Karađorđevo und die territorial-ethnische Teilung Bosnien und Herzegowinas

Analyse

Bis heute ist es in der kroatischen Öffentlichkeit schwer zu vermitteln, dass Kroaten und Serben sich in Kroatien bekriegten und gleichzeitig in Bosnien und Herzegowina zusammengearbeitet haben sollen. Die Legitimation des „Heimatkrieges“ würde gefährdet. So ist es kein Wunder, dass nationalistische Ideologen in Kroatien Absprachen Tuđmans mit Serbien strikt zurückweisen. Doch die damalige Stimmung in Kroatien und Serbien ist über die Presse dokumentiert.

War damage - Mostar
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Karađorđevo und die territorial-ethnische Teilung Bosnien und Herzegowinas

Kurz nachdem Slobodan Milosević und Franjo Tuđman sich am 25. März 1991 in dem Städtchen Karađorđevo in Nordserbien unter vier Augen besprochen hatten, begann sogleich eine heftige Kontroverse über die Interpretation der Ergebnisse. Die damals im Rahmen der Delegationen beider Seiten anwesenden Politiker Stipe Mesić und Ante Marković haben später ausgesagt, bei dem Treffen sei es auch um die ethnisch-territoriale Aufteilung des Vielvölkerstaates Bosnien und Herzegowinas zwischen Kroatien und Serbien gegangen.

Stipe Mesić war Mitbegründer der Kroatischen Demokratischen Union (HDZ) und der letzte Vorsitzende des Präsidentschaftsrates Jugoslawiens, also nicht irgendwer, er gewann nach dem Tod Tuđmans zudem im Jahre 2000 die Präsidentschaftswahlen in Kroatien und führte das Land zwei Amtszeiten lang. Der Reformer und Wirtschaftsfachmann Ante Marković war der letzte Premierminister Jugoslawiens. Beide waren allerdings bei dem Vier-Augen-Gespräch zwischen Tuđman und Milosević persönlich nicht zugegen. Es gibt zudem keine schriftlichen Überlieferungen über eine Verständigung zwischen Tuđman und Milosević. Mesić erklärte nur, Tuđman habe ihm nach dem Gespräch gesagt, „Kroatien werde so groß sein wie nie zuvor in der Geschichte“. Sowohl Tuđman wie auch Milosević haben in späteren Aussagen die These, sie hätten sich über die Aufteilung Bosnien und Herzegowinas verständigt, abgestritten. Dennoch ist die Vermutung, in Karađorđevo wurde die Teilung Bosnien und Herzegowinas eingeleitet, durchaus plausibel. „Du musst sehen, was später in der Praxis passiert ist,“ sagte Stipe Mesić im Mai 1994 gegenüber dem Verfasser. Er legte damals aus Protest gegen die Kriegspolitik Kroatiens in Bosnien und Herzegowina gemeinsam mit dem damaligen Geheimdienst-Chef Josip Manolić seine Ämter in der Partei HDZ und im Staate nieder. Der Beweis liege in den folgenden militärischen und politischen Ereignissen in Bosnien und Herzegowina, sagte Mesić damals.

Kroatische Öffentlichkeit negiert Karađorđevo

Bis heute ist es in der kroatischen Öffentlichkeit schwer zu vermitteln, dass Kroaten und Serben sich in Kroatien bekriegten und gleichzeitig in Bosnien und Herzegowina zusammengearbeitet haben sollen. Die Legitimation des „Heimatkrieges“ würde gefährdet. So ist es kein Wunder, dass nationalistische Ideologen in Kroatien Absprachen Tuđmans mit Serbien strikt zurückweisen. Doch die damalige Stimmung in Kroatien und Serbien ist über die Presse dokumentiert. Ganz offen wurde in Kroatien darüber gesprochen, Bosnien und Herzegowina sei ein Jugoslawien im Kleinen und habe somit keine Existenzberechtigung (kritische Auseinandersetzung darüber damals kontinuierlich in der satirischen Zeitschrift Feral Tribune in Split). In Serbien verlief die Diskussion nach Dayton offener. Dazu beigetragen haben die Biographien führender Militärs, die inzwischen veröffentlicht sind.

Vor allem die kroatische Öffentlichkeit tut sich schwer mit den Aussagen Mesićs. Denn zunächst kam es zum Krieg in Kroatien. Der Angriff der serbischen Truppen auf Kroatien im Sommer nach der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens am 25. Juni 1991, wenige Monate nach den Gesprächen in Karađorđevo, hatten nicht nur zum Ziel, traditionelle serbische Siedlungsgebiete in Kroatien (Region um Knin, Ost-und Westslawonien) abzusichern, sie gingen weit darüber hinaus. Fast 30 Prozent Kroatiens waren im Herbst 1991 von serbisch befehligten Truppen besetzt, serbische Nationalisten wollten noch weitergehen, Großserbien sollte sogar Dalmatien und ganz Slawonien umfassen bis hin zur Linie Biograd-Karlovac-Virovitica. Freischärler begingen Verbrechen an der kroatischen Bevölkerung, das von Serben besetzte Gebiet wurde von Kroaten ethnisch gesäubert, d.h. die kroatische Bevölkerung dieser Gebiete wurde mit Gewalt vertrieben. Tausende Kroaten wurden dabei getötet. Militärisch war Kroatien anfänglich noch zu schwach, der serbischen Offensive zu widerstehen. Die Fronten ab Oktober 1991 zu halten konnte nur gelingen, weil viele Freiwillige die kroatischen Polizeikräfte und Territorialeinheiten verstärkten und schnell eine kroatische Armee aus all diesen Einheiten aufgebaut wurde.

Für die Bevölkerung in Kroatien ist bis heute die Erfahrung geblieben, dass Serbien Kroatien angegriffen und teilweise zerstört hat, dass die Kroaten Opfer einer serbischen Aggression waren. Antiserbische Gefühle spielen bis heute in Kroatien eine große Rolle. Mit dem von dem Waffenstillstand Anfang Januar 1992 und der fast gleichzeitigen diplomatischen Anerkennung des Landes durch die die damalige EG (außer Griechenland) und die USA wendete sich das Blatt. UN-Truppen (UNCRO) wurden in den von Serben besetzten Gebieten installiert. Bis zum August 1995 blieben die Frontlinien in Kroatien eingefroren, und der „Regierung der nationalen Einheit“ gelang es in drei Jahren, eine schlagkräftige Armee aufzubauen. Im August 1995 gingen kroatische Truppen im Rahmen der Aktion „Sturm“ (Oluja) zum Gegenangriff über und vertrieben nun ihrerseits die serbischen Truppen wie auch den Großteil der serbischen Bevölkerung aus den serbisch besetzten Gebieten. Hunderte Serben verloren ihr Leben. Der Sieg im „Heimatkrieg“ ist bis heute konstituierend für das kroatische Nationalbewusstsein.

Spaltung der Kroaten in BiH

Auch in der Westherzegowina begann 1991 der Aufbau militärischer Strukturen. Doch während in Kroatien schon gekämpft wurde, war es in Bosnien und Herzegowina noch ruhig geblieben. Trotz der Niederlagen gegen die serbischen Truppen in Kroatien präzisierte Tuđman seine Strategie in Bosnien und Herzegowina. Auf einer Konferenz am 27. Dezember 1991 in Zagreb, an der die Parteiführungen beider Republiken teilnahmen, setzte Tuđman sich gegen Widerstände vor allem von Seiten des Vorsitzenden der HDZ-BiH, Stjepan Kljuić, und liberaler Kräfte in der kroatischen Partei durch. Kljuić trat für die Verteidigung des multinationalen Bosnien und Herzegowinas gegen eine mögliche serbische Aggression ein und erkannte den muslimischen Präsidenten Alija Izetbegović als legitimen Präsidenten des Landes an. Tuđman dagegen förderte den radikal nationalistischen Flügel unter Mate Boban, der seit dem 18. November 1991 als Präsident der Kroatischen Gemeinschaft Herceg-Bosna (Hrvatska zajednica Herceg-Bosna) - dem Zusammenschluss von 30 kroatisch dominierten Gemeinden - fungierte. (Am 28. August 1993 wurde er schließlich Präsident der „Kroatischen Republik Herceg-Bosna“).

Tuđman setzte seine Politik in Bosnien und Herzegowina also schon im Dezember 1991 durch, als der Krieg in Bosnien und Herzegowina noch gar nicht begonnen hatte. Der aus Sarajevo stammende Stjepan Kljuić trat im Februar 1992 von seinem Posten zurück. Damit wurde klar, dass die kroatische Führung unter Mate Boban nur taktische Allianzen mit der Zentralregierung einzugehen bereit war, aber keineswegs dazu, den Gesamtstaat Bosnien und Herzegowina prinzipiell zu verteidigen.

Zwar stimmten Ende Februar 1992 Muslime und Kroaten noch gemeinsam für die Unabhängigkeit des Landes von Jugoslawien, und der am 8. April 1992 offiziell gegründete Kroatische Verteidigungsrat (Hrvatsko vijeće obrane - HVO) wehrte Angriffe serbischer Truppen gegen kroatische Siedlungsgebiete ab. In Mostar kämpften im Mai 1992 HVO und die Regierungstruppen, die Armija BiH, noch gemeinsam regional erfolgreich gegen die serbischen Truppen. Der Aufbau des HVO war mit Kroatien koordiniert und von Zagreb gesteuert. Dafür spricht, dass 1991 mit Gojko Šušak ein West-Herzegowiner kroatischer Verteidigungsminister wurde. Der ehemalige Pizzabäcker aus Toronto hatte sich im Exil mit dem  Sammeln von Geldbeiträgen für die Verteidigung des Landes hervorgetan. Er war ein wichtiges Scharnier zwischen den Kroaten der Westherzegowina und Zagreb. Doch immer noch gab es unter den Kroaten Bosnien und Herzegowinas Widerstände gegen die Politik Tuđmans. Viele Kroaten der Posavina (die von Kroaten dominierten, an Slawonien angrenzenden Gebiete im Nord-Osten), die mit 200.000 Menschen etwa gleich stark wie die West-Herzegowiner waren, und viele Vertreter der Kroaten Zentralbosniens stellten sich offen gegen Tuđman. Viele kämpften in einer zweiten kroatisch dominierten Truppe, die Kroatischen Verteidigungskräfte (Hrvatske obrambene snage - HOS). Diese der „Partei des Rechts“ nahestehende Truppe hatte schon Vukovar verteidigt, ihre Führung unter Dobrislav Paraga, die Tuđman vorgeworfen hatte, der Verteidigung Vukovars in den Rücken gefallen zu sein, wurde im Dezember 1991 verhaftet.

In Bosnien und Herzegowina bestand die HOS jedoch unter dem legendären Kommandeur Blaž Kraljević weiter. Kraljević erkannte Alija Izetbegović als Oberkommandierenden an und öffnete seine Truppen auch für Nichtkroaten. Viele Muslime Zentralbosniens strömten in die HOS, auch in der Herzegowina, so dass 30 Prozent der Truppe aus Muslimen bestand. Die HOS organisierte anfänglich die Verteidigung der Städte Tuzla und Zenica, kämpfte an der Posavina-Front und rückte im Sommer 1992 im Süd-Osten bis Trebinje vor. Kraljević wurde zur Gefahr für Tuđmans Politik. Er wurde am 9. August 1992 von HVO-Angehörigen in einen Hinterhalt gelockt und auf dem Weg zu einem Kommandeurstreffen mit der HVO-Führung in Čitluk gemeinsam mit fast einem Dutzend seiner Kommandeure erschossen. Die HOS-Truppen wurden in den folgenden Monaten (teilweise zwangsweise) in den HVO integriert. Mit dem (Auftrags-)Mord an Kraljević war ein wesentliches Hindernis für die Durchsetzung der Strategie Tuđmans in Bosnien und Herzegowina beseitigt. Der Extremist Mate Boban hatte nun die Macht über die Kroaten in BiH.

Koordinierung des Krieges in BiH

Auch für viele linksliberale kroatische Intellektuelle ist es bis heute ein Problem, die Ereignisse in BiH richtig einzuordnen. Einerseits den Krieg in Kroatien zu Recht als Verteidigungskrieg zu definieren, und andererseits zuzugeben, dass extremistische Kroaten in BiH die ethnisch-territoriale Aufteilung des Landes mit allen Erscheinungsformen der ethnischen Säuberungen betrieben hatten, fällt selbst ihnen schwer.

Als Ende 2017 die Führung der kroatischen Extremisten unter Jadranko Prlić vom UN-Tribunal für Kriegsverbrechen in Den Haag zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, wollten viele die Schuld der Angeklagten nicht wahrhaben, schon gar nicht die einfache Bevölkerung. Selbst aus den Reihen der Sozialdemokraten (SDP) und anderen linken Strömungen kam Kritik am Urteil. Die Gedenkstunde für die verurteilten Kriegsverbrecher im kroatischen Parlament (Sabor) und die Kerzen in Kirchen und Fenstern haben in Europa Verwunderung ausgelöst und die Führung des EU-Staates ins Zwielicht gesetzt. Allerdings blieb es dabei, Brüssel konnte sich nicht einmal zu einer offiziellen Rüge durchringen.

Tuđman zu verstehen, wäre jedoch nicht so schwer, wenn man davon ausginge, dass der ehemalige Partisanengeneral in Karađorđevo tatsächlich über die ethnisch-territoriale Aufteilung Bosnien und

Herzegowinas mit Milosević gesprochen hatte. Tuđman und Milosević waren Gegner, ja Feinde, in Bezug auf Bosnien waren sie sich aber einig im Prinzip: Das multiethnische Bosnien und Herzegowina musste zerschlagen werden. Bosnien und Herzegowina war die Antithese zum Nationalismus, zur nationalistischen Konstitution von Staat und Gesellschaft. Sowohl der kroatische, als auch der serbische Nationalismus strebten (und streben bis heute) danach, die Serben- bzw. Kroatengebiete an die jeweiligen Mutterländer anzuschließen. Das Schicksal der Bosniaken (Muslime) und anderer Minderheiten Bosniens bekümmerte die beiden nationalen Führer nicht.

Die Kette der Hinweise auf eine ganz konkrete Zusammenarbeit ist lang: Sie beginnt schon im Mai 1992, als sich die Delegationen der bosnischen Serben und Kroaten unter der Leitung von Radovan Karadzić und Mate Boban in Graz trafen und ihre Interessensphären in BiH absteckten. Nachfolgend soll es Dutzende von Treffen im Rahmen von Kommissionen gegeben haben. Es gab auch viel Gesprächsstoff. Man war sich über die Grenzen der jeweiligen Gebietsansprüche nicht überall einig. Doch die Gespräche blieben geheim.

In der serbischen wie der kroatischen Medienwelt diskutierte man trotzdem zeitweise relativ offen über die so genannte Banovina Grenze von 1938 in Bosnien und Herzegowina, die damals im Königreich Jugoslawien einen Kompromiss zwischen Serben und Kroaten dargestellt hatte. In den internationalen Friedensplänen wie dem Vance-Owen-Plan ging in Bezug auf die Herzegowina die Banovina Grenze sogar mit ein, wenn man die Gebiete in Zentralbosnien betrachtet.

Für Boban und Karadžić sollte der Höhenzug zwischen Travnik und Sarajevo entlang dem Lašva-und Bosna-Tal die Grenze zwischen beiden Einflussbereichen werden. Strittig waren die Regionen Kupres, also die Kontrolle über den Kupres-Pass, der die Kroatengebiete Zentralbosniens mit der Küste verbindet, strittig war anfänglich die Kontrolle über Mostar und die Kontrolle über die kroatische Posavina. Die Serben wollten die kroatisch-muslimischen Posavina-Gebiete im Nordosten Bosniens kontrollieren, weil über diese Gebiete die Verbindung der Serbengebiete um Knin und Westbosnien nach Serbien gesichert wurde (Strategisch am wichtigsten: Brcko). Tuđman kam dem entgegen und befahl den kroatischen HVO-Truppen im Herbst 1992, die Posavina zu verlassen, die Region um Derventa und Bosanksi Brod aufzugeben. Nur Orašje und Odžak blieben - bis heute - unter kroatischer Kontrolle.

Ein weiterer Hinweis auf die Existenz einer Absprache zwischen Milosević und Tuđman waren die Zusammenstöße zwischen HVO und der Armija BiH in Prozor schon im Frühsommer 1992, dann die Aufgabe Jajces durch die HVO im November 1992. Die serbischen Streitkräfte besetzten die Stadt fast kampflos, mehr als 25.000 Einwohner mussten über den Berg Vlasić nach Travnik fliehen. Bis heute ist der Verrat des HVO in Jajce eine tiefe Wunde für die Bosniaken (Muslime).

Im Mai 1993 begann der Angriff des HVO auf die Bosniaken in Mostar, der sich im Juni auf das ganze Land ausweitete. Es folgte der Angriff auf Travnik und die ethnischen Säuberungen von muslimischen Ortschaften in den von Kroaten beanspruchten Gebieten Zentralbosniens im Sommer 1993 (Massaker in Ahmići - Vitez, Stupni Do - Vareš, ethnische Säuberung von Čapljina und Stolac). Tausende kampffähige muslimische Männer, meist ehemalige Kampfgefährten und Mitglieder von HOS und HVO, wurden in den Lagern Dretelj, Gabela und Heliodrom bei Mostar interniert und malträtiert. Im Gegenzug kam es jedoch auch zu Übergriffen an Kroaten im Neretva-Tal, in Jablanica und in Dörfern nahe dem Kloster Sutjeska bei Kakanj durch die Armija BiH.

Die Revison von Karađorđevo

Ab Herbst 1993 begann die Armija BiH ihre Gegenoffensive, die Kroaten wurden zurückgedrängt: Vitez wurde belagert, Kreševo, Fojnica, eingenommen, das Neretva-Tal kam unter die Kontrolle der Armija BiH.

Nach der Zerstörung der Brücke Stari Most in Mostar im November 1993 verdoppelten sich die Anstrengungen der Bosniaken und der Armija BiH. Die HVO musste an vielen Stellen zurückweichen, die zentralbosnischen kroatischen Siedlungsgebiete Vitez, Kiseljak und Busovača wurden von der Armija BiH eingeschlossen und damit zu kroatischen Enklaven. Der HVO stand vor einer Niederlage.

Die Interessen der bosniakischen (muslimischen) Bevölkerungsmehrheit waren von beiden Seiten übergangen worden. Die Muslime Bosnien und Herzegowina sollten durch die verbrecherische Politik der ethnischen Säuberungen vertrieben oder in einem kleinen Gebiet in Zentralbosnien zusammengedrängt werden. Keine der beiden Seiten rechnete aber mit dem Widerstandswillen der von Bosniaken dominierten, noch immer multiethnischen „freien Gebiete“ und dem Widerstand Sarajevos. In der Armija BiH kämpften auch Angehörige der anderen Volksgruppen gegen den „Faschismus“, wie dies der legendäre aus Serbien stammende General und Vizekommandeur der Armija BiH, Jovan Divjak, ausdrückte. 1994 gelang es den bosnischen Truppen auch gegenüber den Serben, Gelände und strategisch wichtige Punkte – so das Vlašić-Gebirge und den Kupres-Pass – zurückzuerobern.

Gleichzeitig versuchten die USA und auch Deutschland, Tuđman zu überzeugen, die Seiten wieder zu wechseln. Die USA versprachen Militärhilfe für die Rückeroberung der von Serben besetzten Gebiete in Kroatien. Erstes Zeichen für einen Kurswechsel war die Absetzung Mate Bobans Ende Dezember 1993. Am 18. März 1994 trat das Abkommen von Washington in Kraft. Sehr zum Leidwesen der kroatischen Extremisten und der Serben, die ihrerseits Tuđman Verrat am Abkommen von Karađorđevo vorwarfen. Tuđman opferte die weitergehenden Ambitionen der Mostarer Führung und stimmte der Gründung der Föderation Bosnien und Herzegowina zu. Die von der Armija BiH und der HVO kontrollierten Gebiete wurden wieder vereint. Der Krieg im Kriege war beendet, der Para-Staat Herceg-Bosna wurde aufgelöst.

Nach einem Treffen zwischen Tudjman und Izetbegovic am 17 Juli 1995 wurden endlich gemeinsame militärische Aktionen gestartet. Am 4.August begann die Operation Oluja (Sturmwind), die nun ausgebildete und modern ausgerüstete kroatische Armee schlug in einer Blitzoperation die serbischen Truppen in Kroatien und eroberte in nur drei Tagen die serbisch-besetzten Gebiete zurück. Die serbische Zivilbevölkerung floh in langen Trecks nach Westbosnien und nach Serbien.

Am 8. September begannen die nun wieder vereinten Streitkräfte der HVO und der Armija BiH die Aktion Westwind (maestral) mit der Rückeroberung Bosnien und Herzegowinas. Auch hier lösten sich die serbischen Stellungen relativ schnell auf. Im Hintergrund hatten sich jedoch die westlichen Mächte (Kontaktgruppe aus USA, Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Italien) prinzipiell verständigt, Bosnien und Herzegowina territorial aufzuteilen: 49 Prozent für die Serben, 51 Prozent für die bosniakisch-kroatische Föderation. Am 15. September drohte die Nato mit Bombenangriffen auf die vorrückenden bosnischen und kroatischen Truppen bei Prijedor, weil die bosnischen Truppen drauf und dran waren, den größten Teil Bosniens zurückzuerobern. Diese Aufteilung wurde schließlich im Vertrag von Dayton festgeschrieben. Der Krieg endete mit einer Aufteilung des Landes, bei der ethnisch-nationalistische Kriterien von der internationalen Gemeinschaft akzeptiert worden sind.

Karađorđevo ist wieder aktuell

Die Führung von Herceg-Bosna bzw. der Nationalpartei der westherzegowinischen Kroaten HDZ-BIH hat Auflösung von Herceg-Bosna jedoch nie überwunden. Und sie versuchte, auch nach der Gründung der Föderation ihre Positionen zu halten und wieder auszubauen. Ihnen entgegen kam, dass die Föderation Bosnien und Herzegowina in 10 Kantone gegliedert wurde, wobei drei der Kantone weiterhin völlig unter kroatischer Kontrolle standen. Aber auch in den gemischten Kantonen versuchten sie, die kroatisch dominierten Gemeinden von der Föderation BIH abzukoppeln. Die Medien, die Zeitungen, Radiostationen, lokale Fernsehstationen, zeigen bis heute eine klar kroatisch-nationalistische Ausrichtung

Mit Unterstützung Kroatiens wurde in diesen Gebieten die Curricula der Schulen und Universitäten an jene Kroatiens ausgerichtet und versucht, die ethnischen Trennungen bis ins Kleinste durchzusetzen. Die (teilweise künstlich konstruierte) kroatische Sprache wurde in den Kroatengebieten durchgesetzt. Die „Zwei Schulen unter einem Dach“ sind dafür ein Beispiel, kroatische Kinder sollten unter sich bleiben, mitunter haben die Schulen separate Eingänge und unterschiedliche Pausenzeiten. Kroatische Schüler empfinden sich auch heute nicht als Teil der Gesellschaft Bosnien und Herzegowinas, sondern als Teil der kroatischen Nation. Mostar wurde als Stadt geteilt, es gibt zwei Verwaltungen, zwei Universitäten, zwei „Sprachen“, zwei Fußballvereine etc. Das Rentensystem (Kriegsveteranen), das Gesundheitswesen wie auch die Verwaltung blieben nach dem Krieg an die Entwicklungen in Kroatien gekoppelt.

Hinzu kommt, dass es Kroatien mit den Abkommen von Washington und Dayton 1995 gegenüber der Staatengemeinschaft und dem Office of the High Representative gelungen war, die doppelte Staatsbürgerschaft für die Kroaten in BiH durchzusetzen. Bosnische Kroaten haben einen kroatischen Pass und sind seit dem Eintritt Kroatiens in die EU 2013 damit auch EU-Bürger. Für bosnische Kroaten besteht also nicht der Druck, das Land BiH insgesamt nach Europa zu führen. Dies gibt der politischen Führung der HDZ-BiH (Kroatisch Demokratische Gemeinschaft) einen politischen Hebel in die Hand, den Weg Bosnien und Herzegowinas nach Europa zu blockieren. Da auf der anderen Seite die Serben in Dayton die „Republika Srpska“ zugesprochen bekamen und deren Führung abwarten will, bis Serbien in die EU aufgenommen wird, besteht für die Nationalisten beider Seiten nicht der Zwang, die Richtlinien und Bedingungen der EU für die Aufnahme Bosnien und Herzegowinas zu erfüllen.

Seit einigen Jahren zeichnet sich nunmehr erneut ein ganz offenes Zusammengehen der serbischen und kroatischen Nationalisten in BiH ab. Die HDZ-BiH unter Dragan Čović fordert eine Dritte Entität, also ein neues Herceg-Bosna, und die Serben unter Milorad Dodik bauen die Republika Srpska immer mehr zu einem unabhängigen Gebilde aus. Beide Seiten lassen erkennen, dass sie den Zusammenhalt von Bosnien und Herzegowina nicht nur nicht befördern, sondern blockieren, ja sogar langfristig zerstören wollen. Das Kriegsziel von einst, die von ihnen kontrollierten Gebiete an die jeweiligen Mutterländer anschließen zu wollen, ist nie aufgegeben worden.

Karađorđevo ist also wieder aktuell. Nur in den mehrheitlich bosniakisch bewohnten Gebieten hält die Bevölkerung und der größte Teil der politischen Akteure an einem gemeinsamen Bosnien und Herzegowina fest und will den von Brüssel versprochenen Eintritt des Landes in die EU anstreben. Allerdings versucht auch die muslimische Nationalpartei SDA, um des eigenen Vorteils willen, Kompromisse mit den Nationalisten der anderen Seiten zu schließen, die keineswegs immer vorteilhaft für die jeweilige Bevölkerung sind.

Leider zeigen Brüssel und die Hauptstädte fast 25 Jahre nach Dayton keine ernsthafte Bereitschaft, durch eine hartnäckige und kraftvolle Politik den Gegnern und Blockierern der EU-Perspektive entgegen zu treten. Die Präsenz und Aktivität der internationalen Staatengemeinschaft ist in den letzten Jahren auf ein sehr niedriges Niveau abgesunken. Eine Strategie, Bosnien und Herzegowina aus den Fesseln des Dayton-Abkommens zu lösen und einen normalen demokratischen Staat aufzubauen, ist nicht mehr erkennbar.

Brüssel hat jetzt keine außenpolitische Strategie mehr, was den West-Balkan betrifft. Hunderttausende von Fachkräften aus dem gesamten Raum Westbalkan haben sich enttäuscht auf den Weg nach Westeuropa gemacht. Die ohnehin angeschlagenen Gesundheits- und Sozialsysteme werden über kurz oder lang völlig zusammenbrechen. Das Versprechen von Thessaloniki 2003, den Westbalkan in die EU zu integrieren, von dem nur Kroatien profitiert hat, wird in den Mitgliedsländern der EU immer mehr in Frage gestellt. Es fehlt nach dem Machtwechsel in den USA und nach den letzten Entwicklungen in einigen Mitgliedsländern in der EU (Brexit, Ungarn, Polen) der politische Wille, den Status Quo so zu verändern, dass die Bevölkerungen wieder Hoffnung auf eine Besserung ihrer Lage schöpfen können.

 Man ist in der EU offenbar damit zufrieden, dass in Bosnien und Herzegowina jetzt noch eine relative Ruhe vorherrscht. Den Status Quo zu erhalten, scheint das Ziel der EU-Politik zu sein. Indem die europäische Vision der Integration fast erloschen ist, wurde es für nationalistische, ja faschistische Kräfte der Weg geebnet, die Machtverhältnisse in ihren Ländern mehr und mehr zu ihren Gunsten zu verändern. In den demokratischen Staaten der westlichen EU wird unterschätzt, dass die Nationalisten Geduld haben und ihre Ziele in eine langfristige Strategie einbetten (siehe Schulen mit zwei Ausgängen, nationale Curricula, allumfassende nationale Propaganda in Medien und sogar den Sozial-Wissenschaften). Sie sind dabei sogar in der Lage, aus taktischen Gründen zeitweise Rückzieher zu machen und Kompromisse einzugehen. Den Status Quo zu erhalten, ist aber nicht ihr Ziel. In der Logik nationalistischer Politik ist immanent enthalten, bei Gelegenheit den Hebel umzulegen, Spannungen zu erzeugen und sogar kriegerische Auseinandersetzungen hinzunehmen, um die langfristigen Ziele zu erreichen.

Schon wird in Belgrad der von den Präsidenten Kosovos und Serbiens, Hashim Thaci und Aleksandar Vućić, diskutierte Deal über einen Austausch von Territorien in Kosovo und Südserbien unverhohlen in Zusammenhang mit Bosnien und Herzegowina gebracht. Nach der wahrscheinlich sogar von den USA, aber vor allem von Russland unterstützten Idee, soll der mehrheitlich von Serben bewohnte Nordkosovo zu Serbien, dafür aber das Gebiet um das mehrheitlich von Albanern bewohnte Gebiet um Preševo zu Kosovo kommen.

Bisher war die Veränderung der Grenzen ein Tabu der internationalen Politik, zumal in Europa. Das Versprechen der EU, die Staaten des Westbalkan langfristig in die Europäische Union aufzunehmen, gründete auf der Position, die ethnischen Konflikte der Region mit dieser Perspektive zu befrieden. Die Staaten sollten sich zu demokratischen Rechtsstaaten hin entwickeln, die sich in Europa einpassen können. Noch vor kurzer Zeit war eine Diskussion über auf ethnischer Basis vorgenommene Grenzänderungen ein Tabu. In Brüssel und vor allem in Berlin standen die verantwortlichen Politiker, Experten und die Vertreter der Zivilgesellschaft auf dem Standpunkt, Grenzänderungen in Kosovo würde die Büchse der Pandora öffnen.

Dabei hatten diese Stimmen vor allem Bosnien und Herzegowina und die Ostukraine im Blickfeld. Ein Präzedenzfall in Kosovo würde die Ambitionen Serbiens, die Republika Srpska aus Bosnien und Herzegowina herauszulösen, befeuern. Nach sich verdichtenden Informationen sind aber heute serbische Lobbygruppen in Brüssel und den Hauptstädten Europas und in den USA aktiv, um die Perspektive einer Grenzänderung als ein realistisches „Friedensprojekt“ zu verkaufen. Es hat den Anschein, dass sie teilweise gehört werden: Die EU-Außenpolitikerin Federica Mogherini und Erweiterungskommissar Johannes Hahn scheinen auf diesen Kurs einzuschwenken.

Mit dieser Entwicklung bestätigt sich die These, dass der serbische Nationalismus einen langen Atem hat und je nach internationaler Lage flexibel seine Forderungen präzisiert. Mit dem neuen amerikanischen Präsidenten ist die US-Außenpolitik nicht mehr kalkulierbar, bisher feste Standpunkte wurden schon aufgeweicht. Und die Europäische Union ist uneins. Nur Berlin und einige andere Staaten, die keinerlei Grenzveränderungen aus eigenem Interesse hinnehmen wollen (Spanien, Slowakei, Rumänien) haben an der bisherigen Position festgehalten.

Belgrads langer Atem zeigt sich im öffentlichen Diskurs, Kosovo würde von Serbien diplomatisch anerkannt, aber dafür müsste Europa bereit sein, einer Teilung Bosnien und Herzegowinas zuzustimmen. Bei diesem Diskurs zeigt sich erneut, dass das langfristige Ziel der nationalistischen Kräfte in Serbien, Bosnien und Herzegowina als Staat zu zerstören und sich Teile des Landes einzuverleiben, wieder öffentlich auf die Tagesordnung gesetzt wird.

Hinzu kommen die öffentlichen Auftritte rechtsradikaler Gruppen, wie die Tschetnik-Bewegung aus Ravna Gora, die Mitte März 2019 in der bosnischen Stadt Višegrad offen damit drohte, die „Drina würde sich von Blut rot färben.“ (das bezieht sich auf die Massaker an bosniakischer Bevölkerung 1943 und 1993). Nicht der Auftritt dieser Gruppen ist das größte Problem, sondern die Verteidigung des Auftritts durch serbische Repräsentanten wie Milorad Dodik und durch das Schweigen der Regierung in Belgrad. Dass der Einfluss der Tschetnik-Bewegung auf Rechtsradikale in aller Welt ausstrahlt, wird mit dem Anschlag in Neuseeland beleuchtet. Der Haupt-Täter hörte zur Einstimmung seiner Mordtat menschenverachtende hasserfüllte Tschetnik-Lieder.

Auch in Kroatien gewinnt die radikale Rechte an Boden. Auch Kroatien versucht die Konfusion der westlichen Politik zu nutzen und vertritt seit Monaten die nationalen Ziele in Bosnien und Herzegowina sehr offen - sogar auf diplomatischer Ebene. Die kroatische Rechte und die Regierung möchten die dritte Entität durchsetzen und damit ihre territorialen Ansprüche wahren.

Bosnien wird also erneut in die Zange genommen. Die serbische und die kroatische Seite nutzen zudem die in Europa stärker werdende islamophobe Tendenzen in den Öffentlichkeiten und Parlamenten der Mitgliedsstaaten, um die muslimisch-bosniakische Bevölkerungsmehrheit in Bosnien zu diskreditieren. Diese reagiert angesichts der bedrohlichen Lage bisher nur verhalten. Niemand möchte in einen größeren Konflikt geraten. Doch die Weichen werden offenbar in diese Richtung gestellt.