Srebrenica. Die Kroaten ihrerseits versuchten in einem Krieg im Kriege, Gebiete aus Bosnien herauszulösen und errichteten den kriminellen Parastaat Herceg-Bosna. Die in diesem Kontext begangenen Verbrechen wurden vor dem Internationalen Jugoslawientribunal in Den Haag mit 111 Jahren Haft geahndet.
Serbische und kroatische Ideologien der Vernichtung wirken weiterhin
Heute, ein Viertel Jahrhundert später, sind diese Ideologien der Destruktion nach wie vor wirkungsmächtig. Nirgendwo zeigt sich dies so stark wie in Mostar. In der Stadt an der Neretva wurden zwölf Jahre durch die SDA und die HDZ BiH sämtliche Urnengänge verhindert, um die Stadt in Einflusssphären aufzuteilen und gleichzeitig die Kontrolle über das Budget zu behalten, ohne irgendwelche parlamentarischen Korrektive. Die Separation zwischen Bosniaken und Kroaten in Mostar ist politisches Kalkül, um den Status Quo und die Macht der nationalistischen Parteien abzusichern. Es gibt Jugendliche, die niemals auf der anderen Seite der geteilten Stadt waren, die gänzlich ohne Kontakte zur anderen ethnischen Gruppe aufwachsen.
Nun, nach mehr als einer Dekade, sollen die Lokalwahlen endlich auch hier stattfinden, gemäß einem Abkommen zwischen SDA und HDZ BiH. Abstimmen werden die Bürger/innen in Mostar allerdings erst am 20. Dezember, da die Einigung über die Wahlen erst im Sommer erfolgte und zu wenig Zeit für die Vorbereitungen des Wahlvorgangs blieb.
Mit der Zwei-Parteien-Einigung allerdings wurden für das komplizierte Mostarer Wahlprozedere die freien Wähleranteile reduziert und die Einflussmöglichkeiten der beiden nationalistischen Blöcke gestärkt – de facto genau das Gegenteil von dem, was die EU-Kommission als Maßgabe für das Land formuliert hat, um europäische Standards auf dem Weg einer künftigen EU-Integration zu erfüllen.
Erstaunlicher Weise wurden die umstrittenen Vereinbarungen der Parteichefs Dragan Covic und Bakir Izetbegovic ausgerechnet von der EU-Delegation in Bosnien mit begleitet und seither als großer Erfolg gefeiert. In Mostar regt sich dagegen ein breiter Widerstand: Die EU rede mit der Mafia und nicht mit den Bürger/innen, die sich für Reformen und Demokratisierung einsetzen, so die weit verbreitete Kritik. Man habe mit diesem Abkommen zweifelhafte Doppelstandards gesetzt, die in keinem EU-Land bestand hätten. Somit trügen ausgerechnet die EU-Vertreter dazu bei, dass die Nationalisten ihre Macht in Mostar weiter ausbauen könnten.