Nichts Neues in Bosnien?

Die Oktoberwahlen haben eine der erfolglosesten Legislaturperioden in der jüngsten Vergangenheit Bosnien-Herzegowinas beendet. Diese Zeit von 2010 bis 2014 wird in Erinnerung bleiben als permanente politische Krise, in der die konkurrierenden politischen Parteien alle Entscheidungsbereiche ausgebremst und sich als unfähig zur Durchsetzung administrativer, sozialer und ökonomischer Reformen erwiesen haben. Der EU-Annäherungsprozess kam vollständig zum Stillstand und die wachsende Unzufriedenheit der verarmten und frustrierten Bürger/innen entlud sich im Februar 2014 in Massenprotesten in zahlreichen Städten des Landes.

Nach Bekanntmachung der Wahlergebnisse begann die Auslotung möglicher Parlaments- und Regierungsmehrheiten auf gesamtstaatlicher und Entitätenebene, gefolgt von der Ankündigung des britischen und deutschen Außenministers, eine neue Bosnien-Initiative in der Europäischen Union zu starten.

Nach den Wahlen

Die Wahlen vom 12. Oktober 2014 haben signifikante Umverteilungen der Wählerstimmen mit sich gebracht, insbesondere die Sozialdemokratische Partei (SDP) hat mit 173.117 Stimmen weniger für das Parlament auf Gesamtstaatsebene ( nur drei Sitze anstelle von acht) deutlich an Zustimmung verloren. Viele Wähler/innen wanderten zur Demokratska fronta (Demokratische Front, DF), die gerade erst 2013 vom damaligen Mitglied der BuH-Präsidentschaft Željko Komšić gegründet worden war. Die DF errang 150.767 Stimmen und ist damit nach der SDA zweitstärkste Partei in der Föderation. An dritter Position folgte die SBB - "Bund für eine bessere Zukunft" (Savez za bolju budućnost Bosne i Hercegovine) - von Medienmogul Fahrudin Radončić mit vier Sitzen, während die Kroatische Demokratische Union  (HDZ)  ein Mandat im Parlament hinzugewann.

Parallel dazu verlor Dodiks Bund der Unabhängigen Sozialdemokraten SNSD (Savez nezavisnih socijaldemokrata) zwei Mandate, während die oppositionelle Serbische Demokratische Partei  SDS (Srpska demokratska stranka) deutlich zulegte und einen Sitz hinzugewann und ihre Koalitionspartner, die Partei des demokratischen Progresses PDP (Partija demokratskog progresa) ihr Mandat verteidigte. Eine weitere Neuheit in der politischen Arena der Republika Srpska ist die Koalition "Domovina" (Heimat), die als politische Stimme der bosniakisch-kroatischen Rückkehrer/innen in der RS agiert und ein Mandat erringen konnte.

Die Wahlergebnisse zeigen, dass die Wähler/innen in vier Gruppen gespalten sind, von denen drei sich konstant an den ethnisch definierten Parteien orientieren, während die vierte Gruppe zu den Parteien neigt, die sich selbst als bürgerschaftlich und/oder multiethnisch definieren. Deren Stimmen gingen 2010 vor allem an die SDP BiH, bei den Wahlen 2014 verteilten sie sich jedoch zwischen SDP, DF, NS (Naša stranka) und SBB. Anzunehmen ist, dass eine bedeutende Zahl der Nicht- und/oder jener Wähler/innen, die ihre Wahlzettel ungültig machten, ebenfalls zu dieser Kategorie gehören, die in der Vergangenheit häufig den Wahlboykott als Mittel nutzte, um ihre Unzufriedenheit mit der politischen Situation im Land deutlich zu machen.   

Erste Bewegung kam in die Koalitionsbildung durch eine Vereinbarung zwischen SDA, DF und der SDS-PDP-NDP-Koalition zur Bildung einer gemeinsamen Plattform auf gesamtstaatlicher Ebene. Und obwohl Dragan Čović (HDZ) anfänglich eng mit Dodik und seiner SNSD verbündet war, wurde kürzlich eine Koalitionsabsprache zwischen HDZ, SDA und DF unterzeichnet für die Ebene der Föderation, und  Čović' Rhetorik entfernte sich von der Forderung nach Beteiligung der SNSD an der gesamtstaatlichen Regierung hin zu der Aussage, dass die Regierung der Föderation BuH ein Vorbild für die Zusammensetzung des (gesamtstaatlichen) Ministerrates sein sollte. Gleichzeitig kündigten SDS-PDP-NDP und Domovina an, im Parlament der Republika Srpska zusammenzuarbeiten. (In der englischsprachigen Publikation des Sarajevo Open Center wird das politische System Bosnien-Herzegowinas ausführlich erläutert: http://soc.ba/the-political-system-of-bosnia-and-herzegovina-institution... (Anm. d. Ü.)

Dieses Parlament wird jedoch gerade von einem politischen Skandal erschüttert.  Die Premierministerin der RS, Željka Cvijanović (SNSD), sprach offen davon, dass die SNSD zwei Parlamentarier "kaufte", nachdem zwei andere Abgeordnete ihre Unterstützung versagt hatten, um die Mehrheit im RS-Parlament zu sichern. Nachdem ein Audiomitschnitt dieser Aussage an die Öffentlichkeit gelangte, konzentrierte sich die RS-Polizei auf die Suche nach der Quelle der illegalen "Überwachung" der Premierministerin und zeigte keinerlei Interesse daran, diesen Fall von politischer Korruption aufzuklären. Trotz aller Forderungen der Opposition nach Aufklärung fand die konstituierende Sitzung inmitten des Skandals statt, und der SNSD gelang es, ihre Parlamentsmehrheit - wenn auch knapp - zu sichern. Dodik kündigte sofort an, dass sein Block alle Prozesse im staatlichen Parlament blockieren würde, sollte die SNSD nicht im Ministerrat vertreten sein. Und auch die wohlbekannte Drohung der Abspaltung der RS fehlte nicht, gewürzt mit der völlig unrealistischen Idee, zusammen mit Serbien einen neuen Staat zu bilden.  

Wohin könnte es mit Verfassungsreformen gehen?

Sollten die bisherigen Vereinbarungen umgesetzt werden, wird sich die Zusammensetzung des Ministerrates deutlich von der der 2010-2014 unterscheiden. Von den sieben Parteien, die in der vergangenen Wahlperiode vertreten waren, wären  SDA, HDZ und SDS (nun jedoch in Koalition mit PDP und NDP) wieder dabei. Mit DF käme eine neue Parte hinzu, die größte Änderung wäre die Abwesenheit der SNSD. Die Präsidentschaft Bosnien-Herzegowinas spiegelt diese Struktur bereits wider, da nur die SDA ihr Mitglied beibehält, während von HDZ und PDP dieses Mal andere Repräsentanten kommen.  

Die Frage der Verfassungsreform ist bereit Teil der Vereinbarung zwischen SDA-DF-SDS/PDP/NDP, und sie zielt auf die Sicherung gleicher konstitutioneller Rechte für alle Bürger/innen des Landes. Wenn die HDZ sich dieser Koalition anschließt, sollte sie dies akzeptieren und ihre Versuche aufgeben, den Prozess der Verfassungsreform für die "kroatische Sache" zu instrumentalisieren. Für die Demokratska Fronta müsste das nicht verhandelbar sein. Sie entstand ja, nachdem ihr Gründer Željko Komšić, die SDP gerade wegen ihrer Politik in dieser Sache verlassen hatte: Sie schloss sich der HDZ-Haltung im Sejdić-Finci-Fall vollständig an. Darüber hinaus hat sich die DF in der politischen Landschaft als prominenteste Stimme "der Anderen" profiliert, nachdem die SDP deren Position in der vergangenen Legislaturperiode aufgegeben hatte.   

Deutsch-britische Initiative: Eine neue Chance für Bosnien

Nachdem die Verhandlungen des früheren EU-Erweiterungs-Kommissars Stefan Füle mit den Spitzen der wichtigsten politischen Parteien über Verfassungsreformen scheiterten, war die Unzufriedenheit sehr groß. Fachleute, Zivilgesellschaft und die informierte Öffentlichkeit erwarteten eine klare Botschaft unter anderem dazu, wer sich dafür verantwortlich zeichnet, dass die Sejdić-Finci-Entscheidung nicht umgesetzt wurde, und dass die politische Blockade anhält. Leider blieb das aus. Füle äußerte nach seinem letzten Besuch im Februar 2014 seine "tiefe Enttäuschung über die Sejdić-Finci-Implementierung", ohne ins Detail zu gehen. Er erwähnte nicht, dass die Diskussionen zwischen den Parteispitzen mehr darauf gerichtet waren, die "kroatische Frage" zu lösen, als auf das wirkliche Problem - die ethnische Diskriminierung im politischen System. Die Enttäuschung unter den Aktivist/innen wuchs noch, als die Europäische Union ihren Weg bestätigte, weiter nur mit Parteiführern zu verhandeln - obwohl deren Interesse einzig der Erhaltung des Status Quo gilt - und damit in gewisser Weise deren Position zu stärken und zugleich die zivilgesellschaftlichen Initiativen zu schwächen.  

Das Scheitern dieser geschlossenen Veranstaltung machte deutlich, dass die Europäische Union nicht weiter so agieren kann.  Die Februar-Proteste und die Überschwemmungen im Mai haben andere Prioritäten gesetzt. Armut, geringe Einkommen, ein schlechtes Gesundheitswesen und fehlende soziale Absicherung wurden als Schlüsselprobleme benannt. Über die anhaltende ethnische Diskriminierung im politischen System hat in der Mainstream-Debatte leider niemand mehr ein Wort verloren.

Die kroatische Außenministerin Vesna Pusić forderte bereits im März 2014 ihre Amtskollegen zu einem neuen "Europäischen Herangehen gegenüber Bosnien" auf. Sie äußerte deutlich, dass es keine Reduzierung der Kriterien für die Integration geben dürfe, aber engere Kooperation nötig sei. Bosnien erfordere mehr Anstrengungen als andere Staaten, da "conditionality" offenkundig nicht funktioniere. Als inzwischen alle die kroatische Initiative vergessen hatten, kam Anfang November überraschend die Message des britischen und deutschen Außenministers.

Wenige Tage nach ihrer Veröffentlichung wurde aus der deutsch-britischen eine europaweite Initiative. Mitte November wurde sie bei der Ratssitzung von den europäischen Außenministern angenommen.

Die bosnischen Politikspitzen sind nun aufgefordert, so schnell wie möglich schriftlich mitzuteilen, an welchen Reformen sie arbeiten wollen, wobei Wirtschaft und soziale Fragen im Mittelpunkt stehen sollen. Auf Grundlage dieses Schreibens könnte das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) zwischen Bosnien-Herzegowina und der Europäischen Union endlich in Kraft treten, nachdem es wegen der Nicht-Implementierung des Sejdić-Finci-Urteils über Jahre auf Eis lag. Zeigt die neue Regierung Engagement und setzt Reformen um, könnte dem Land sogar der Kandidatenstatus zuerkannt werden. All dies kommt genau im richtigen Moment: während in Bosnien die Wahlergebnisse bekannt, die neuen Parlamente eröffnet und Regierungsmehrheiten gebildet werden. Eine neue Chance für eine neue Amtszeit.

Keine leichte Aufgabe

Nun könnte jemand sagen: Aber so einfach kann es nicht sein! Und das stimmt. Die Einladung der britischen und der deutschen Regierung ist eine der letzten Optionen, die Bosnien noch hat. Zwei Regierungen, die faktisch immer unterschiedliche Meinungen darüber hatten, wie das internationale Engagement in Bosnien und Herzegowina aussehen sollte, sind nach all den Fehlschlägen mit dem "April-Paket" (2006), dem "Butmir-Prozess" (2009) und der Blockade des SAA nun zusammen gekommen. Das britische "top-down state building" und die deutsche Forderung nach "local ownership" haben sich in dieser Initiative in der Mitte getroffen. Auch das zeigt, wie bedeutsam der Vorschlag ist.

Zwei Grundprobleme sind allerdings zu berücksichtigen:  Erstens erscheint es utopisch, von der neuen politischen Mehrheit grundsätzliche Veränderungen in der nächsten Zeit zu erwarten.  Bosniakische SDA, kroatische HDZ und eine serbische Koalition unter Führung der SDS werden wohl die Staatsregierung bilden. Es sind diese drei - wenn auch teilweise reformierten - Parteien, die Bosnien seit 25 Jahren führen und das Land in die heutige instabile Lage manövriert haben. Und sie waren (bis auf die SDS) in gewisser Weise das Ziel der Februar-Proteste. Es wird interessant sein zu beobachten, ob sie den Willen zu echten aufbringen, die auch radikale Schnitte für den öffentlichen Sektor bedeuten, in dem ihre Wählerbasis liegt. Das gilt besonders für die Föderation, da die SDS in der Republika Srpska in den letzten neun Jahren nicht an der Macht war.  

Das zweite Problem ist die Illusion, sozioökonomische Reformen wären ohne Demokratisierung des politischen Systems möglich und erfolgreich. Der öffentliche Sektor kann nicht reformiert werden, wenn ethnische Diskriminierung, die dort stattfindet, ignoriert wird. Liberale Demokratie, Freiheit und soziale Gerechtigkeit sind parallel zu Wirtschaftsreformen notwendig. Nur eine freie und inklusive Gesellschaft kann den ihren Entwicklungsgrad bewahren.
 
In der Debatte über mögliche Szenarien der Initiative ist also ein wichtiger Aspekt zu beachten: Auch wenn die Initiative die Sejdić-Finci-Frage zurückstellt, um den Prozess der EU-Annäherung zu deblockieren, wird der Zeitpunkt kommen, an dem die Angelegenheit wieder auf den Tisch kommen muss, und es wird voraussichtlich in der aktuellen Wahlperiode sein. Wenn es dazu kommt, muss dafür Sorge getragen werden, dass die Essenz der Regelung nicht von politischen Akteuren aufs Spiel gesetzt wird, deren bisherige Aktionen eben der Grund dafür waren, dass das Urteil immer noch nicht umgesetzt ist.

Garantie der Bürgerrechte

Das Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs, dem ein ähnliches im Fall Azra Zornić folgte, ist klar: Bosnien und Herzegowina muss seine Verfassung so verändern, dass sie allen Bürger/innen unabhängig von ihrer ethnischen oder nationalen Identität gleiche politische und Bürgerrechte garantiert. Jeder Versuch, das zu verhindern und eine Verfassungsreform durchzusetzen, die Diskriminierung eher vergrößert als sie zu überwinden, wird zweifellos erneut auf erbitterten Widerstand vor allem aus der Zivilgesellschaft stoßen. Das ist möglicherweise für die ethnisch definierten Parteien keine bedrohliche Aussicht, denn sie sehen ihr "Wahlkapital" ja nicht in der Beendigung der ethnischen Diskriminierung. Aber für die Parteien, die sich als bürgerschaftliche, multiethnische, inklusive oder antinationalistische Kräfte präsentieren, wäre ein Einknicken in dieser Sache gefährlich - wie die SDP-Wahlschlappe deutlich gezeigt hat. Wenn diese Frage wieder auf die Tagesordnung kommt, werden die EU-Vertreter/innen derartige Tendenzen der Ablenkung vom eigentlichen Verhandlungsgegenstand hoffentlich nicht wieder unterstützen und es erneut an Respekt für die Prinzipien des EGMR fehlen lassen wie in der letzten Wahlperiode.

Im Falle der politischen Korruption in der RS und angesichts der Aussage Milorad Dodiks, dass er politische Prozesse auch weiterhin blockieren wird, stellt sich für die EU eine andere Frage: Wird die EU auch weiterhin alle Parteiführer als gleichrangige Partner in Verhandlungen akzeptieren, oder wird der "Kauf" von Abgeordneten und die offene Ankündigung, den Gesamtstaat zu destabilisieren, Dodik schließlich doch als ungeeignet für eine solche Behandlung durch die Internationale Gemeinschaft erscheinen lassen?

All dies ist dennoch kein Grund, es nicht zumindest zu versuchen. Wir haben die Wahl zwischen zwei Optionen. Entweder Bosnien bleibt beim Status Quo, bis das Sejdić-Finci-Urteil umgesetzt ist. Damit würde das Land zu einer Art  "schwarzes Loch" in Europa ohne realistische Chance auf die überfälligen Verfassungsreformen. Oder - als zweite Option - das vorgeschlagene Modell wird umgesetzt: Neustart des Verhandlungsprozesses und Umwandlung der "One-condition"-Situation (Sejdić-Finci) in einen breitangelegten konditionierten Integrationsprozess, der die Frage der ethnischen Diskriminierung einschließt, aber es nicht als einzige Kondition betrachtet.

Nach all den Problemen, die wir erlebt haben, sollten wir es versuchen.