Bosniens zementierte Segregation: Divide et impera

Das Abkommen von Dayton beendete 1995 den Krieg in Bosnien und teilte das Land in zwei Entitäten: Die serbische Republika Srpska (RS) und die muslimisch-kroatische Föderation. Was einst den Frieden sichern sollte, zementiert bis heute die ethnische Trennung. Nationalistische Politiker/innen der drei Ethnien teilten den Staat unter sich auf.  Mit Panikmache und Hetze sorgen sie dafür, dass der Status quo erhalten bleibt. Um alte Ängste zu reaktivierten scheint jedes Mittel recht. Die Vergangenheit wird nach eigenem Gutdünken umgedeutet und zu tagespolitischen Zwecken instrumentalisiert. Wer die nationalistischen Narrative zu verlassen versucht, stößt auf Widerstand. Zweiundzwanzig Jahre nach Ende des Krieges ist dessen Aufarbeitung in der Bevölkerung deshalb kaum vorangekommen.  

Ein Artikel von Anja Troelenberg, Praktikantin bei der hbs, Büro Sarajevo

Anhaltende Diskriminierung

Ein Musterfall für das „Spiel mit der Vergangenheit“ war ein Referendum im Herbst letzten Jahres. RS-Präsident Milorad Dodik ließ die Bewohner/innen der RS über einen Nationalfeiertag abstimmen: Den Gründungstag der RS vom 9. Januar 1992, auf deren Gebiet bis 1995 massenhaft Nicht-Serb/innen vertrieben oder ermordet wurden. Mit dem Referendum setzte sich die RS-Regierung über das oberste Verfassungsgericht Bosniens hinweg, das den Feiertag als verfassungswidrig erklärt hatte. Der 9. Januar verwiese auch auf den Feiertag des heiligen Stephanus, der überwiegend von orthodoxen Serb/innen gefeiert wird, argumentierte das Gericht.

Die Wahlbeteiligung lag bei nur 55 Prozent. 99,8 Prozent der Wähler/innen stimmten für den Feiertag. Obwohl das Referendum weder gesetzliche Basis noch rechtliche Bedeutung hat, kann es für Dodik als Erfolg verbucht werden. Eine Woche vor den Lokalwahlen lenkte er mit der Debatte um den Feiertag von den eigentlichen Missständen der RS ab.[1]

Das Referendum ist nicht der einzige Beweis für die anhaltende nationalistische Aufhetzung. Kroatische Nationalist/innen feierten im November den 25. Jahrestag der Ausrufung der Kroatischen Republik Herceg-Bosna, deren Gebiet ebenfalls zum Schauplatz „ethnischer Säuberungen“ wurde. Die Republik wurde 1991 in einem vorwiegend von Katholik/innen besiedelten Gebiet zu einer eigenständigen Einheit ausgerufen und nach Ende des Krieges offiziell aufgelöst.[2] Serbische Nationalist/innen veranstalten Umzüge und Feierlichkeiten während Opferverbände ihrer Toten gedenken wollen.[3] Weiterhin leugnet etwa die serbische Öffentlichkeit die Existenz der Konzentrationslager in Omarska, Keraterm und Trnopolje nahe der Stadt Prijedor.[4]

Das Jugendzentrum „Kvart“ in Prijedor

Wo sich einst die Lager befanden, fordert heute das Jugendzentrum „Kvart“ einen offenen Dialog über die Vergangenheit und die Auseinandersetzung mit der Geschichte frei von nationalistischen Konnotationen. Anstatt auf Opfer einzelner Ethnien hinzuweisen, sollte das Leid der Menschen im Vordergrund stehen, meint Kvart-Leiter Goran Zorić.

Doch der Umgang mit der eigenen Geschichte ist heikel. In den Jahren 1992-93 wurden im Umkreis der Stadt 102 Kinder aufgrund ihrer nationalen und/ oder religiösen Zugehörigkeit getötet. Zum Gedenken wollte Zorić eine Traueranzeige in der Zeitung „Kozarski vjesnik“ veröffentlichen. Als er den Antrag für die Anzeige bei der Zeitung stellen wollte, war der Direktor nicht zugegen. Man bat ihn, erneut einen Antrag zu stellen. Doch auch beim zweiten Mal war dieser nicht anwesend. Später verglich der Direktor die Anzeige mit Todesanzeigen, die falsche Angaben und Namen noch lebender Personen beinhalten. Auch eine Beschwerde bei der Ombudsmann-Einrichtung für Menschenrechte konnte nichts erreichen. Die Anzeige blieb unveröffentlicht. Daraufhin fragte Kvart-Aktivist Nikola Kuridža in einem Artikel: „An wen dürfen wir uns erinnern?“[5]

Seither sind zwei Jahre vergangen, geändert hat sich nichts. Erschöpft sitzen drei Kvart-Aktivist/innen in ihrem Zentrum: „Es geht auch um persönliche Ressourcen. Man muss sich fragen: Wie viel Kraft kann ich noch investieren?“.

Kvart ist den Lokalpolitiker/innen von Prijedor ein Dorn im Auge. Ein offener Dialog, wie sie ihn fordern, kratzt an der Machtbasis, aufgebaut aus Lügen, Leugnungen und Manipulation. Viele Steine werden ihnen in den Weg gelegt, Teilnehmer/innen attackiert und Gerüchte verbreitet. Zivilgesellschaftliches Engagement scheint hier unerwünscht. Auch in der Bevölkerung hat das Zentrum wenig Rückhalt; die Menschen sind misstrauisch.

Plötzlich steht ein Polizist im Raum. Mit ihm ist eine Frau, deren Tochter seit 20 Tagen vermisst wird. Eine Lehrerin habe behauptet, man würde sie im Jugendzentrum verstecken. Politische Aktivist/innen oder Kriminelle? Das scheint hier für die öffentlichen Stellen ganz nah beieinander zu liegen.

Stillstand

Die mangelnde Fähigkeit zum Dialog zwischen den einzelnen politischen Lagern blockiert das System. Weil sich bosniakische und kroatische Politiker/innen nicht einigen können, finden in der herzegowinischen Stadt Mostar seit 2008 keine Lokalwahlen mehr statt. Der florierende Tourismus mag darüber hinwegtäuschen, doch die Stadt verharrt im Stillstand. Während täglich hunderte Tourist/innen über die berühmte Brücke spazieren, bleibt die lokale Bevölkerung auf „ihren“ Seiten: Die Kroat/innen im Westen und die Bosniak/innen im Osten.

Der Kontakt zwischen den beiden Seiten ist nicht nur unerwünscht, er wurde auch unnötig gemacht. Jede Seite hat einen eigenen Stromversorger, ein eigenes Telefonnetz, einen eigenen Postdienst, sowie eigene Schulen und Universitäten. Unter diesen Umständen scheint es fast nicht mehr verwunderlich, dass einige Jugendliche noch nie auf der „anderen“ Seite waren. Der Zustand ist kein Zufall, er lässt sich zu Gunsten der Politiker/innen beider Seiten nutzen: In einer geteilten Stadt lassen sich auch gut bezahlte Posten doppelt vergeben.

Zwei Schulen unter einem Dach

Das Schulsystem erstickt die Hoffnung auf einen zukünftigen gemeinsamen Dialog, denn auch im Bildungsbereich wird die ethnische Trennung bewusst zementiert. Gemäß den Vorstellungen der drei ethnischen Gruppen existieren drei entsprechende Curricula. In den ethnisch „reinen“ Territorien wird ausschließlich nach dem Lehrplan der dominanten Gruppe unterrichtet. In den gemischten Kantonen gibt es die sogenannten „zwei Schulen unter einem Dach“.

Mit der Rückkehr der Geflüchteten entstand in diesen Kantonen ein doppeltes System. Neben den bestehenden Schulen der einen Ethnie gründeten sich Schulen der anderen Ethnie. Um dieses Problem zu lösen führte die OSZE die Institution der „zwei Schulen unter einem Dach“ ein: Die bestehenden Schulen wurden unter einem Dach zusammengebracht.

Heute existieren noch über 30 Schulen dieser Art. Dort werden die Schüler/innen nach unterschiedlichen Lehrplänen von unterschiedlichen Lehrer/innen, getrennt voneinander unterrichtet. Natürlich lernt jeder die von den nationalistischen Politikern favorisierte Version der Vergangenheit. Zu unterschiedlichen Pausenzeiten benutzten die Schüler/innen einen Hof, der durch einen Zaun getrennt wird. Auch hier ist Kontakt unerwünscht.

Diese Segregation wurde 2014 vom Obersten Verfassungsgericht Bosniens als verfassungswidrig erklärt. Warum sich seither nichts geändert hat? Für Vernes Voloder von der NGO Nansen Dialogue Center Mostar[6]  ist die Situation eindeutig: „Bildung ist das mächtigste Mittel um Kinder, Eltern und die lokalen Gemeinden getrennt zu halten.“

Um dem etwas entgegenzusetzen, startete das NDC Mostar im November 2015 das „Model für integrierte Bildung”. Mithilfe von gemeinsamen außerschulischen Aktivitäten soll eine Kommunikation und Kooperation zwischen Schüler/innen, Eltern und Lehrern entstehen. Aktuell nehmen 120 Schüler/innen an fünf verschiedenen Schulen an dem Programm teil.

Das Bildungssystem müsse sich ändern, sagt Voloder, aktuell ruiniere es den Friedensbildungsprozess. Seine Hoffnung steckt er in die Schüler/innen, die gewillt sind, „einen Schritt nach vorn zu gehen und die unsichtbaren Mauern zwischen den Schülern einzureißen“. Er nennt sie “Brave Pioneers of Dialogue”. Letztlich soll eine kritische Masse entstehen, die zukünftige Bildungsreformen ermöglicht.

Doch der stark ausgeprägte Föderalismus erschwert den Einfluss auf das System. Bildung ist Aufgabe der Entitäten. In der Föderation liegt die Verantwortung bei den Kantonen. Folglich gibt es ein Bildungsministerium in der RS, zehn Ministerien in der Föderation und ein weiteres im Sonderverwaltungsgebiet Brčko.

Immer wieder gibt es Eltern, die ihren Kindern die Teilnahme an den gemeinsamen Aktivitäten verbieten. Bei einem Teil der jüngeren Generation scheint dennoch Interesse an einem gemeinsamen Alltag zu bestehen. Im Juni protestierten Schüler/innen in Jajce gegen die geplante Trennung ihrer gemischten Schule.[7] Dafür wurden sie von der kroatischen Bildungsministerin Katica Čerkez ausgelacht und als „Instrument der internationalen Gemeinschaft“[8] bezeichnet. Die bizarre Szene beweist: Die Segregationsbestrebungen kommen nicht vom Volke, sondern von höchster Ebene. In diesem Fall hatten die Schüler/innen Erfolg. Die Pläne für eine neue Schule werden nicht umgesetzt.

Fortschritt?

Im Februar 2016 stellte Bosnien endlich den Antrag auf EU-Mitgliedschaft. Während die Vertreter/innen der internationalen Gemeinschaft seither die positive Entwicklung des Landes betonen, sind sich bei Kvart alle einig: Nach einer Zeit der Höhen und Tiefen geht es mit Bosnien jetzt nur noch bergab.

Dialog ohne Aufarbeitung? Demokratie ohne Zivilgesellschaft? So lange die Nationalisten das Erinnern verbieten, die Medien manipulieren und die Hoheit über die Lehrpläne haben, wird es keine Aussöhnung geben.

 

 

[1] Marion Kraske: Bosnien-Herzegowina: Projekt der Destruktion, in: Heinrich-Böll-Stiftung (BiH), am 07.10.2016, online unter: https://www.boell.de/de/2016/10/06/bosnien-herzegowina-projekt-der-destruktion, letzter Zugriff am 15.08.2017.

[2] Adelheid Wölfl: Bosnien: Ein längst versunkener Parastaat wird gefeiert, in derStandard, am 21.11.2016, online unter: http://derstandard.at/2000047898808/Bosnien-Ein-laengst-versunkener-Para-Staat-wird-gefeiert, letzter Zugriff am 15.08.2017.

[3] Adelheid Wölfl: Ethnische Säuberungen in Bosnien: "Das Wasser hat sie mitgenommen", in derStandard, am 27.05.2017, online unter: http://derstandard.at/2000058257136/Ethnische-Saeuberungen-in-Bosnien-Das-Wasser-hat-sie-mitgenommen, letzter Zugriff am 15.08.2017.

[4] Erich Rathfelder: Das Elend mit der Geschichtsbewältigung, in: Heinrich-Böll-Stiftung (BiH), am 13.06.2016, online unter: https://ba.boell.org/de/2017/06/13/das-elend-mit-der-geschichtsbewaeltigung, letzter Zugriff am 15.08.2017.

[5] Nikola Kuridža: An wen dürfen wir uns erinnern?, in: Heinrich Böll Stiftung (BiH), am 26.10.2016, online unter: https://ba.boell.org/de/2016/10/26/wen-duerfen-wir-uns-erinnern, letzter Zugriff am 15.08.2017.

[6] Zur Webseite des Nansen Dialogue Center (NDC) Mostar:         

http://www.nansen-dialogue.net/ndcmostar/index.php/en/.

[7] Igor Spaic: Bosnian Pupils Rally Against Ethnic Segregation in Schools, in BIRN am 20.06.2017, online unter: http://www.balkaninsight.com/en/article/bosnian-pupils-rally-against-ethnic-segregation-in-schools-06-20-2017, letzter Zugriff am 15.08.2017.

[8] N1 televizija: Ministrica učenicima iz Jajca poručila: Idite u disko, am 20.06.2017, online unter: http://ba.n1info.com/a170335/Vijesti/Vijesti/Ministrica-ucenicima-iz-Jajca-porucila-Idite-u-disko.html, letzter Zugriff am 15.08.2017. [Zitat: "Vi ste instrument međunarodne zajednice. idite u disko, ja se ne mogu boriti sa vjetrenjačama"., dt. „Ihr seid ein Instrument der internationalen Gemeinschaft. Geht in die Disko, ich kann nicht gegen Windmühlen ankämpfen.“]