Nur wenn aufgeklärte Bürger verstehen, dass sie Rechte haben und diese auch nutzen können und müssen, um ein System zum Besseren zu verändern, kann sich auch etwas bewegen.
Interview.ba: Marion, nach fast sechs Jahren bei der Heinrich-Böll-Stiftung verlassen Sie BiH, um sich anderen Aufgaben zu widmen. Was war die größte Herausforderung für Sie in der Zeit in BiH?
Die größte Herausforderung war, die drängendsten Probleme erst einmal sichtbar zu machen: Die alarmierende Luftbelastung in mehreren Städten Bosniens, die zu den höchsten Werten weltweit gehört, wurde von der Politik nahezu komplett ignoriert. Einer unserer Partner, Eko Akcija, hat dann eine App entwickelt, mit der das Ausmaß ersichtlich wird. Anschließend haben wir mit unseren Partnern Aufklärung betrieben und kommuniziert, dass es ein Menschenrecht auf saubere Luft gibt. Dies ist den meisten in BiH nicht bewusst. Oder ein anderes Beispiel: Die groben Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierungen, die vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg verhandelt wurden und die deutlich gemacht haben: Es ist nicht mit universellen Werten vereinbar, dass einige ethnische Gruppen das staatliche System dominieren und andere marginalisiert und ausgeschlossen werden, wie die Gruppe der sogenannten ostali, der anderen. Roma und Juden mit eingeschlossen. Dass dies krasse Normverletzungen sind, die in einem modernen Gemeinwesen im 21. Jahrhundert nichts verloren haben, muss erst erklärt werden. Bosniens Bürger werden auf Tagesbasis von den politischen „Eliten“ manipuliert und haben sich an diese Ungeheuerlichkeiten gewöhnt, so dass der Ausnahmezustand mit Verletzungen von Menschen- und Individualrechten als „normal“ gilt. Nur wenn aufgeklärte Bürger verstehen, dass sie Rechte haben und diese auch nutzen können und müssen, um ein System zum Besseren zu verändern, kann sich auch etwas bewegen. Dies denke ich, ist die größte Herausforderung für uns als grüne Stiftung; daran mitzuwirken, dass sich ein aktives Bürgerbewusstsein herausbilden kann. Um mit Heinrich Böll zu sprechen: Damit sich die Bürger als „Homo politikus“ begreifen und aktiv für ihre Rechte eintreten.
Interview.ba: Eine Ihrer letzten Aktivitäten als Leiterin des hbs Büros war die Vorbereitung und Veröffentlichung einer Publikation zum Thema „25 Jahre Daytoner Friedensabkommen“. Wie denken Sie über das Abkommen, sollte es geändert werden, oder würde jede Änderung die Lage in BiH zusätzlich destabilisieren?
Erst einmal ist das Dayton-Abkommen ein wichtiges Dokument gewesen, um den Krieg zu beenden. Der Preis für diese Kompromisslösung war jedoch hoch: Mit der Schaffung der RS wurden die dort stattgefundenen Verbrechen festgeschrieben und somit quasi legitimiert. Zudem wurde ein Labyrinth an Diskriminierungen und Unrecht geschaffen, das es nun abzumildern gilt. Die Fälle, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt hat - Sejdic/Finci, Pilav, Zornic, u.a. - zeigen alle auf: Das aktuelle bosnische Verfassungssystem entspricht nicht europäischen Rechtsstandards, dies muss dringend geändert werden. Die Implementierung muss für die Internationale Gemeinschaft nun absolute Priorität haben, es kann nicht sein, dass derart fundamentale Urteilssprüche einfach nicht umgesetzt werden, nur weil HDZ, SDA und SNSD nichts vom großen Kuchen abgeben wollen. Die EU muss hier nun endlich aktiv werden und Druck aufbauen: Ein Staat ist kein Selbstbedienungsladen für nationalistische Parteien, ihre Günstlinge und Verwandte. Ein Staat muss für alle Bürger/innen die gleichen Rechte und Möglichkeiten schaffen, das ist die Hauptaufgabe. Wenn das geklärt ist, haben wir eine wichtige Grundlage geschaffen, um das bosnische politische System aus der Dauerkrise heraus zu katapultieren. Die Agenden von Milorad Dodik und Dragan Čović gehen genau in die entgegengesetzte Richtung. Der alles dominierende Ethnonationalismus muss gestoppt werden und nicht weiter vertieft werden. Die EU-Delegation in Bosnien sollte aufpassen, dass sie hier nicht falschen Narrativen – etwa der eines vermeintlichen Opferdaseins der Kroaten - unterliegt.
Fest steht: Die Dominanz des ethnischen Prinzipes ist das Grundübel für die Dauerkrise, die es nun endlich zu beenden gilt. 25 Jahre nach Ende des Krieges haben die Bürger/innen in Bosnien, egal welcher nationalen oder religiösen Gruppe oder welcher sexuellen Ausrichtung, das Anrecht darauf, dass es hier nun mit nachhaltiger Reformdynamik weiter geht. Es ist nicht von ungefähr, dass im Deutschen Grundgesetz folgender Leitgedanke ganz am Anfang steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist ein fundamental wichtiger Verfassungsgrundsatz, es geht um den Menschen, nicht um eine Partei, eine nationalistische Strömung, einen Clan.
Das Individuum, und das hat auch Heinrich Böll in seinen Werken immer wieder herausgearbeitet, muss in den Mittelpunkt gerückt werden. Das Individuum samt seiner Rechte ist geradezu abgeschafft worden, da es aufgrund der Dayton-Verfassung auf ethnische Kollektive reduziert wurde. Der Verfassungsrechtler Prof. Nedim Ademovic stellt dazu fest, dass die Unterhändler damals, im Herbst 1995, bedauerlicherweise nicht an die Zukunft des Staates gedacht haben, als sie dieses Dayton-System schufen. Und genau das muss nun gemacht werden: Die Idee eines demokratischen, anti-diskriminatorischen, Europäischen und friedlicheren Bosniens muss ins Zentrum aller Bemühungen der Internationalen Akteure gestellt werden. Die Agenden der 90er Jahre müssen wir zu einem Ende bringen.
Interview.ba: BiH ist, wie viele Intellektuelle sagen, ein “captured state.” Wer hält ihn gefangen? Seine Politiker/innen, Ethno-Nationalist/innen, Kriminelle oder jemand anderes? Und wo sind die Bürger/innen?
In der Tat ist es ein gekapertes System, in dem die politischen Eliten nahezu jeden Winkel des Staates für sich okkupiert haben und dort ihren Einfluss ausspielen, wir haben dies zuletzt im Richterrat gesehen. Mit gekaperten Institutionen kann man sprichwörtlich keinen Staat machen, es existiert im Grunde derzeit der brutale Urzustand, wie ihn Thomas Hobbes beschreibt, in dem politisches Chaos und Anarchie herrscht, weil die nationalistischen Parteien sich das nehmen, was sie wollen. Die Bürgerin und der Bürger sind in diesem System marginalisiert, sie dürfen noch nicht einmal, wie etwa Azra Zornić, für bestimmte Ämter kandidieren. Wenn ich diese „bosnischen Realitäten“ mitunter Politikern oder Kollegen in Berlin oder Brüssel erkläre, können sie es kaum glauben, so absurd erscheint ihnen diese Tatsache. Groteskerweise ist auch ein EU-Mitgliedsland wie Kroatien daran beteiligt, offen gegen das Bürgerprinzip zu agitieren - damit trägt ein EU-Mitglied direkt dazu bei, dass wir hier prähistorisches Unrecht beibehalten. Dazu sollte es nun, 25 Jahre nach Kriegsende, einen kritischen Austausch zwischen Brüssel und Zagreb geben und sämtliche Interventionen von außen beendet werden.
Der Bürgerstaat ist der Grundpfeiler der Demokratie, auch der EU. Wer offen sagt, er ist dagegen, ist klarerweise gegen eine Befriedung Bosniens und Herzegowinas. Das muss auch klar so benannt werden. Stattdessen sehen wir bedauerlicherweise, dass auch die Internationalen Akteure die Bürger/innen als politische Subjekte mitunter ignorieren, ihre Wirkungsräume einschränken, wir nennen das „shrinking spaces“ für zivile Akteure. Das beste Beispiel war der „Dirty Deal“ von Mostar, mit dem die EU-Delegation dazu beigetragen hat, dass auf intransparente Weise ein Abkommen zwischen zwei extremistischen Parteien geschlossen wurde, der Bürgerwille aber weitestgehend ignoriert wurde. Daher haben wir auf einem von Heinrich Böll organisierten Bürgerforum der Zivilgesellschaft und der Opposition die Möglichkeit zum Austausch gegeben. Die Kritik an der EU war deutlich: Bürger/innen und Reformkräfte wollen keine Doppelstandards, keine seltsamen Versuche internationaler Akteure, sie seien keine „Laborratten“, wie es Sabina Čudić jüngst plakativ formuliert hat. Die BürgerInnen Bosniens wollen die gleichen Standards, die auch in der EU herrschen. Das heißt vor allem Gleichberechtigung, Bürgerrechte, Menschenrechte. Und eben keine Standards, die es nirgendwo auf der Welt gibt, wie ein „legitimes Repräsentationsrecht“ für nur eine Partei, wie es die HDZ BiH propagiert.
Diese Kritik der Bürger/innen sollten EU-Delegation und EU-Kommission ernst nehmen, andernfalls tragen ausgerechnet sie zu einer weiteren Stützung korrumpierter nationalistischer Akteure bei – und befördern den ohnehin alarmierenden Massenexodus aus Bosnien. Dann aber sind sie nicht Teil einer Lösung, sondern Teil des Problems. Wie die Analystin Tanja Topić jüngst auf einer Böll-Veranstaltung zu Dayton richtig analysierte: Es gibt offenbar eine Balkanisierung der Internationalen Akteure in BiH. Eigentlich sollte ihr Ziel die Demokratisierung sein.
Interview.ba: Bei Ihren öffentlichen Auftritten haben Sie oft gesagt, dass die Hauptschuldigen für den bosnischen Status Quo die „vorherrschenden Narrative“ seien. Um welche Art von Narrativen geht es dabei?
In der Tat ist das politische System Bosniens voll mit manipulierenden Narrativen: Jede Gruppe der konstitutiven Völker beansprucht bestimmte Narrative für sich – und alle wollen sie Opfer sein. Dass vor allem Serben und Kroaten insbesondere auch Täter waren, kommt in diesen Erzählungen nicht vor. So negieren die Serben den Genozid in Srebrenica. Hier müsste es dringend ein Gesetz geben, dass diese Negierung verbietet, da die Leugnung die Grundlage für neue Verbrechen schafft.
Die Kroaten negieren die Tatsache, dass das sogenannte Projekt Herzeg-Bosna ebenfalls ein Projekt systematischer Kriegsverbrechen war. Das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag hat für die Masterminds wie Praljak und Co insgesamt Haftstrafen von 111 Jahren Haft verhängt. Dass die unsägliche Herzeg-Bosna-Flagge heute überall in den kroatisch-dominierten Gebieten, etwa im Westen Mostars, weht, müsste – genau wie die Genozidleugnung - ebenfalls verboten werden. Auch sollten öffentliche Auszeichnungen und Verehrungen von Kriegsverbrechern jeglicher Art unter Strafe gestellt werden.
Die falschen Narrative sind schuld daran, dass aus Mördern und Vergewaltigern Helden gezimmert werden. Die Ermordung, die systematische Vergewaltigung und Vertreibung von Menschen sind allerdings alles andere als Heldentaten, sie sind Verbrechen. Entsprechend sind Karadžić, Mladić, Praljak, Boban und andere keine Helden, sie sind Verbrecher, die die schlimmsten Gräueltaten auf europäischem Boden nach Ende des Zweiten Weltkrieges zu verantworten haben.
Dies alles gehört in die Geschichtsbücher aller Schulen in Bosnien und Herzegowina.
Deutschland hatte nach der NS-Zeit nur eine Chance, sich zu einem demokratischen Gemeinwesen zu entwickeln, weil die Alliierten uns gezwungen haben, sich mit den im Krieg begangenen Verbrechen – etwa unserer Großväter – auseinander zu setzen. Ich habe das in der Schule gelernt, wie ganze Generationen von deutschen Schülern auch. Und ein solch aufklärerischer Ansatz muss im Bildungswesen Bosniens ebenfalls verankert werden. Ein Verbrechen ist ein Verbrechen – da spielt es keine Rolle, ob irgendein Verwandter daran beteiligt war. Ich etwa fand die Fotos in meinen Geschichtsbüchern von Holocaust-Opfern, den ausgemergelten Gestalten in den KZ´s, so grauenhaft, dass ich dazu im Grunde seither immer gearbeitet habe, als Journalistin und Publizistin für das deutsche ARD-Fernsehen, für den Spiegel und jetzt für die Heinrich-Böll-Stiftung. Das ist ein Thema, das ich auch meinen Kindern mit auf den Weg gebe: Wir/die Deutschen haben im Zweiten Weltkrieg eine unmessbare Schuld auf uns geladen. Eltern müssen der jungen Generation eine kritische Distanz zu historischen Entwicklungen nahebringen. Leider ist in BiH in den letzten 25 Jahren dazu nichts erreicht worden. Daher wäre dies nun für die Internationale Gemeinschaft eine dringliche Priorität, hier entscheidende Korrektive auf den Weg zu bringen. Ohne die eigentlichen Verbrechen der Balkankriege aufzuarbeiten, ohne Taten und Täter klar zu benennen, wird es keine Aussöhnung, keinen dauerhaften Frieden geben. Hier müssen auch die Familien in Bosnien anfangen, ihre Verehrung für die „eigenen Täter“ aufzugeben. Wer möchte, dass seine Kinder lernen, dass Mörder und Vergewaltiger Helden sind, nur weil sie vermeintlich die eigene ethnische Sache befördert haben? Damit legt man den Grundstein für eine neue Generation von radikalen Nationalisten.
Interview.ba: Es ist offensichtlich, dass die Politik, aber auch die Narrative in BiH die ganze Zeit von Männern beherrscht wird, die in ihren Parteien, aber auch in den Machtpositionen dominieren. Wären mehr Frauen an der Macht eine Lösung? Hat BiH seine Angela Merkel?
Das politische System in Bosnien wird dominiert von zweifelhaften Akteuren mit zweifelhaften Agenden, die im Grunde die zerstörerischen Politiken der neunziger Jahre eines Groß-Kroatiens und Groß-Serbiens, eines Franjo Tudjman und eines Slobodan Milošević - wir erinnern an das historische Treffen von Karadjordjevo, bei dem die beiden Bosnien unter sich aufteilten – weiterleben. Mit diesen Agenden halten Zagreb und Belgrad Bosnien de facto in Geiselhaft, um sich als Staat weiter entwickeln zu können. Im Innern ist es ein stark männerdominiertes, patriarchales System, das aus Verbrechern Helden zimmert, um an der Macht zu bleiben, statt Verantwortung für alle Bürger/innen zu übernehmen. Verstehen wir Politik als ein Mittel zur Lösung ökonomischer, wirtschaftlicher und ökologischer Probleme, dann müssen wir feststellen, dass es in Bosnien zwar bestimmte Akteure gibt, die aber ihre Arbeit als Politiker gar nicht ausüben. Es gibt keinerlei politischen Gestaltungswillen, deswegen ist Bosnien auch in etlichen Bereichen schlechter aufgestellt als klassische Entwicklungsländer (etwa beim Umweltschutz, wo Bosnien zuletzt zwischen Barbados und dem Libanon lag[1]), bei der Inklusion von Frauen und bei Fragen von Gleichberechtigung, bei der Wirtschaftsleistung.
Es gibt weltweit Studien darüber, dass Friedensprozesse, bei denen Frauen eingebunden sind, dauerhaftere und nachaltigere Ergebnisse liefern. In der Pandemie hat sich gezeigt, dass jene Staaten besser mit der Corona-Bedrohung umgehen, die von Frauen regiert werden. Wie etwa Angela Merkel in Deutschland.
Frauen sind nicht die besseren Menschen, aber sie arbeiten eher zum Gemeinwohl aller. Das sehen wir auch in Bosnien: Dort, wo sich Menschen für mehr Umweltschutz, für Gleichberechtigung, für demokratische Reformen einsetzen, sind Frauen überrepräsentiert, in der Zivilgesellschaft. Die mutigen Frauen von Kruščica etwa, die sich gegen ein dubioses Wasserkraftwerk zur Wehr setzten, die Publizistin Štefica Galić, die sich in Mostar dem Nationalismus und offener Geschichtsklitterung nicht beugen will, Irma Baralija, die die skandalöse Nicht-Abhaltung von Wahlen durch SDA und HDZ in Mostar nach Straßburg trug, Sanela Klarić und Nasiha Pozder, die dazu beitragen, dass es ökologische, nachhaltigere Politik-Ansätze gibt, die es vorher so nicht gab. Und schließlich auch die Mutter von David Dragičević, die es nicht zulassen wollte, dass ein Menschenleben einfach ausgelöscht wird, weil es einer kriminellen Clique gerade so passt. All diese Frauen zeigen, dass Frauen ein Reformmotor sind, weltweit. In Bosnien ist sich die Mehrheit der Frauen dieser Kraft freilich noch nicht bewusst. Das ist etwas, was sich noch ausbilden muss und wozu unsere Stiftung arbeitet.
Interview.ba: Die letzten Angriffe auf zwei Frauen, die sich getraut haben, auf der politischen Bühne anders aufzutreten (Baralija und Čavar) zeigen, wie es Frauen ergeht, die ihre Stimme erheben. Die Gewaltzunahme gegenüber Frauen ist ebenfalls ein offensichtliches Problem in dieser Gesellschaft. Warum sind die Frauen heutzutage so entrechtet und marginalisiert, sowohl im wirtschaftlichen als auch im ökonomischen Sinne?
Gewalt gegen Frauen ist ein weit verbreitetes Problem auf dem Balkan, über das viele gerne schweigen. Nach einer OSZE Studie haben mehr als 50 Prozent der Frauen und Mädchen Gewalt erfahren, das ist eine alarmierende Zahl. Gewalt beinhaltet aber nicht nur physische, sondern auch psychische Gewalt. Die verbalen Angriffe auf die beiden Politikerinnen aus Mostar haben gezeigt, dass Frauen als eigenständige politische Akteurinnen nicht akzeptiert werden. Tag für Tag machen Männer in Bosniens Politik entweder gar nichts für die Allgemeinheit oder schaden durch Korruption und Ausbeutung dem ganzen System – darüber wird keinerlei kritische Debatte geführt. Wenn aber zwei Frauen politische Entscheidungen treffen, die nicht in das Muster von Korruption und Korrumpierbarkeit passen, werden sie öffentlich an den Pranger gestellt. Das zeigt einmal mehr, dass es hier dringend einen Wandel geben muss. Das ethnonationalistische Konzept muss durchbrochen werden, das haben wir jüngst auch in einer Publikation „25 Jahre nach Dayton – Wege zu einem demokratischen und prosperierenden BiH“[2] mit mehreren hochkarätigen Autor/innen gefordert, mit dabei unser Böll-Vorstand Ellen Ueberschär, der ehemalige Hohe Repräsentant Prof. Christian Schwarz-Schilling, Prof. Jens Woelk und Manuel Sarrazin, Grünen-Abgeordneter des Bundestatages. Es ist evident, dass das derzeitige ethnische Konzept, zusammen mit dem patriarchalischen System, einen ausufernden state capture befördert. Und damit die Plünderung der staatlichen Ressourcen und Geldtöpfe.
Bedauerlicherweise ist im Bewusstsein der politischen Männerbünde in BiH noch nicht angekommen, dass das System nicht ihnen gehört und man im 21. Jahrhundert nicht einfach nach Gutdünken handeln, bedrohen oder erpressen kann. Das sind Ansätze des Feudalismus aus dem Mittelalter. Hier bedarf es dringender Korrekturen, auch seitens der Internationalen Gemeinschaft. Die internationalen Akteure sollten anfangen, endlich jene Kräfte zu stützen, die Tag für Tag an einer Demokratisierung arbeiten und Menschenrechte einfordern. Bislang fehlt es an einer strategischen Unterstützung – sei es reformwilliger Politiker/innen, sei es ziviler Akteur/innen.
Die Heinrich Böll Stiftung etwa organisierte jüngst eine Veranstaltung[3], auf der wir mit vier interessanten Frauen über Zukunftsvisionen für BiH gesprochen haben – und es war evident, dass diese Frauen das Zeug haben, das Land nach vorne zu bringen. Eine zielgerichtete Unterstützung von Frauen sollten aber auch Frauen untereinander lernen. In Bosnien fehlt unter den Frauen ein Stück weit Solidarität. Daher gibt es keine landesweite Frauenbewegung, das muss sich dringend ändern. Wenn sich Frauen – sie sind die stärkste gesellschaftliche Gruppe mit rund 50 Prozent - ihrer Macht bewusst werden, können Frauen in der Politik viel wirkungsmächtiger agieren – und das politische System wäre ein anderes.
Interview.ba: Sie waren jahrelang Teil der internationalen Szene in BiH. Wie ist die Rolle der internationalen Gemeinschaft, und wie sollte sie sein?
Die Internationale Gemeinschaft hat 2005/6 einen entscheidenden Fehler begangen und das Prinzip des local ownership eingeführt. Das mag eine nette Idee sein, wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind. Im Falle von Bosnien war diese Übertragung der Zuständigkeiten auf lokale Politiker zu früh. Das Projekt ist gescheitert und hat BiH um Jahre zurückgeworfen, indem es einer Totalparalyse ausgesetzt ist. Seien wir ehrlich: Die einzigen maßgeblichen Reformen zum state- und nationbuilding haben die Hohen Repräsentanten auf den Weg gebracht, die politischen Eliten haben sich bislang entscheidenden Reformschritten verweigert. Deswegen steht Bosnien auch als Schlusslicht in der Region da, wenn es um die EU-Integration geht. Local ownership setzt voraus, dass wir verantwortungsvolle Politiker haben, die das Gemeinwohl in den Vordergrund stellen, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind und ein Land weiter entwickeln wollen. Die traurige bosnische Realität ist die, dass die politischen Akteure, allen voran Milorad Dodik und Dragan Čović den Staat zerstören wollen. Zusammen mit Bakir Izetbegovics SDA existieren drei große Blöcke, die das Land in Einflusssphären aufteilen und kaum Sachpolitik betreiben – es geht immer nur um ethnopolitische Machtspiele, um Machterhalt, um Destruktion - die großen Potenziale Bosniens werden dagegen kaum genutzt.
Ich würde mir wünschen, dass die Internationale Gemeinschaft dies erkennt und danach handelt. Statt dessen geht sie diesen Manipulatoren immer wieder auf den Leim. Das jüngste Beispiel dafür war der Mostar-Deal, mit dem die EU-Delegation gezeigt hat, dass sie die Spielchen der nationalistischen Kräfte offenbar nicht durchschaut und diesen Tricksereien nachgibt.
Das Ergebnis ist verheerend: Zwar hat man Wahlen abgehalten, aber in diesem korrumpierten System sind Wahlen eben nicht das, was sie in anderen Ländern sind. Die EU hat mit diesem fragwürdigen „Agreement“ die Nationalisten weiter hofiert und legitimiert, der Bürgerwille blieb auf der Strecke. Die größte Gefahr ist nun die seitens der HDZ geforderte Änderung des Wahlgesetzes. Wenn die EU-Delegation das zulässt, was da im Raum steht – nämlich die Festschreibung der Einflusszone einer einzigen Partei - wird im Grunde genau das gemacht, was laut der Venedig-Kommission eigentlich eben nicht gemacht werden sollte: Die ethnische Teilung Bosniens weiter zu vertiefen. Wer Demokratisierung für Bosnien will, der kann dem nicht nachgeben. Nach Einschätzung renommierter Verfassungsexperten wie etwa Prof. Jens Woelk, sollten prioritär ohnehin erst die anstehenden Verfassungsänderungen (Sejdic/Finci und andere) auf den Weg gebracht werden, um seit Jahren ausstehende Straßburg-Urteile endlich umzusetzen. In diesem Rahmen könnte man dann auch die Änderungen des Wahlgesetzes moderat und EU-konform angehen. Das wäre eine vernünftige Lösung. Alles andere hieße, eine Normalisierung und Demokratisierung Bosniens dauerhaft zu verspielen.
Marion Kraske, Politische Analystin und Balkanexpertin (2015-2021 Leiterin des hbs-Büros Sarajevo)