Das Elend mit der Geschichtsbewältigung

In den Balkan-Staaten versuchen nationalistische Kräfte die eigene Geschichte umzudeuten und für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Das verhindert eine demokratische Zukunft.

Nach dem Krieg der 90er Jahre sollte alles anders werden. Der durch die Intervention der Nato gegenüber Serbien dokumentierte Wille der Weltgemeinschaft, die Kriege und Verbrechen zu stoppen, schuf in den Gesellschaften des ehemaligen Jugoslawiens kurzzeitig eine Öffnung für ernsthafte Diskussionen über die Gründe für das Scheitern Jugoslawiens und damit über die Vergangenheit.

Vor allem jene Intellektuellen, die schon während der Zeit des Sozialistischen Systems ihre kritische Stimme erhoben und Demokratie und rechtsstaatliche Verhältnisse gefordert hatten, so wie Žarko Puhovskiin Zagreb, gewannen für kurze Zeit an Autorität.

Demokratische Aufbruchstimmung nach den Kriegen

Nachdem der sozial-liberale „Stipe“ Mesić in Kroatien Anfang 2000 zum Präsidenten des Landes gewählt worden war, nachdem es dem der von der Frankfurter Schule beeinflusste Vorsitzende der Demokratischen Partei, Zoran Đinđić 2001 in Serbien gelungen war, den Potentaten Slobodan Milošević zu stürzen und ihn an das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag auszuliefern, etablierte sich sogar in Bosnien und Herzegowina eine Reformregierung, in der vor allem sozialdemokratische Parteien aus allen Bevölkerungsgruppen zusammenarbeiteten.

In Kosovo verwehrte der pazifistische Vorsitzende der Demokratischen Liga Ibrahim Rugova den Kämpfern der Kosovo Befreiungsarmee UCK die Übernahme der Macht. Auch in Mazedonien und Montenegro waren liberaldemokratische Positionen gestärkt, in Slowenien hatten sich die Reformkräfte immerhin schon vor dem slowenischen Krieg 1991 durchgesetzt.

Anfang des Jahrtausends war im gesamten Raum eine Aufbruchsstimmung bemerkbar, die noch beflügelt wurde, als die EU in Thessaloniki 2003 beschloss, den Ländern des Balkans eine ernsthafte Beitrittsperspektive zu bieten. Sie wollte die Entwicklung hin zu rechtsstaatlichen Verhältnissen mit wirtschaftlichen Hilfeleistungen verknüpfen, also die Transition der Nachfolgestaaten vom Sozialistischen System in eine Marktwirtschaft und der Entwicklung der Demokratie unter Achtung der Menschenrechte erleichtern. Man bemühte sich auch von Seiten des Westens, zivilgesellschaftliche Organisationen zu stärken.

Nationalistische Ideologien setzen sich durch

Doch all dies erwies sich letztlich als Strohfeuer. Mit der Ermordung Zoran Djindjics 2003, mit dem Scheitern der Reformkräfte in Bosnien und Herzegowina, mit dem Namensstreit zwischen Griechenland und Mazedonien über den Namen des Landes, was den Integrationsprozess Mazedoniens in die EU entscheidend zurückwarf, mit der Machtübernahme der UCK in Kosovo und dem Erstarken der nationalistischen Kräfte in Kroatien schwang das Pendel zurück.

Zwar gelang es in Kroatien, die nationalkonservative Partei auf Europakurs zu verpflichten, doch gleichzeitig war dies keine Garantie dafür, die nationalistischen Ideologien in die Schranken zu weisen.

Schon Jahre vor der Entwicklung in Ungarn und Polen gelang es den nationalistischen Kräften in Serbien, in den drei Volksgruppen in Bosnien und Herzegowina, in Mazedonien sowie in den anderen Staaten mit der Aufrechterhaltung der demokratischen Fassade demokratische und menschenrechtliche Errungenschaften auszuhöhlen und autoritäre Denkmuster und Ideologien durchzusetzen.

Den nationalistischen Eliten kam entgegen, dass der zivilisatorische Druck durch die internationale Gemeinschaft seit 2006 nachgelassen hat. Das sinkende Interesse an dem Raum in der Weltöffentlichkeit und das Laissez-faire der internationalen Institutionen verhalf den nationalistisch totalitären Kräften der Region zu einer Renaissance.

Feindbilder sind von zentraler Bedeutung

Widersinniger Weise kam den herrschenden Eliten zudem entgegen, dass weite Teile der Bevölkerung wegen deren Versäumnisse und Korruption verarmt sind. Obwohl die Eliten selbst ihre Verantwortung an der wirtschaftlichen Misere tragen, ist es ihnen durch die Kontrolle der Medien und der Eingrenzung oppositioneller Bewegungen gelungen, von der Misere abzulenken.

Anknüpfend an konservativ-religiösen Wertvorstellungen und Feindbildern nach innen – wie gegen laizistische demokratische Intellektuelle und Künstler sowie (sexuellen) Minderheiten - wurde und wird erfolgreich versucht, die Mehrheit der Bevölkerungen bei Wahlen hinter sich zu bringen.

Propaganda gegen „Feinde“, d.h. andere Nationen und Bevölkerungsgruppen stellen traditionelle Instrumente für deren Kampagnen dar. Inzwischen wird von Seiten der staatlichen Medien, Schulen und Universitäten versucht, durch Fälschungen des Ablaufes der Geschichte die Bevölkerungen von der dauerhaften Legitimität ihrer eigenen nationalistischen Eliten zu überzeugen.

Geschichte wird unterschiedlich interpretiert - und instrumentalisiert

Bei dieser Geschichtsklitterung verschränken sich je nach nationaler Ideologie die Interpretationen der Geschichte des Zweiten Weltkrieges mit jenen der Ereignisse während der Nachfolgekriege Jugoslawiens in den 90er Jahren. Der Politikwissenschaftler Žarko Puhovski weist seit Jahren auf die ideologische Instrumentalisierung der Geschichte durch nationale Mythologien geprägte öffentliche Geschichtsdiskussion in dem Raum des ehemaligen Jugoslawien hin. Die Erinnerungskultur werde stark durch Generationen übergreifende Traumata, durch Familie und Schule, durch die „Familienlüge und die Schullüge“ geprägt.

In der kroatischen Öffentlichkeit werde zum Beispiel die Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges seitens nationalistischer Kreise verkürzt auf die Massaker der kommunistischen Partisanen an Mitgliedern der kroatischen Heimwehr und Anhängern des Ustascha-Staates in Bleiburg 1945. Die Verantwortung und die Verbrechen der Ustascha-Diktatur, die von 1941-1945 in Kroatien und Westbosnien große Verbrechen gegenüber Serben, Juden und Roma zu verantworten hat, werde in Kroatien dagegen von konservativ-nationalistischer und katholischer Seite heruntergespielt. Bleiburg wiegt bei ihnen mehr als das größte Konzentrationslager auf dem Balkan Jasenovac.

Dem sozialistischen Jugoslawien unter Josip Broz, genannt Tito, werden dagegen alle möglichen Fehlentwicklungen in der Gesellschaft zur Last gelegt. Das dem Tito-Staat zugrundeliegende Postulat von „Brüderlichkeit und Einheit“ erscheint in diesem Kontext folgerichtig als Bedrohung der staatlichen Existenz Kroatiens. Sozialdemokraten und Liberale, die nicht dieser Interpretation folgen, wurden und werden von den Nationalisten als „Kommunisten“ und Vaterlandsverräter diffamiert.

Serbien rehabilitiert die Tschetniks

Die öffentliche Diskussion über die Verbrechen des Ustascha-Staates und dessen Konzentrationslager, so dem Lager in Jasenovac, in dem allein über 80 000 Serben, Juden, Roma und Oppositionelle getötet wurden, bleibt dagegen im Zentrum der serbischen Diskussion über diese blutige Vergangenheit des Raums. Die fürchterlichen Exzesse des Ustascharegimes führt jedoch nicht nur zu einer Erschütterung und Trauer. Die Verbrechen von damals werden vielfach politisch instrumentalisiert. Die weit übertriebenen Opferzahlen der Ustascha-Verbrechen (ohne Beweis wurden in Serbien bis zu 2 Millionen Ermordete genannt) trugen wesentlich zur Radikalisierung der serbischen Bevölkerung im Vorfeld der Kriege der 90er Jahre bei.

Die von Serben zu verantwortenden Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges werden in Serbien dagegen bis heute ausgeblendet. Für die serbische Historikerin Dubravka Stojanović wird in Serbien an einer Geschichtslegende gearbeitet, in der die Verbrechen des mit den deutschen Nationalsozialisten kollaborierenden Nedic-Regimes heruntergespielt, die Verbrechen der königstreuen Tschetniks und ihre Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht im heutigen Serbien relativiert und für die Tschetniks das Bild einer nationalen antifaschistischen Bewegung gezeichnet.

Dabei war es jahrzehntelang auch in der jugoslawischen Öffentlichkeit eine Gewissheit, dass die serbischen Tschetniks mit den deutschen und italienischen Truppen kollaborierten. Der Kampf gegen den „Faschismus“ wurde von den Partisanen getragen. Doch in den letzten Jahren wird in den serbischen Medien, den Schulen und bei offiziellen Anlässen die ganz andere Interpretation der Geschichte durchgesetzt. Das zeigt sich in vielen Datails. So wird z.B. der von mit den deutschen verbündeten Tschetniks begangene Mord an dem großen Kriegshelden in Westbosnien, der Mord an dem Kommandeur der Partisanen von Prijedor-Kozara, Mladen Stojanović, plötzlich als Werk der Partisanen dargestellt. Partisanen, so die heute verbreitete Lesart in Prijedor, hätten sich Tschetnik-Uniformen angezogen und dann ihren Kommandeur erschossen. Die Tschetniks werden zu den Guten, die Partisanen zu den Bösen umgedeutet.

In Serbien hat man kürzlich den 1946 wegen der Kollaboration mit den Deutschen von den Partisanen hingerichteten Führer der Tschetniks, "Draža" Mihailović als „Antifaschist“ rehabilitiert. In Serbien und in der serbischen Teilrepublik in Bosnien lief ein mehrteiliger Film, in dem das Leben Mihailović glorifiziert wird. Die Geschichtslüge wurde als Wahrheit durchgesetzt. Wahrheit und Lüge – wer kann das noch unterscheiden? Die junge Generation übernimmt die Geschichtslügen als Wahrheit.

Seine Verbrechen blendet Serbien aus

Die von Serben im Zuge der sogenannten „ethnischen Säuberungen“ begangenen Verbrechen während der Kriege der 90er Jahre werden systematisch geleugnet. Dagegen wird das serbische Volk weiterhin als das Opfer der Geschichte angesehen, während die Opfer der 90er Jahre gar nicht existieren. Trotz aller Beweise und Massengräber leugnet die serbische Öffentlichkeit die Existenz von Konzentrationslagern in Omarska, Keraterm und Trnopolje 1992. Überlebenden Opfern wird es verwehrt, ihrer Trauer öffentlich Ausdruck zu geben.

Sowohl in Prijedor wie auch anderen Orten des Schreckens, wie in Foca oder Visegrad, veranstalten Tschetniks Umzüge und Feierlichkeiten gerade zu der Zeit, wenn Opferverbände der anderen Bevölkerungsgruppen ihrer Toten gedenken wollen. Es passt ins Bild, wenn in Serbien und bei bosnischen Serben vom UN-Tribunal in Den Haag verurteilte Kriegsverbrecher der 90er Jahre wie Helden verehrt werden.

50 Jahre nach dem II. Weltkrieg wurde den anderen Bevölkerungsgruppen unterstellt, im Sinne der Ustascha-Diktatur handeln zu wollen. Die serbischen Extremisten, die Tschetniks der 90er Jahre, mordeten in Bosnien zehntausendfach mit dem Bewusstsein, einen „antifaschistischen“ Kampf zu führen. Die völlige Verdrehung der Begriffe und die Klitterung der Geschichte gehört heute zum Alltagsbewusstsein des größten Teils der serbischen Bevölkerung in Bosnien und in Serbien selbst.

Es fehlt eine übergreifende Diskussion zwischen den Gesellschaften

Auch bei den kleineren Nationen werden Mythen bis hin zu Geschichtsklitterung gepflegt. Die Heldenverehrung des Adem Jashari in Kosovo, die Instrumentalisierung von Alexander dem Großen in Mazedonien, die Heroisierung des historischen unabhängigen Staates Montenegro sind Ausdruck dieser Tendenz. Selbst in Sarajevo prangen die Namen von Mitgliedern des bosniakischen SS-Bataillons Handschar an Strassenschildern.

Eine übergreifende Diskussion zwischen den Gesellschaften der Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien existiert nur noch in Zirkeln der Zivilgesellschaft. Die unter Tito aufgewachsene Generation von kritischen und produktiven Intellektuellen stirbt langsam aus, die Mehrheit der schon in den Nachfolgestaaten aufgewachsenen Generation will sich gar nicht mehr mit dem Gesamtkontext auseinandersetzen.

Die nach dem letzten Krieg der 90er aufblühenden Gruppen der Zivilgesellschaft sind ausgedünnt, die Unterstützung aus der EU und anderen Ländern des Westens wird geringer. Die EU und auch die Botschaften der europäischen Staaten scheuen sich, Ross und Reiter zu nennen, beschönigen die Lage und verharmlosen in der Öffentlichkeit die Entwicklungen der letzten Jahre.

Es ist den nationalen Eliten zudem gelungen, die Gruppen der Zivilgesellschaft zu isolieren, sie als vom Ausland gesteuert oder als Vaterlandsverräter darzustellen. So wie Sonja Biserko und Natasa Kandic in Belgrad. Lange schon vor Ungarn haben die Eliten in Ex-Jugoslawien versucht, die Tätigkeit der Stiftung des Milliardärs George Soros zu behindern, die viele zivilgesellschaftliche und Kulturprojekte mitfinanziert hat. Immerhin sind einige unabhängige und sich selbsttragende Projekte entstanden, die vor allem über das Internet unabhängige Informationen und Diskussionen liefern.

Für Politikwissenschaftler Žarko Puhovski ist klar: Eine demokratische Zukunft können die Staaten des Balkan nur haben, wenn sie ihre wirkliche Geschichte kennen und akzeptieren. Davon sind sie aber weit entfernt.

Dieser Artikel ist zuerst in einer gekürzten Version auf taz.de erschienen.