Sensationalismus und Manipulation statt objektiver Information - mediale Berichterstattung über Gerichtsverfahren

Die Medienlandschaft als Reflexion der Wirklichkeit: Warum sind die Medien überhaupt wichtig für uns?

Die Medien sehen sich in der modernen Gesellschaft und Zeit als Hauptakteur jeder Demokratie, beziehungsweise als Institution, die der Öffentlichkeit und den Bürgerinnen und Bürgern das Recht auf faire, objektive, unparteiische, ausbalancierte Informationen und eine ausreichende Menge und Qualität an Erkenntnissen über die Welt, in der wir leben, garantiert, so dass die Bürgerschaft fundierte Wahlen und Entscheidungen treffen kann. Genau aus diesem Grund werden sie neben der Exekutive, Legislative und Judikative als die vierte Gewalt (the fourth estate) bezeichnet. Ihre Schlüsselposition in der Gesellschaft ist die des Mediators, beziehungsweise des Vermittlers zwischen den anderen Elementen des gesellschaftlichen und politischen Systems (Politik, Wirtschaft usw.) und der Öffentlichkeit. Neben ihrer informativen Funktion, d.h. den Informationen darüber was, wo und wann stattfindet, haben die Medien auch eine Bildungsfunktion (Rolle der Bildung der Öffentlichkeit) sowie eine Interpretationsfunktion – sie haben die Aufgabe, Ereignisse zu kontextualisieren und der Öffentlichkeit ein „breiteres Bild“ mit dem Ziel einer besseren Orientierung zu präsentieren. Diese Kontextualisierung der Ereignisse verleiht den Medien Macht, wie Pierre Bourdieu trefflich bemerkt, indem er die Medien mit der so genannten Brillen-Metapher beschrieb: Er verglich die Medien mit einer Brille, derer wir beim durchschauen eigentlich oft nicht bewusst sind, die aber den Umfang dessen bestimmt, was wir tatsächlich sehen können.  Mit anderen Worten: Die Medien filtern bestimmte Ereignisse heraus, woraufhin ihnen die Öffentlichkeit dann Beachtung schenkt. Die Art der medialen Interpretation der Ereignisse wirkt sich dann unmittelbar auf die Wahrnehmung der Ereignisse seitens des Publikums aus.

Die Medien und die Berichterstattung über Gerichtsverfahren in BiH

Die Unabhängigkeit der Justiz und die Unabhängigkeit der Medien sind die zwei wichtigsten Indikatoren für den Grad der Demokratie und Freiheit in einer Gesellschaft. Daher ist die Interaktion dieser beiden Subsysteme (das juristische und das mediale) äußerst interessant und bedeutend für eine Analyse. Die Art und Weise, auf die die Medien über die Justiz und ihre Aktivitäten berichtet bestimmt nicht nur ihr Image in der Öffentlichkeit, sondern auch den Grad des Vertrauens, den die Bürgerschaft in ihr Justizwesen und das System hat oder eben nicht hat. Eine objektive Berichterstattung, frei von Sensationalismus und Vorurteilen und mit dem Ziel, die Bürgerschaft über die Aktivitäten der Justiz zu informieren, ist die wesentliche Aufgabe der Medien in diesem Zusammenhang.

In BiH kollidiert die mediale Berichterstattung über die Arbeit der Justiz und Gerichtsverfahren hingegen in hohem Maß mit den Standards und Postulaten dieses Berufsstands, und die Medien, die tatsächlich verantwortungsbewusst und im Interesse der Bürgerschaft, ohne Manipulationen und Sensationsgier über die Arbeit der Justiz berichten, sind eher eine Ausnahme als die Regel. Auf den ersten Blick erscheint die Tatsache, dass es in BiH unzählige Medien gibt, die zu der Illusion führen, der Bürgerschaft stünde eine Vielzahl an unterschiedlichen Informationsquellen und viele Möglichkeiten für die Vervollständigung eines Puzzles über die Arbeit der Justiz zur Verfügung, die mit der Wahrheit korrespondiert und eine Möglichkeit darstellt, dieses Untersystem zu verstehen.
Denn laut Angaben der Regulatoren und der Selbst-Regulatoren (Regulierungsbehörde für Kommunikation und Presserat) gibt es in BiH:   

  • 195 elektronische Medien: 148 Radiosender und 47 TV Sender
  • 6 Tageszeitungen
  • 184 verschiedene (wöchentlich, zweiwöchentlich und periodisch erscheinende)  Editionen, Magazine und Zeitschriften
  • 6 Nachrichtenagenturen.

Die Gesamtzahl der in diesen Medien beschäftigten Journalist/innen liegt zwischen 1574 bis 2755. Dies könnte bedeuten, dass sich eine bestimmte Zahl an Journalist/innen für die gerichtliche Berichterstattung spezialisiert, aber außer den Journalistinnen des BIRN (Balkan Investigative Reporting Network) und des CIN (Centrum für Investigativen Journalismus) kann sich die Mehrheit der Redaktionen keine Spezialisierung auf diesem (oder irgend einem anderen) Gebiet leisten. Allerdings ist nicht der Mangel an spezialisierten Journalist/innen die Ursache oder der einzige Grund dafür, dass über Gerichtsverfahren nicht professionell oder objektiv berichtet wird. Hier geht es mehr um die Strategie, Leser/innen durch Sensationalismus anzuziehen und darum, dass die Berichterstattung über Gerichtsverfahren, Entscheidungen und Urteile sich sehr gut in den dominanten Diskurs der Medien, bzw. in die so genannte Politik des Hauses, also das, was den Interessen der Eigentümer der Medien und den mit ihnen verbundenen Eliten dient, einfügt.

Zwischen Objektivität und Sensationsgier: Der Fall Radončić

Die Berichterstattung der Medien über die Festnahme Fahrudin Radončićs, Vorsitzender der Partei für eine bessere Zukunft (SBB), bekräftigt sehr direkt die These über die Kontextualisierung der Arbeit des Justizwesens im Hinblick auf die dominierende Politik der Medien, die darüber berichten. Die Festnahme Fahrudin Radončićs am 25. Januar 2016 hat ein enormes Medieninteresse hervorgerufen, und der gesamte Prozess, den die Staatsanwaltschaft BiH führte (und noch immer führt) erregte das Interesse der Öffentlichkeit.
Und während die ersten Berichte über die Festnahme noch relativ gemäßigt waren, bzw. zumeist faktografisch aufzeigten, was passiert war und wie die Verhaftung selbst verlief (wobei interessanterweise in diesem Fall keine Kameras anwesend waren, während die Öffentlichkeit bei den meisten anderen Festnahmen mit verfolgen konnte, wie die Festgenommenen in Handschellen abgeführt wurden), zeigten spätere  Interpretationen und Analysen in diesem Fall einen Mangel an Objektivität, einen hohen Grad an Voreingenommenheit, Sensationsgier und Manipulation in vielen Medien. Den Erwartungen netsprechend stellte sich die Tageszeitung „Dnevni Avaz“ auf die Seite des Angeklagten, bezeichnete den Einfall der Polizei in das Gebäude des „Dnevni Avaz“ als Attacke auf die Medienfreiheit und einen Angriff auf die Journalist/innen, und der öffentliche Diskurs wurde in Richtung Verteidigung von Fahrudin Radončić gelenkt, indem man die positiven Abschnitte seiner Biografie in den Vordergrund stellte und ihn den „Erbauer BiH´s“, den „Garanten für die Stabilität des Staates und der bosniakischen Einheit“ bezeichnete und hinzufügte, der Prozess gegen ihn sei eine „brutale politisch-rechtliche Montage“.

Damit wird der Öffentlichkeit mitgeteilt, dass die Justiz unter dem direkten Einfluss der Politik stünde, womit versucht wird, die Glaubwürdigkeit des Rechtstaates zu zerstören und somit indirekt das Gerichtsverfahren zu beeinflussen. Andererseits haben jene Medien, die einen anderen Ansatz gewählt und sich auf ihre Weise auf die Seite der Justiz geschlagen haben, taten dies (in den meisten Fällen) auch nicht im öffentlichen Interesse, sondern in den partikulären Interessen ihrer jeweiligen Eigentümer. Dabei war das Hauptinteresse, Fahrudin Radončić zu diskreditieren, vor allem durch die Veröffentlichung der Transkripte von abgehörten Gesprächen. Als das Ereignis des Tages, also die Verhaftung, dann überging in die Analyse der Medien, lenkte man den Fokus von rechtlichen auf politische Themen. Die wichtigsten Diskussionsthemen waren dabei der Fortbestand der Koalition SDA-SBB, die Art der Auswirkungen der Verhaftung Radončićs auf die politische Stabilität des Landes usw. All dies wurde ebenfalls kontextualisiert im Hinblick auf den vorherrschenden Standpunkt und den Narrativ, den jedes Medium im Vorfeld für sich gefunden hat, was jedoch unmittelbar das Recht der Öffentlichkeit auf balancierte Informationen und eine ausgewogene Berichterstattung gefährdete. Damit also der Durchschnittsbürger ein korrektes Bild über die Festnahme Radončićs, den Gerichtsprozess, die politischen Aspekte und Auswirkungen dieses Prozesses auf die bosnisch-herzegowinische Gesellschaft erhält, müsste er eine große Anzahl an verschiedenen Quellen, bzw. diverse Medien zu Rate ziehen und sich sein eigenes Bild zusammenfügen. Bei einem niedrigen Niveau der allgemeinen und medialen Kompetenzen der bh. Öffentlichkeit (auf die alle bisherigen relevanten Untersuchungen zum Thema Medienkompetenz hingewiesen haben) ist es schwer zu glauben, dass dies tatsächlich passiert.

Wie geht es weiter? Medien und Gerichtswesen – die Hebel der Demokratie

Die gelernte Lektion aus der medialen Abdeckung des „Falls Radončić“ hat einmal mehr gezeigt, dass es keine ernsthafte Berichterstattung gibt ohne ernsthafte Untersuchungen und tiefgreifende Analysen. Grundlage für eine Untersuchung muss die Unvoreingenommenheit  der Journalist/innen und der Medien sein, und natürlich das öffentliche Interesse als Ausgangspunkt. Die Methoden und Techniken zur Beschaffung von Fakten und Informationen müssen legal und legitim sein, dürfen nicht außerhalb des gesetzlichen Rahmens einer professionellen Deontologie liegen, und der journalistische Ansatz muss auf der Kraft der Argumente begründet sein. Eine Kontextualisierung und Interpretation muss auf Tatsachen, und nicht auf Spekulationen basieren und sollte vom öffentlichen Interesse gelenkt werden. Nur so können den Bürger/innen objektive, faire, korrekte Informationen garantiert und ihnen ihr Grundrecht ermöglicht werden – das Recht auf Information und die Möglichkeit einer Reflexion auf die erhaltenen Informationen aus den Medien. Sensationalismus und Manipulation müssen zu einem inakzeptablen Ansatz in den bosnisch-herzegowinischen  Medien gemacht werden, nicht nur wenn es um die Berichterstattung über das Justizwesen und Gerichtsverfahren geht, sondern im Allgemeinen.

Eine Utopie? Oder ein Weg zu einem besseren Journalismus und einer demokratischen Gesellschaft in BiH? Die Entscheidung darüber liegt bei der Mediengemeinschaft und der Bürgerschaft.

Übersetzung ins Deutsche: Alma Sukić, Büro Sarajevo der Heinrich-Böll-Stiftung