Zwölf Jahre konnten die Einwohner der bosnisch-herzegowinischen Stadt Mostar nicht wählen. Mostar ist damit die einzige Stadt in Europa, in der das Wahlrecht auf kommunaler Ebene systematisch vorenthalten wurde. Nun gibt es ein Abkommen ausgerechnet jener extremistischen Vertreter, die jahrelang die Urnengänge verhindert haben. Mit unterstützt wurde der Deal von der EU – und Mostars BürgerInnen fragen empört, warum sie nicht in die politischen Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Und warum jenseits der staatlichen Institutionen fragwürdige Deals befördert werden. Das Abkommen, so der Vorwurf, zementiere nur den destruktiven Ethnonationalismus im Lande.
Bürgerzorn in Mostar - „Die EU spricht mit der Mafia, nicht mit uns“
Mostar, die Stadt an der grünen Neretva, ist ein trauriges Symbol dafür, wohin blinder Nationalismus und Hass auf Andere führen. Die zahlreichen Ruinen und zerschossenen Häuserskelette im Stadtbild entlang der nach wie vor existenten ethnischen Trennlinien sind auch 25 Jahre nach Ende des Bosnienkrieges Zeugen der brutalen Kämpfe. Diese wurden zwar offiziell beendet, der Konflikt wird von den relevanten Akteuren jedoch nach wie vor als Kalter Krieg weiter angeheizt – mit dem Ziel, an der Macht zu bleiben.
Schuld daran sind kroatische und bosniakische Extremisten, vertreten durch die nationalistischen Parteien HDZ BiH und SDA. Beide Lager haben die Stadt - und vor allem das Budget Mostars – unter sich aufgeteilt und bedienen sich nun ungehemmt, zu Gunsten von Parteiangehörigen und Günstlingen. Um sämtliche parlamentarische Kontrollen zu verhindern, blockierten sie seit mehr als einer Dekade jegliche Urnengänge in Mostar, ein einmaliger Vorgang in Europa.
Nun gibt es einen Pakt zwischen den Nationalisten - erstmals soll es danach im Dezember 2020 in Mostar wieder Wahlen geben. Das sogenannte „Abkommen“ wurde von der Internationalen Gemeinschaft, allen voran von der EU und den USA, mit begleitet.[1]
Und eben dieses Vorgehen erregt den Unmut der BürgerInnen. Es sei ein „Plan der Hölle“, urteilte die Mostarer Kandidatin der Partei Nasa Stranka, Irma Baralija nach Bekanntwerden des Deals in einem Interview[2]. Aus der Perspektive jener, die für ein ungeteiltes Mostar eintreten, sei das Abkommen und die daraus folgende Änderung des Wahlgesetzes „desaströs.“
Baralija hatte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gegen Bosnien und Herzegowina geklagt und gewonnen. Das Gerichtsurteil von Oktober 2019 gab den bosnischen Behörden sechs Monate Zeit, die Entscheidung umzusetzen. Zufrieden mit der aktuellen Situation ist Baralija dennoch nicht - und mit ihr hadern auch viele andere BürgerInnen mit dem Abkommen, das eher Fragen aufwirft als beantwortet.
Zwar sind die Wahlen nun für den 20. Dezember angesetzt, immerhin dieser Teil des Abkommens fällt bei den Einwohnern Mostars auf Zustimmung. Der zweite Teil des Abkommens ist jedoch höchst fragwürdig, da auf Drängen der völkisch orientierten HDZ BiH ein Machtanspruch auf Staatsebene formuliert wurde, der grotesk erscheint; dahinter steckt der Wunsch, dass die Partei ihren Alleinvertretungsanspruch für die im Land lebenden Kroaten dauerhaft festschreiben will. Mit demokratischen, europäischen Prinzipien hat dies freilich nichts zu tun.
Von mehr als neun Parteien haben an dem Abkommen denn auch nur zwei mitgewirkt. Und eben dies stößt bei vielen EinwohnerInnen auf Widerstand. Die EU setze mit der Unterstützung des Abkommens inakzeptable „Doppelstandards“, urteilt Amna Popovac, eine selbständige Unternehmerin aus Mostar und Lokalpolitikerin der noch jungen Partei Plattform für Fortschritt. Popovac fordert „Es wäre schön, wenn die EU ihre Prinzipien, die überall in Europa gelten, auch bei uns anwenden würde“, erzürnt sich Popovac. „Wir sind nicht irgendein Projekt, wir sind ein Staat.“
„Ich bin der Souverän!“
Offenbar müsse man auch den internationalen Vertretern erklären, warum BürgerInnen einen Staat ausmachen, konstatiert der Mostarer Politologe Husein Orucevic, der auf der unabhängigen Liste Recht auf die Stadt antritt. Orucevic fragt provokant, welche Legitimität die beiden nationalistischen Anführer überhaupt hätten, eine Vereinbarung zu treffen, die alle Einwohner der Stadt beträfe? „Wer ist Bakir Izetbegovic (Anmerkung: Chef der SDA), wer ist Dragan Covic (Anmerkung Chef der HDZ BiH), dass sie dieses Abkommen abschließen? Ich bin hier der Souverän. Der Bürger!“, stellt Orucevic kategorisch fest.
Auch die Abgeordnete der Erste Partei Mostars, Adela Gosto, ist der Meinung, dass die Rolle der EU höchst fragwürdig ist: „Ist ein solcher Machtkampf in Mostar erwünscht, manipuliert die EU uns hier, und wenn ja – warum?“, fragt sie. Für Gosto wäre es eine Priorität, die ungehemmte Ausbeutung der öffentlichen Finanzen durch SDA und HDZ BiH zu unterbinden.In Mostar gäbe es genug Geld, dies lande jedoch in privaten Taschen, beklagt die junge Politikerin. Seit Jahren würden Gesetze und die Verfassung verletzt – ohne, dass dies Konsequenzen hätte.
Marin Bago, ein Umweltaktivist, der bei den Wahlen erstmals als Kandidat auf der unabhängigen Liste Recht auf die Stadt antreten wird, konstatiert: „Dieses Abkommen ist einzig zustande gekommen, weil es das Urteil aus Straßburg gibt. In der Form, wie es auf den Weg gebracht worden sei, sei es jedoch nicht im Interesse der BürgerInnen, die sich für Demokratisierung und Reformen der korrupten Strukturen einsetzten.
Ausverkauf europäischer Werte: Wo bleibt die Verantwortung gegennüber den BürgerInnen?
„Ich glaube, dass das Hauptmotiv der Vertreter der Europäischen Union, die dieses Abkommen ausgehandelt haben, ihre eigene Karriere war. Sie haben lediglich dabei geholfen, dass irgendetwas vor Ablauf der Frist (festgesetzt vom Europäischen Gerichtshof in Straßburg, Anmerkung der Autorin) vereinbart wird. Es war ein geschickter Zug der Europäischen Union zur Beförderung persönlicher Karrieren, ohne eine Vision, ohne Respekt für die BürgerInnen Mostars, ohne Verantwortung!“ Insgesamt, urteilt Bago, widerspreche das Abkommen klar europäischen Werten.
Die Unternehmerin Amna Popovac pflichtet bei: „Die im Europaparlament sollten wissen, dass ihr Vertreter in Bosnien-Herzegowina internationale Abkommen bricht, indem er dieses Abkommen befördert. Unter dem Vorwand, Demokratie einzuführen, wird hier internationales Recht gebrochen - und wir BürgerInnen von Mostar werden weiterhin versklavt.“ Popovac will mit ihrer Kandidatur zeigen, dass in Bosnien und Herzegowina und insbesondere in Mostar wieder echte Politik mit Gestaltungskraft gemacht werden kann – jenseits der Destruktionsansätze der nationalistischen Kräfte.
Insgesamt sei es gut, dass nun, nach all den Jahren, wieder Wahlen stattfinden, so der allgemeine Tenor an der Neretva. Das intransparente und außer-institutionelle Zustandekommen des „Abkommens“ und die Nicht-Einbeziehung aller AkteurInnen, die nicht den nationalistischen Kategorien zuzuordnen sind, ärgert die BürgerInnen jedoch. Im Volksmund nennen sie es daher bereits „Nicht-Abkommen“.
Die Rentnerin Jasminka Torlo, die im Krieg mit ihrer Familie nach Norwegen geflohen war und erst nach Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen zurückkehrte, fordert nachdrücklich: „Wir brauchen hier mehr Europa, wir müssen vor allem das Bürgerprinzip stärken.“ Nur so könnten demokratische Erfolge erzielt werden.
In diesem Kontext verweist die Publizistin Stefica Galic auf das Problem aller Urteile des Europäischen Menschengerichtshofes gegen Bosnien und Herzegowina (Sejdic-Finci/Zornic/Pilav), die bislang nicht implementiert wurden. Sie seien klar mit dem Bürgerelement in der Dayton-Verfassung verbunden, damit auch BürgerInnen anderer „Nationalitäten“ bei Wahlen kandidieren könnten, unterstreicht Galic, selbst dann, wenn sie nicht der Mehrheitsgruppe angehörten. Vertreter der Bosniaken, Kroaten und Serben, per Verfassung als konstituierende Völker festgelegt wurden, nutzen die Sonderstellung im Lande für sich und ihre Parteien gnadenlos aus. Demokratische Grundrechte würden auf diese Weise mit Füßen getreten. Die Umsetzung der Straßburger Gerichtsurteile blockierten die Ethno-Nationalisten zielgerichtet, mitunter seit mehr als zehn Jahren, moniert Galic. Damit würde Bosnien und Herzegowina daran gehindert, sich europäischen Standards anzunähern. Diese Dauerblockade müsse endlich beendet werden, so Galic.
Zementierung des destruktiven Nationalismus
Während EU-Delegationsleiter Johann Sattler das Abkommen als „leuchtendes Beispiel“ auf dem Reformweg preist, wird aus Sicht vieler Mostarer genau das Gegenteil erreicht: Die Internationale Gemeinschaft legitimiere die Nationalisten, ihr Einfluss werde weiter zementiert, argumentiert etwa der NGO-Aktivist Vernes Voloder. Voloder arbeitet mit einer Organisation daran, die an einigen Schulen Apartheid-ähnlichen Zustände abzumildern und katholischen und muslimischen Kindern ein normales Miteinander zu ermöglichen, und sei es, für einige wenige Stunden.
„Die Internationale Gemeinschaft hat sich auf das Spiel eingelassen und den Staat suspendiert, indem sie solche Abkommen akzeptiert“, so Voloder. „Wir sind gerade Zeugen, wie wichtige Entscheidungen für die Zukunft dieses Staates in Kneipen und Hinterzimmern getroffen werden. Bereits vor einigen Jahren haben Milorad Dodik, der serbische Vertreter im Staatspräsidium, und Bakir Izetbegović einige dieser Reformen in einer Kneipe in Ost-Sarajevo besprochen“, kritisiert er. Voloder verweist zudem auf die derzeitigen Angriffe aus den Nachbarländern: „Häufig finden Besuche von wichtigen Parteivertretern aus Zagreb und Belgrad statt. Die Region versucht derzeit mit zunehmender Intensität, staatliche Institutionen in Bosnien zu umgehen und Bosnien-Herzegowina auf drei ethnisch exklusive Teile zu reduzieren.“
Man erwarte von der EU eigentlich, sich diesen fragwürdigen Ansätzen entgegen zu stellen, da es sich hierbei um eine Fortführung der Kriegsagenden der 90er Jahre handele. BürgerInnen und alternative Kräfte müssten in ihrem Kampf für Demokratie und Menschenrechte nachhaltig gestärkt und unterstützt werden, fordern viele in Mostar, die sich für Reformen stark machen. So aber gebe es ein klandestines Vorgehen, so die verbreitete Kritik, eine Kumpanei seitens der Internationalen Gemeinschaft mit den etablierten, korrupten und kriminellen Parteienclans, die ihre Macht auch bei Wahlen brutal verteidigten – durch die Manipulation von Wählerlisten und durch erpresserischen Druck auf Angestellte von Verwaltung und staatlichen Firmen. Landesweit würden sie gezwungen, die Nationalisten zu wählen – andernfalls müssen sie den Verlust ihres Arbeitsplatzes fürchten.
Stefica Galic, die seit langem von kroatischen Nationalisten drangsaliert und bedroht wird und daher 2019 auf Initiative des Grünen-Bundestagsabgeordneten Manuel Sarrazin in das Bundestags-Programm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“[3] aufgenommen wurde, findet für ihre Enttäuschung drastische Worte: „Die EU redet mit der Mafia anstatt mit den BürgerInnen.“
Ethnische Ghettoisierung als Nukleus offizieller Politik
„Die Politik der Nationalisten ist der Status Quo eines eingefrorenen Konfliktes, ohne Verantwortung, ohne Weiterentwicklung von Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft“, so Galic. In einem solchen Umfeld werde Mostar zu einer geteilten Stadt gemacht, in der die heutige Jugend keinerlei Kontakte zur anderen Gruppe habe, weil jeder in seinem „ethnischen Ghetto“ lebe.
Aus Sicht von Buchautorin und Aktivistin Enisa Bukvic stellt denn auch das Prinzip „Zwei Schulen unter einem Dach“ das größte Problem in der Herzegowina dar. Diese Schulform setzt auf strikte ethnische Trennung, es bietet für bosniakische und kroatische Kinder getrennte Schuleingänge, unterschiedliche Klassenräume, unterschiedliche Pausenzeiten und Curricula – ein ausgetüfteltes Apartheid-System mitten in Europa.
Die strikte Trennung der Kinder erlaube es den Politclans, die Familien der jeweiligen ethnischen bzw. religiösen Gruppe weitestgehend zu manipulieren. Auf diese Weise würde eine neue Generation von Nationalisten großgezogen, die vor der anderen Gruppe Angst hätte, kritisiert Bukvic. Der einzige Ausweg aus dieser destruktiven Spirale herauszukommen, sei es nun, dass all jene, die sich von diesen Machenschaften abgeschreckt fühlten, bei den anstehenden Lokalwahlen anti-nationalistisch wählten. Ziel müsse es sein, die alles dominierende Diskriminierung im Land abzuschaffen und gleiche Rechte für alle einzuführen. Bei der Umsetzung dieser Ziele sieht Bukvic insbesondere auch die Internationale Gemeinschaft gefordert: Antidiskriminierung und Gleichheit seien wesentliche „Voraussetzungen für dauerhaften Frieden und Prosperität“, unterstreicht die Aktivistin.
Kroaten glorifizieren bis heute den Kriegs-Parastaat „Herceg-Bosna“
Bremens ehemaliger Bürgermeister, Hans Koschnik, der bis 1996 an der Neretva als Sonderbeauftragter versucht hatte, die Nationalisten beider Lager zu besänftigen und die politischen Verhältnisse in der geteilten Stadt zu normalisieren, war während seiner Mission brutalen Angriffen ausgesetzt, vor allem seitens der kroatischen HDZ und ihrer Gefolgsleute. Koschnik überlebte ein Attentat und verließ die Stadt an der Neretva ohne nennenswerte Erfolge.
Seither ist die Dominanz der Nationalisten ungebrochen – sie haben der Stadt nachhaltigen Schaden zugefügt. Am 9. November 1993 hatten kroatische Einheiten die historische osmanische Brücke über dem Fluss Neretva gesprengt, bereits 1991 hatte die Führung der Kroaten den kriminellen Parastaat Herceg-Bosna ausgerufen, der vor dem Internationalen Tribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag[4] mit Haftstrafen von insgesamt 111 Jahren abgestraft wurde. Die Fahnen dieses kriminellen Projektes, das von Zagreb aus mit dem Ziel betrieben wurde, ein Groß-Kroatien zu schaffen, hängen nach wie vor im kroatisch dominierten westlichen Teil Mostars – als Beleg dafür, dass man aus dem Krieg keinerlei Lehren gezogen hat.
Ende November jährt sich der Friedensschluss von Dayton, mit dem die Kriegshandlungen auf dem Gebiet Bosniens und Herzegowinas beendet wurden, zum 25 Mal. Es wird Zeit, dass Mostar nun eine neue Chance erhält – und mit Mostar das gesamte Land. Bürgerpartizipation ist eine wesentliche Grundlage der Europäischen Union, ebenso das Prinzip der Anti-Diskriminierung, das jeder Bürgerin und jedem Bürger die gleichen Rechte einräumt. Ohne diese fundamentalen Prinzipien kann es keine Demokratie geben.
Die Heinrich Böll Stiftung hat daher einen Bürgerdialog initiiert, bei dem Mostars BürgerInnen und Bürger, die sich politisch engagieren, ihre Sicht auf die aktuelle Situation, ihre Forderungen und Wünsche für einen politischen Wandel in Bosnien formulieren können. Dabei wurde insbesondere das Vorgehen der EU-Delegation in BiH kritisiert. Viele fühlen sich von den EU-Vertretern sprichwörtlich verraten: Die Nationalisten, die zum Nachteil des ganzen Landes seit 25 Jahren eine nicht enden wollende Blockadepolitik betreiben, würden legitimiert, der Bürgerwille und Visionen von einer De-Nationalisierung der Politik dagegen ignoriert.
[1] Bei der Unterzeichnung des Mostar-Abkommens durch SDA-Chef Bakir Izetbegovic und HDZ BiH Chef Dragan Covic waren anwesend: Der Chef der EU-Delegation, Johann Sattler, der Hohe Repräsentant Valentin Inzko, US-Botschafter Eric Nelson, OSZE-Chefin Kathleen Kavalec sowie der britische Botschafter Matthew Field