Die Frage von Lars-Gunnar Wigemark über Bosnien im Zusammenhang mit den Ereignissen in Rumänien ist nicht zufällig. Egal wie emotional sie war. Die Antwort hingegen könnte alles in eine andere Richtung als die in Rumänien führen. Hier sammelt und stapelt sich das Schweigen. Es wurde schon öfter gesagt und es hat sich auch bestätigt, dass es hier für die Regierung gefährlich ist, wenn das Volk schweigt. Und es schweigt schon lange.
Der Bürger ist tot
Das Phänomen des Schweigens über die zerfallende sozioökonomische Realität in Bosnien-Herzegowina, der politischen und anderen Arten der Korruption, das geplünderte Kollektivgut, die ständigen Erniedrigungen und dem Zerstören menschlicher Werte und Würde ist - verwunderlich. Schwerlich ist in der Region ein anderes Land zu finden, in dem Opportunismus, Schweigen, die Zustimmung für jede Art der Erniedrigung so normal ist wie hier in BiH. Sporadisch erheben kleinere Gruppen ihre Stimme, sie widersetzen sich und senden damit dem „System“ und seinen Vertreter/innen deutliche Signale. Nur das Schweigen tritt in Massen auf und ist schon zur Mentalität geworden. Mit Ausnahme einzelner kleinerer Gruppen von Verzweifelten, die die „Demokratisierung“ bestohlen und sie aus ihren Fabriken auf die Straße geworfen, sie danach „systematisch“ betrogen hat – diese Ausnahme hält allerdings nur ein, zwei Tage an.
Die Dramatik der stillschweigenden Zustimmung für diese zerstörerische Gewalt an der Menschlichkeit ist bereits so sichtbar, dass der sonst so skandinavisch friedliebende, tolerante, in seiner Mentalität eher einsichtige und politisch gewaltfreie Chef der EU-Delegation in BiH Lars- Gunnar Wigemark anlässlich der Proteste in Bukarest und anderen Städten, bei denen Hunderttausende auf die Straße gingen, um mit der legalisierten Korruption abzurechnen, auf seinem Twitter-Account fragte: „Wann wird das in BiH passieren?“
Diejenigen, die es sich am Busen des Systems gemütlich gemacht haben und die letzten Reste des Reichtums eines eigentlich soliden Staates aussogen, waren entsetzt angesichts dieser Reaktion. Die Massen, denen die Gründe für Wigemarks ehrliche, wenngleich etwas „undiplomatische“ Frage bestens bekannt sind – schwiegen weiterhin, oder schimpften sporadisch hinter dem Rücken der korrumpierten Eigentümer des Systems.
Auch der Opportunismus, der BiH in eine soziale, ökonomische und politische Euthanasie führt, hat ihre Ursachen und Begründungen. Darüber wird auch nicht gesprochen, zumindest nicht ausreichend. Warum? Und wenn die Menschen schon öffentlich schweigen, warum ändern sie dann nichts bei den geheimen Wahlen, die so oft stattfinden? Die Antwort darauf scheint nicht so schwer zu erraten sein.
Totale Parteienherrschaft
Wie es im Volksmund heißt, singen schon die Spatzen von den Dächern, dass alle legalen und illegalen politischen Systeme sowie auch die Rollen, die die führenden politischen Parteien darin spielen, dazu führen, dass der so genannte Bürger in BiH de facto tot ist, sofern er sich nicht in die gewünschte ethnische Zugehörigkeitsspalte (Serben, Kroaten, Bosniaken) eingetragen hat. In BiH hat sich der Kreis zu schließen begonnen – angefangen bei der Entscheidung für eine Partei, über die strikte ethnische und nationale Zugehörigkeit, bis hin zur absoluten Pflicht der Mitgliedschaft in dieser Partei, wenn man einen Job, eine gesellschaftliche Position oder einen Platz im staatlichen Apparat oder der Verwaltung haben will. Das gilt sogar für Nachtwächter und Kuriere. Ausnahmen sind selten und zufällig. Fachwissen ist bedeutungslos. Gesetze, die früher zu öffentlichen Ausschreibungen verpflichteten und entsprechende Ausbildungen und Nachweise darüber voraussetzten, durchlaufen nun offene Änderungsprozeduren, um so die gängige Praxis zu legalisieren, dass man ohne eine Parteimitgliedschaft als Bürger keine Chance hat. Nicht einmal Bestechungsgelder für den Kauf eines Arbeitsplatzes haben ausreichend Macht, wenn man nicht unter der Kontrolle der Partei steht.
Diese Realität ist ganz im Einklang mit einer Reihe von Tatsachen, die eine Antwort über das Massen-Schweigen liefern. Statistische Daten aus dem letzten Jahr beweisen, dass in dem zerstörten und degenerierten Staat mehr als 60% der arbeitenden Population (ausgenommen die „Schwarzarbeiter“) diverse Stellen im öffentlichen Dienst besetzt haben. Von Bezirksverwaltungen, Gemeinden über Kantone, Entitäten, bis hin zur staatlichen Ebene in Ämtern, Kommissionen, staatlichen Unternehmen, Institutionen usw. Es ist vollkommen klar, dass man dort nichts zu suchen hat, wenn man kein Parteimitglied ist, vor allem bei einer der „Drei Großen“. Den „legitimen Vertretern des Volkes“, für immer. Wenn man der Zahl der dort Beschäftigten noch ihre stimmberechtigten Familienmitglieder hinzufügt, ist der aus existenziell Anhängigen vom korrupten Establishment bestehende Wahlkörper eine legale, „demokratische“ Grundlage, um die gegenwärtige Lage zu zementieren. Mit einer solchen Berechnung stirbt auch die naive Botschaft aus demokratischen Ländern und Organisationen, dass die Lage, wenn sie nicht gut ist, bei den Wahlen geändert werden kann. Bei solchen Umständen der totalen existenziellen „Herrschaft“ über den Wahlkörper kann die Lage nur prolongiert und gefestigt werden.
Exodus der Begabten
Es drängt sich die Frage auf, was mit den mental noch immer „unvergifteten“, gebildeten und arbeitswilligen jungen Menschen ist, die den Wunsch nach beruflichem Fortschritt, Wissenserweiterung und Modernismus haben. Sind sie mit der Situation einverstanden? Was ist mit denen, die Wissen und Klugheit sowie Hochschulabschlüsse von hochrangigen Universitäten besitzen und für einen guten Job gar keine Partei brauchen, aber dafür von der desolaten Wirtschaft, der armseligen Kultur, der vernachlässigten Wissenschaft umso dringender gebraucht werden? Die auf Daten der UN basierenden Informationen einer Studie besagen, dass bis 2015 etwa 1,6 Millionen Menschen, die in BiH geborenen sind, im Ausland lebten. Heute sind es sicherlich noch mehr. Allein 2016 haben etwas mehr als 80.000 junge Menschen unter 35 Jahren das Land verlassen. Natürlich sind unter den 1,6 Millionen BiH-Bürger/innen auch viele, die im Krieg oder kurz danach emigriert sind, oder auch jene, die einen mehr oder weniger guten Job hatten und an einen Ort ausgewandert sind, wo es ihnen besser geht. Trotzdem bleibt die Zahl derer, die ein bedeutendes Potenzial einer jeden Gesellschaft darstellen würden und nicht mehr da sind, enorm.
Unzählige Analysen wurden erstellt, die aufzeigen, wie fatal solch eine Massenflucht des fortschrittlichsten Teils der Bevölkerung tatsächlich für Gesellschaft und Staat ist. Allein schon in Zusammenhang mit den dramatischen Veränderungen der „Blutgruppe“ der Gesellschaft, die ohne diese Menschen soziologisch, mental und „energetisch“ verarmt zurückbleibt, dabei lethargisch schweigt und keinen Finger krümmt, um zumindest das zu erhalten, was sie noch hat. Die Rebellen sind gegangen oder wurden ruhig gestellt, und die Maßstäbe, die sie vital, begehrenswert und zur treibenden Kraft machten, wurden durch Befehle zum Gehorsam eliminiert. In einer solchen Gesellschaft wird die „demokratische Mehrheit“ zum Fundament für Rückschrittlichkeit, und nicht zur Chance für einen Fortschritt.
Politik als Zerstörer
Die komplette „mentale Struktur“ des Aufbaus einer Gesellschaft in BiH ist langsam, aber sicher in einen Zustand des Schweigens geschlittert. Man passt sich dem Konzept der Teilung an, besonders der Teilung nach Volksgruppen, die Religion dominiert über den beschämten Säkularismus … Zerstört sind auch die gemeinsamen Institutionen, und all das, wodurch sich BiH vor dem Krieg auszeichnete (z.B. Film oder Musik) wird durch sporadische Teilnahmen und Co-Produktionen mit anderen am Leben erhalten. Respektable Festivals und Kulturveranstaltungen werden aufgelöst. Die Staatskassen finanzieren immer öfter provinzielle Spaßveranstaltungen von äußerst fragwürdiger Qualität, Profil und Reichweite. Die einst renommierte Universität zu Sarajevo ist auf ein lokales Niveau herabgesetzt worden und gilt nun als „Fußabtreter für jeden kantonalen Bürokraten“, wie ein Professor auf nostalgische Weise feststellte. An den Fakultäten werden Verordnungen über ein Einstellungsverbot für Assistent/innen erlassen, renommierte Lehrbücher werden durch private Skripte ersetzt und Unterrichtsstunden und Prüfungstermine werden religiösen Verpflichtungen angepasst. Für die Wissenschaft bleiben nur Krumen aus dem Budget. Die Politik zerstört auch die öffentlichen Rundfunkanstalten, alle gegenteiligen Behauptungen sind schlichtweg gelogen. Einst bekannte und gute Medien werden oder sind bereits geschlossen, und Sportler/innen von internationalem Kaliber sind schon längst weg aus BiH. Alle. Sportarten, in denen BiH zur internationalen Spitze gehörte, werden nicht mehr angeboten.
All diese Vorgänge sind nicht zufällig, sie finden manipulativ, beharrlich und systematisch statt und richten sich gegen all jene, die den Wunsch und die Kraft hatten, das Leben und die Realität auf eine kreative Art zu gestalten. Die Befehle zum Schweigen darüber sind so gut wie öffentlich, was jedoch nicht bedeutet, dass sie nicht allen klar sind. So verschwinden langsam auch äußerst dynamische Vereinigungen wie der Schriftsteller/innenverband, das PEN Zentrum, diverse Künstler/innen, Journalist/innen in der Versenkung, auch das Helsinki Komitee für Menschenrechte gibt es nicht mehr, und das gigantische Kulturprojekt Ars Aevi steht am Abgrund. Und niemand reagiert. Heute können Intellektuelle, die noch immer die Kraft, den Willen und die Fähigkeit haben, sich all dem zu widersetzen, an den Fingern abgezählt werden. Der größte Hass, Primitivismus, fluchende Beleidigungen auf Internet-Portalen sind im Namen der Anzahl der Klicks legalisiert, denn das ist der Maßstab für Erfolg im Journalismus geworden. Nicht der Inhalt, die Botschaft oder die informative Substanz. Das Ergebnis ist lethargisches Schweigen, der Wunsch, den „Mächtigen“ aus dem Weg zu gehen oder krampfhaftes Streben nach der Gunst der Partei, um die nackte Existenz zu sichern. Das Herstellen von politischen Affären, gegenseitigen Animositäten bis hin zum Hass, Beschuldigungen und Unterstellungen auf nationaler Ebene ist ein Projekt der dreiköpfigen nationalen Oligarchie (die drei Mitglieder des Staatspräsidiums, Anm. d. Ü.), um sich an der Macht zu erhalten. Dabei helfen ihnen die in ihre Bestandteile zerlegte Verfassung und das politische System, in das alle Mechanismen der Dekonstruktion eingearbeitet sind, während so gut wie kein Mechanismus vorhanden ist, der einer Verbindung, gemeinsamen Interessen, oder dem Aufbau oder Fortschritt dienen würden. All dies ist ein Alibi für eine Selbstrechtfertigung – so ist das eben, da kann man nichts machen, halt den Mund und leide, die anderen sind schuld …
Die Frage von Lars-Gunnar Wigemark über Bosnien im Zusammenhang mit den Ereignissen in Rumänien ist nicht zufällig. Egal wie emotional sie war. Die Antwort hingegen könnte alles in eine andere Richtung als die in Rumänien führen. Hier sammelt und stapelt sich das Schweigen. Es wurde schon öfter gesagt und es hat sich auch bestätigt, dass es hier für die Regierung gefährlich ist, wenn das Volk schweigt. Und es schweigt schon lange. Die Warnung von 2014 war nicht genug. Am Schlimmsten ist, dass die mögliche Explosion der Unzufriedenheit – sollte es dazu kommen – unter den jetzigen Umständen schwerlich von einer Kraft artikuliert und geführt wird, die sich an die Spitze stellt und versucht, die ganze Geschichte in Richtung eines besseren und konstruktiveren Lebensweise zu lenken. Die Zerstörung der Zerstörung halber katapultiert lediglich Zerstörer an die Spitze. Aber das kann keine Lösung für die gegenwärtige Lage sein. Diejenigen, die über solche Dinge nachdenken sollten, sind offensichtlich zufrieden mit der Situation und darüber, dass die Menschen schweigen. Hier schließt sich der Kreis auf ziemlich dramatische Weise, und die Mathematik des Opportunismus zeigt sich mal wieder als immer fataler werdend.
Ins Deutsche übersetzt von Alma Sukić, hbs Büro Sarajevo