Außer Kontrolle. Der Balkan in großer Unruhe.
Der serbische Ministerpräsident Alexandar Vučić liefert nicht, wofür Berlin ihn belohnt
In keiner der fast täglichen Pressekonferenzen des serbischen Ministerpräsidenten – er liebt das Verkünden – fehlt der Hinweis, dass Serbiens Politik der Stabilisierung der Balkanregion verpflichtet sei. Pflichtschuldig wiederholen die ergebenen Minister diese Wendung, und die regierungsfreundliche Presse wird nicht müde, eine Welt von Feinden an die Wand zu malen, gegen die der Ministerpräsident die Stabilität verteidigen müsse. Gefahr, so die Boulevardpresse, drohe der Region und Serbien von den US-Yankees, der NATO, den Kroaten und natürlich den Kosovo-Albanern und immer wieder auch von einem von westlichen Mächten angefachten „Balkan Frühling“, zu dem sich die in fast allen Ländern des Balkans lauter werdenden Proteste gegen Machtmissbrauch und Korruption vereinen könnten.
Gegen alle diese Gefahren müsse der große Parteivorsitzende und Führer die Stabilität verteidigen. Interessant ist die Arbeitsteilung: Während Boulevard und radikal-nationalistische Opposition Hilfe bei den Russen suchen, bietet sich der serbische Ministerpräsident als alternativloser Garant von Stabilität im Sinne des Westens an, der die Nachkriegsordnung der Region sichert, auf dass hier kein neuer Konflikt erneut Ströme von Flüchtlingen hervorruft und die aus Afrika und Asien mit Hilfe der an den Grenzen eingesetzten Armee möglichst gestoppt werden.
Für diese Leistung sind der Westen und ganz besonders Berlin einen politischen Preis zu zahlen bereit: Annäherung an die EU, umfangreiche finanzielle Zuwendungen und Lob, ja – wie im sogenannten Berlin-Prozess geschehen - Bevorzugung gegenüber anderen Chefs der Region auf großer Bühne, und eine großzügige Haltung gegenüber Autoritarismus und Machtmissbrauch. Letztere werden in Brüssel und Berlin als unschöne Nebenerscheinungen und vorläufig einzugehende „Kompromisse“ dargestellt. Europäische Thinktanks bezeichnen Serbien und andere Balkanstaaten inzwischen als „Stabilokratien“: autoritär geführte Länder, in denen Institutionen wenig und der jeweils starke Mann fast alles bedeuten, die der Westen unterstützt, weil sie seinen geostrategischen Interessen dienen.[1]
So ist halt der Balkan. Warum sollte das nicht auch so in Serbien sein? Diese herablassende Ignoranz lässt nicht nur die zivilen Proteste im Stich, die sich im Sinne europäischer Werte gegen Autoritarismus und Machtmissbrauch zur Wehr setzen; sie übersieht zudem Entscheidendes: dass hinter der wortreichen Fassade der Verpflichtung auf Stabilität das Gegenteil betrieben wird, dass die vielen Kompromisse letztlich auf die Deligitimierung einer liberalen demokratischen Ordnung, auf das Verächtlichmachen einer schwachen EU und die Destabilisierung der Region hinauslaufen und so den Handlungsspielraum für das großserbische Projekt erweitern, das dieses Mal auf russische Unterstützung hofft. Und Moskau gibt diesen Hoffnungen beinahe täglich Nahrung.
Jugend autoritären Vorbildern zugewandt
Von Stabilität kann im Balkan zur Zeit tatsächlich keine Rede sein. Die Region ist in großer Unruhe, politische Repräsentanten in Serbien, Kroatien, Kosovos und Bosnien-Herzegowinas beschimpfen sich mit nationalistischen Parolen und suchen durch den regionalen Konflikt die nationalen Reihen zu schließen. Die gefährliche Kraftmeierei nach außen ist Ausdruck großer Schwäche im Inneren: Seit Jahren stagniert ihre Wirtschaft, weil sie von einer kleinen Schicht von Transformationsgewinnern ausgeplündert werden, eine beispiellose Deindustrialisierung durchlaufen und viele Menschen arbeitslos und arm gemacht haben; zusätzlich leiden die Länder der Region unter der Schwäche der europäischen Wirtschaft, die wenig importiert und wenig investiert.
Die EU Erweiterung, die seit der Integration von 10 neuen Mitgliedern in 2003 als effektives Instrument der demokratischen und wirtschaftlichen Transformation galt, erfüllt seit der Aufnahme von Rumänien, Bulgarien (2007) und Kroatien (2013) schon lange nicht mehr die Erwartungen an ihre transformative Kraft. Die Erweiterung der EU steht insgesamt in Frage und in den Ländern des Balkans, die Beitrittskandidaten sind oder es erst noch werden müssen, wendet sich die Jugend mehr und mehr enttäuscht anderen, autoritären Vorbildern zu. Das ist der Nährboden, auf dem die neue nationalistische Rhetorik im Balkan gedeiht und die Spannungen zunehmen, nachdem sie bis 2014 schrittweise abgenommen hatten.
Manche nationalistische Parole wird, wie in Kroatien, dem Wahlkampf geschuldet sein. Andere, wie der Präsident der Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina, sind Spieler, die schon seit jeher mit dem Lied von der bedrohten Serbenrepublik zu punkten versuchen. Im Kosovo revanchiert sich eine von der Macht ausgegrenzte Opposition mit nationalistischen Parolen gegen Serbien. Im eigenen Land führt der serbische Ministerpräsident Vučić eine Art Dauerwahlkampf, mit dem er die Opposition vernichten will und tatsächlich für seine Person breite Zustimmung mobilisiert. Nach außen präsentiert er sich jedoch eher als eine Art Präsident der Region. Während seine Minister und das Boulevard hetzen, bietet er Versöhnung an.
Alle hätten in den 90er Jahren Fehler gemacht. Da kann er sicher sein, dass niemand die ausgestreckte Hand annimmt. Die aktuelle angespannte Situation im Balkan ist aber nicht zureichend mit balkantypischer Herrschaftstechnik erklärt. Im Zentrum dieser Spannungen steht Serbien, dessen Strategie der Destabilisierung der Region im Interesse der Ausweitung des politischen Einflusses Belgrads hinter den bilateralen Konflikten sichtbar wird.
Balkantypische Rhetorik
Aktuell wird das deutlich an Serbiens Politik in Bosnien-Herzegowina. In Übereinstimmung mit den Wünschen des Westens unterstützt Serbien offiziell die staatliche Einheit Bosnien-Herzegowinas, dessen innere Spannungen und Drift durch das Dayton-Abkommen von 1995 eher eingefroren als gelöst werden. Der serbische Teil des Landes, die Republika Srbska, destabilisiert dieses fragile Gebilde fortwährend und droht mit der Abspaltung. Diese Serbenrepublik wurde noch vor dem Krieg am 9. Januar 1992 als Republik der Serbien von Bosnien-Herzegowina gegründet und anschließen durch systematische Vertreibung und Ermordung der nicht-serbischen Bewohner geschaffen. Das Dayton-Abkommen hat sie dann als weitgehend rein serbische Entität innerhalb Bosnien-Herzegowinas sanktioniert.
Diese Republika Srpska gilt den nationalistischen Serbien im ganzen Balkan als die eigentliche (und einzige) Siegeserrungenschaft, und als solche wird sie seit vielen Jahren am Tag der Republika Srpska am 9. Januar gefeiert. In diesem Jahr nahm auch der serbische Ministerpräsident an dem „Testament der Freiheit“ genannten Feierlichkeiten teil. Indessen empfinden die in den 90er Jahren Vertriebenen und die Familien der Ermordeten Nicht-Serben und die wenigen Rückkehrer diesen Tag eher als Beginn einer großen Katastrophe, als Auftakt zu Krieg, Kriegsverbrechen und bis heute anhaltender nationalistischer serbischer Häme.
Weil der Feiertag mononational ausgerichtet ist und die anderen konstituierenden Staatsvölker der Bosniaken und Kroaten außer Acht lässt, hat der Verfassungsgerichtshof Bosnien-Herzegowinas den 9. Januar als Feiertag der serbischen Entität verboten und die Suche nach einem anderen Tag angeordnet, der für alle Bürger des Landesteils akzeptabel ist. Diese Anordnung ignoriert Milorad Dodik, der Präsident der serbischen Entität – und wird darin vom serbischen Ministerpräsidenten Vučić unterstützt. Auf diese Unterstützung kommt es an. Denn Dodik und seine serbische Entität selbst sind schwach; das Land steht vor dem Bankrott, der durch serbische Ankäufe von Staatsanleihen der Entität verzögert wird. Die beiden Regierungen sind in jeder Hinsicht aufs engste verbunden.
Sie halten regelmäßig gemeinsame Kabinettssitzungen ab, führen gemeinsame Polizeiübungen durch und signalisieren: Bei der Siegeserrungenschaft Republika Srpska geht es um gemeinsames nationales Interesse. EU und Berlin halten all dies für die balkantypische Rhetorik, die sie so lange als notwendigen Kompromiss akzeptieren, so lange Belgrad Dodik unter Kontrolle halten kann, d.h. jeden Schritt in Richtung Abspaltung verhindert.
Referendum vs. Nationalfeiertag
Doch Dodik ignoriert nicht nur die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs – das haben auch die bosniakische Führung und andere Verwaltungseinheiten in bis heute 76 Fällen getan - , er organisiert zu der Frage, ob der 9. Januar weiter als Tag der Repubika Srpska gefeiert werden soll, auch ein Referendum, das die Legalität des Verfassungsgerichtshofs durch die Legitimität des ethnisch markierten Volksentscheids ersetzen soll. Die serbische Staatsführung unterstützt dieses Referendum nicht offiziell, aber sie steht zum nationalistischen, zutiefst antieuropäischen Staatsverständnis dieses „Nationalfeiertags“. Deshalb unternimmt sie auch nichts dagegen.
Die Mittel und den engen Kontakt dafür hat sie ohne Zweifel. Also wird das Referendum am 25. September stattfinden und voraussichtlich mit großer Mehrheit entscheiden, dass die serbische Entität für Serben da ist und nicht für alle Menschen, die auf ihrem Gebiet leben. Mit dem Referendum wollen Dodik und, so muss angenommen weden, auch Vučić zwei Dinge erreichen: Die Existenzberechtigung der Republika Srpska soll außerhalb der Nachkriegsordnung des Dayton-Abkommens bekäftigt und das fragile Gefüge des Gesamtstaats Bosnien-Herzegowina weiter geschwächt werden. So sieht das auch eine Initiative jüngerer Menschen, die in diesen Tagen zu einer Demonstration gegen die Belgrader Führung aufruft.
Die westlichen Garantiemächte dieses Gesamtstaates werden das Referendum, das sie ablehnen, nicht anerkennen. Ihnen fehlen jedoch die Mittel, es zu verhindern. Russland hingegen hat schon signalisiert, dass es das Referendum anerkennen wird. Damit wird der Boden bereitet für ein weiteres Referendum über die Abspaltung der serbischen Entität aus Bosnien-Herzegowina, das Dodik bereits für 2018 in Aussicht gestellt hat. Und der Westen, allen voran die EU Kommission und Berlin, werden weiter darauf setzen, dass es Belgrad so weit nicht kommen lässt, obwohl die serbische Politik schon den nächsten Schritt zur Destabilisierung eingeleitet hat. Und sie werden dafür einen noch höheren Preis zu zahlen bereit sein.
Strategie der serbischen Führung
Kurzfristig mag es Dodik um mehr Zuschüsse der EU und internationale Kredite für sein Land gehen, das er und seine Freunde – so lassen Ermittlungen der bosnischen Sonderpolizei Sipa vermuten – nach Kräften ausplündern. Dodik ist auch nicht das Problem. Er will politisch überleben und ist pragmatisch.[2] Hier wird vielmehr die Strategie der serbischen Politik in Belgrad sichtbar. Die ist das Problem, weil sie dem Westen Stabilisierung verspricht, während sie die Region durch die fortwährende Verletzung von Absprachen, Verträgen und Institutionen destabilisiert, um ihr großserbisches Projekt im Spiel zu halten. Und der Westen belohnt das, indem er der serbischen Staatsführung ein ums andere Mal entgegenkommt.
Ganz besonders die deutsche Außenpolitik und die Europapolitik des Kanzleramts setzen auf Vučić als Garanten einer stabilen Region, die im Einflussbereich von EU und NATO bleiben soll. Was aus Sicht des Kanzleramts wie ein Kompromiss aussieht – Vučić verspricht Stabilität, darf dafür den Rechtsstaat mit Füßen treten und wird dafür werbewirksam mit der Eröffnung der EU-Beitrittsverhandlungen über Rechtsstaatlichkeit belohnt – dürfte in Wirklichkeit Teil einer langfristigen Strategie der serbischen Führung sein, die wie in Bosnien-Herzegowina durch solche Kompromisse und fortgesetzte Regelverletzungen die seit Ende der Milošević-Diktatur erreichte Nachriegsordnung und Demokratisierung Serbiens delegitimieren will. Dem Ansehen Deutschlands in Serbien schadet das nicht.
Die serbische Führung und der Boulevard betrachtet Deutschland als europäischen Hegemon. Und might is right. Aber die EU tut sich mit dieser Art Appeasement keinen Gefallen, und dem Land schadet sie damit. Beinahe täglich reden serbische Politiker verächtlich über eine EU, die sie unter Zeitdruck setzen, mit Russland erpressen und der sie am Ende einen Kompromiss nach dem anderen abringen. Auch passt es ihnen ganz gut, dass das Ansehen der EU in Serbien stetig zurückgeht.
Für einen Beitritt Serbiens sprechen sich aktuell zwischen 60 bis 40 Prozent der Menschen aus- je nach politischer Großwetterlage und ob der Beitritt zur EU auch die Anerkennung der Nachkriegsordnung, ein unabhängiges Kosovo und die Anerkennung und Verfolgung von serbischen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bedeutet. 80 Prozent sind gegen eine EU-Mitgliedschaft, wenn sie mit dem Verzicht auf Kosovo verbunden wären. Am geringsten ist der Zuspruch zur EU unter der jungen Generation. Die spricht sich mittlerweile mehrheitlich für das „russische Modell“ aus und will die Krim als Teil Russlands anerkennen. Nur den westlichen Konsum und die Visafreiheit mag sie nicht missen.
1 Return to instability: How migration and great power politics threaten the Western Balkans, by Francisco de Borja Lasheras, with Vessela Tcherneva and Fredrik Wesslau - 21st March, 2016 (European Council on Foreign Relations, London)
2 James Ker-Lindsay, The False Threat of Secession in Bosnia. The simple truth is that the Republika Srpska cannot and will not become independent. Balkan Insight, May 4, 2016.