Nermina Mujagić "Demonstrant/innen gegen Nationalismus, Neoliberalismus und Primitivismus"

Lesedauer: 9 Minuten

Der Kampf um die gestohlene Demokratie

Autorin: Nermina MUJAGIĆ, Professorin, Politikwissenschaftliche Fakultät in Sarajevo

Sarajevo, 24. 02. 2014

Die landesweiten Proteste in Bosnien-Herzegowina haben vor allem wegen der Unzufriedenheit der Bürger/innen aufgrund ihrer Armut und der ausweglosen Post-Dayton-Krise begonnen, die insbesondere in den vergangenen Jahren über dem Land schwebt.

In einigen Städten  (Tuzla, Bihać, Sarajevo, Konjic, Mostar, Bijeljina, Banja Luka usw.)  fordern die Bürger/innen durch verschiedene Formen der politischen Partizipation (Proteste, Plenen usw.) bessere Lebensbedingungen, um ihre verlorene Würde wiederzuerlangen.

Experten stellen sich die Frage, ob die Proteste tatsächlich die existenzielle Lage in Bosnien-Herzegowina verändern können und wie sich die Lage weiter entwickeln wird. Der Fokus der Aufmerksamkeit verlagert sich langsam wieder von den existenziellen Fragen (Armut, Arbeitslosigkeit, Diskriminierung der Minderheiten) auf die Frage, ob und wie die Plenen, die eine Folgeerscheinung der Massendemonstrationen im Land als eine 'außer-institutionelle Form der Bürger/innen-Organisierung' sind, das autoritäre politische System in BiH  verändern können, das fester Bestandteil des Daytoner Friedensabkommens ist. Aber die Demonstrationen sollten in einem breiteren Zusammenhang betrachtet werden, auch wenn BiH schon seit langem kein Thema mehr  für die großen Mächte ist, wie es zu Zeiten des Krieges der Fall war – insbesondere für die USA und die EU.  Betrachtet man die Demonstrationen in BiH im Kontext dessen, was in den vergangenen Jahren auf der politischen Weltbühne passierte (Demonstrationen an der Wall Street, der 'Arabische Frühling', die Demonstrationen am Taksim-Platz, bzw. in der Türkei, ferner in Bulgarien, Rumänien, Slowenien, den benachbarten Kroatien und Serbien und anderenorts), könnte man meinen, dass die Welle der globalen Unzufriedenheit auch dieses kleine Land am Balkan erreicht hat, dem es nicht gelingen will, die 'europäische Perspektive' aufzuziehen.

Der einzig akzeptierte und geförderte Diskurs im Land während der 20 Jahre ethno-politischer Regierung war ein Diskurs der Rechten – den auch einige linksgerichtete Parteien in BiH bei den Wahlen 2002 für sich entdeckten - was sich bei den Wahlen für sie ausgezahlt hatte. Endlich ändert sich das politische Narrativ das weder die Kategorie des/der Bürger/in, noch den Begriff des  'Gemeinguts'  kennt,  da er von Grund auf von partiellen Interessen der Regierungsvertreter/innen beherrscht wird.

Die Proteste können auch als eine Art gesellschaftlicher und politischer Veränderungen in Bosnien-Herzegowina betrachtet werden. Das Land ist in seiner Mehrparteien-Demokratie erstmals regionaler Leader geworden.  Fast alle Proteste in der Region waren hauptsächlich bezogen auf die Stärkung der nationalen Einheit und der territorialen Souveränität der Nachbarländer, aber die jüngsten in Bosnien-Herzegowina sind spezifisch, denn die Demonstrant/innen haben sich über alle Rahmen eines modernen Staates, der in Bosnien-Herzegowina außerordentlich geschwächt war, vor allem aber über ethnische und religiöse Formen und Prozeduren, die durch das Daytoner Friedensabkommen institutionalisiert worden waren, hinaus erhoben. In der politischen Praxis endet die nationale und ethnische Intoleranz meistens in ethnischen Konflikten zuungunsten des Staates BiH und ihrer Institutionen, so dass oft der Eindruck entsteht, das ethno-politische System habe den Bürger/innen des Landes die 'Demokratie gestohlen'.

Bosnien-Herzegowina hat auf eine andere Art gesprochen. Die schwere soziökonomische Lage und der Kampf ums nackte Überleben haben die Bürger/innen Bosnien-Herzegowinas dazu gezwungen, sich als Arbeiter/innen zu organisieren und zusammenzuschließen.  Ohne jeden Zweifel hat das 1995 in Dayton unterzeichnete Friedensabkommen den Kapitalismus institutionalisiert, die Mittel-, bzw. Arbeiter/innenklasse vernichtet und die fragilen und im Krieg tief erschütterten ethnischen und nationalen Beziehungen in Bosnien-Herzegowina vertieft. Die Proteste, die erst in der Föderation Bosnien-Herzegowina begannen und sich dann spontan auf die Republika Srpska ausweiteten, bieten Bosnien-Herzegowina eine neue Perspektive. Die Eroberung des „Politischen“ in der Politik und die Organisierung eines Plenums in mehreren Städten Bosnien-Herzegowinas impliziert die Bildung, bzw. Geburt einer direkten Demokratie. Die Plenen, präsentiert als öffentlicher und gemeinsamer Raum, der offen für alle Bürger/innen ist und wo Prinzipe gelten wie z.B.: Gleichheit, Gleichberechtigung, Solidarität und Gewaltfreiheit, zeugen von  einem neuen politischen und gesellschaftlichen Subjekt in Bosnien-Herzegowina. Mit der Rückgabe der Souveränität an die Bürger/innen, die sich dieses Mal gegen die politische Kaste, von der sie vertreten werden, gestellt haben, wurde hoffentlich der weiteren Plünderung und der Verarmung der Bürger/innen ein Ende gesetzt. Die Geschichte erinnert uns daran, dass Plenen an sich die Verkörperung von Elementen einer republikanischen Form der demokratischen Idee sind.  Damals in Paris, zu Zeiten der Französischen Revolution, und kürzlich in Argentinien und Island, zeigen die Plenen oder Volksversammlungen ihre Rolle und Bedeutung in der partizipatorischen Demokratie. Die Kraft des Plenums in Bosnien-Herzegowina hat gleichzeitig lokalen und globalen Charakter. Die Bürger/innen versuchen, mit den drei großen Übeln der heutigen Welt abzurechnen, dazu gehören hauptsächlich Nationalismus,  Neoliberalismus und Primitivismus. Mit Ausrufen wie „Die Freiheit ist meine Nation“ und die an die EU gerichteter Parolen „Gebt ihnen keine Tranche, sondern eine Diagnose“ zeigen die Demonstrant/innen, dass sie die drei größten Feinde der Demokratie entlarvt haben, die seit nunmehr 20 Jahren an den Bürger/innen Bosnien-Herzegowinas herumexperimentieren. Es sind nicht die Serb/innen oder Kroat/innen oder Bosniak/innen, sondern der Nationalismus, der Neoliberalismus und der Primitivismus.

In Bosnien-Herzegowina wird 'neue Geschichte' geschrieben und in manchen Momenten scheint es so, als würde die demokratische Transition erst jetzt beginnen.  Im Gegensatz zu all den Vorjahren haben wir im politischen Feld einen Kampf, bzw. die Auseinandersetzung zwischen zwei Sichtweisen des politischen Lebens. Auf der einen Seite sind die korrupten Kasten, die ethnische und nationale Konflikte im Land produzieren und darauf ihre Politik aufbauen, während auf der anderen Seite die erwachten Bürger/innen, die hauptsächlich aus der demokratischen Ordnung gedrängt wurden, nun verlangen, dass die Politik sich mit ihnen und ihrem Leben beschäftigt.

Die Mehrheit der „einfachen Bürger/innen“ haben keine Arbeit, keine Sozial- oder Krankenversicherung, sie sind erschöpft und krank, während ihre politischen Vertreter/innen Villen und enorme Gehälter haben, einige sogar Flugzeuge und Yachten. Nachdem sich die Bürger/innen gegen die Privilegien der Kasten erhoben haben und in ihrer Wut einige Gebäude angezündet hatten, erfolgte ein politischer Autismus.  Niemand aus der Regierung wandte sich persönlich, bzw. direkt an die Bürger/innen, und das pathetische und unglaubwürdige Mitgefühl mit den Bürger/innen und die Verurteilung der 'Gewalt der Demonstrant/innen' erfolgte überwiegend über die Medien.  Dies hat in den ersten Tagen in gewisser Weise zu einem Misstrauen gegenüber den Medien geführt, hat aber auch den Charakter der politischen Kaste offenbart.  Die Regierung hat die Medien dazu benutzt, die 'Proteste zu kriminalisieren', indem sie die Demonstrant/innen in friedfertige Bürger/innen und Anarchie verbreitende Hooligans aufteilte. Aber die Anarchie im Staat hat längst Einzug gehalten, und zwar in der Verfassung BiH, Annex IV des Daytoner Friedensabkommens, der leider nicht dem doktrinären Begriff der Verfassung entspricht und weder die Kriterien noch die klassischen Funktionen einer Verfassung erfüllt. Laut bosnisch-herzegowinischer Verfassung hat nicht das Demos die Legitimationsmacht, sondern das Ethnos, so dass man auf dieses Land als einen Staat schaut, in dem alles ethnisiert wird durch die so genannte Ethno-Demokratie, die meistens von außen unterstützt wird – von den USA über die EU bis hin zu Russland. Es geht um eine 'Demokratie', die den Bürger/innen gestohlen wurde, die nur den politischen Kasten vorbehalten ist und die ständig die Menschenrechte und die Würde des Menschen verletzt. Es ist schwer, die öffentliche Regierung in BiH zu identifizieren – alle sind verantwortlich – beziehungsweise, niemand ist verantwortlich, und so wurde in dieser Gesellschaft die Privatisierung als Usurpation und Verheerung öffentlicher Ressourcen durchgeführt und der Staatsapparat von verschiedenen Gruppen für eine Anhäufung ihrer Privatvermögen und der Förderung ihrer eigenen Interessen (aus)genutzt, alles unter dem Deckmantel des angeblichen 'Schutzes vitaler nationaler Interessen'. Die Souveränität der Bürger/innen ist längst nicht mehr in deren Händen, sondern in den Händen ausgerechnet dieser politischen Kaste, die ihre Interessenstrukturen über die drei ethnisch dominanten Gruppen bildet und  einrichtet, die nahe am Staat BiH sind, wenn es gilt, dessen Ressourcen zu plündern, und die weit genug entfernt sind, den Regeln der Verantwortung eines jeden modernen Staates nicht zu unterliegen.

Die politische Kaste in BiH  - insbesondere jene, die keinen Zweifel daran lässt, dass das Daytoner Friedensabkommen ein ineffizientes demokratisches Modell  für das Land ist, hat versucht, sich die 'Energie der Demonstrant/innen' anzueignen, und so kam es Beanspruchung und Unterstützungen, was die Demonstrant/innen schnell durchschaut haben und bei den Plenen explizit deutlich machten, dass Politiker/innen unerwünscht seien.  Verschwörungstheorien, die seit langem den öffentlichen Raum in BiH gestalteten, hatten wieder an Kraft gewonnen.

In Bosnien-Herzegowina regieren die Parteien  autoritär und undemokratisch, und auf die gleiche Weise verhalten sie sich ihren Bürger/innen gegenüber, die, wenn sie auf den Straßen sind, andere Bezeichnungen bekommen. Wenn sie wählen, sind sie Serb/innen, Kroat/innen und Bosniak/innen, fordern sie jedoch ihre Rechte ein, werden sie zu Herumtreibern und Hooligans.  Auf fast allen Ebenen, von der Gemeindeebene bis hin zur Staatsebene hat die Regierung ihre Bürger/innen vor die Kapitulation gebracht. Genau dieses Verhalten hat die Bürger/innen aufgerüttelt, die nicht mehr bereit waren, die Geringschätzung ihrer menschlichen und politischen Intelligenz zu ertragen. Ungeachtet des Ausgangs des 'bosnischen Frühlings', der wahrscheinlich länger andauern wird als dies jemand zu vermuten mag, verdient der Wunsch nach Einflussnahme auf die Modernisierung des momentanen Demokratie-Modells, den Bedarf nach seiner Rekonstruktion und die Forderungen nach mehr Transparenz und Gleichberechtigung allen Respekt und Unterstützung, besonders dann, wenn wir uns eine Demokratie wünschen.

Die EU muss die unzufriedenen Bürger/innen hören und ihren Beitrag zur Überwindung des autoritären politischen Systems in BiH leisten, das die korrupte politische Kaste an der Macht erhält. An diesem Emanzipationsprozess nicht teilnehmen heißt, erneut die Augen vor BiH zu verschließen. In diesem Land sind verschiedene Antworten zu finden, die europäische Beamte für die vielen ungelösten Fragen innerhalb der EU selbst zu finden versuchen.

Die Bürger/innen, nicht nur die BiHs, sondern auch die der EU, müssen in die demokratischen Institutionen, aus denen sie rausgeworfen wurden, zurück gebracht werden, denn das Demos ist trotz allem das wichtigste Substrat einer Demokratie.