Nicht Dämon, nicht Märtyrer, sondern Mensch

Autorentext

In den letzten Jahrzehnten konnten wir uns etliche Male davon überzeugen, dass ein- und dasselbe Gesicht gleichzeitig Fahndungsfoto und Ikonenbild am Altar sein kann. Wie entsteht dieses Trugbild? Der Doppelbildeffekt hängt von dem Blickwinkel und der Entfernung des Beobachters ab: Kommen wir dem Bild nahe genug und beobachten es von unten, sehen wir das eine, entfernen wir uns aber und beobachten es von oben, sehen wir etwas ganz anderes. Unser Mörder ist sodann ein Held, ein Beschützer, ein Märtyrer. Deren Mörder ist ein Bösewicht, Satrap, Dämon.

Einen Kriegsverbrecher in auch nur eine der genannten Kategorien einzuordnen ist gleichermaßen gefährlich, denn dieser feine Überschuss verwandelt ihn in einen Übermenschen, bringt ihn in die Sphären des Mythos und macht ihn unantastbar. Weder den Dämon noch den  Märtyrer kann man richten, einsperren, zur Verantwortung ziehen. Er schlüpft durch die Finger der Gerechtigkeit und schleicht sich  durch die Gefängnismauern geradeswegs in die Familien- und Gotteshäuser auf die Gebete und Verwünschungen flüsternden Lippen. Führen wir ihn daher lieber auf das menschliche Maß zurück, geben wir zu, dass er – so wie wir – Mensch ist.

Ein inkontinenter Greis, ein plumper Regisseur des billigen Melodrams – hier werden schon die Umrisse eines menschlichen Wesens sichtbar. Wir könnten sie uns als Protagonisten eines Romans oder gar eines Vaudevilles, als Unvollkommene, Glaubwürdige und Wirkliche vorstellen. Verwerfen wir das Syntagma undenkbarer Verbrechen und Grausamkeiten, verstehen wir endlich, dass es keine Grausamkeit gibt, die sich der Mensch in seiner kurzen Bestehensgeschichte nicht erdacht und auch nicht verwirklicht hätte! Warum ist es so schwer, warum weigert sich unser Verstand, diese Mörder-Heiligen in unsere menschliche Gesellschaft aufzunehmen?  

Weil wir fest davon überzeugt sind, dass der Verbrecher immer jemand anderer ist, einer, der sich stark von uns unterscheidet. Seine Untaten könnten wir niemals begehen. Wir sind weder das Unheil noch das Gräuel und können es auch nicht sein. Wir genießen unser positives Selbstbild, obwohl uns die Erfahrung widerlegt und die Bücher uns schon seit der Bibel anderes lehren. Kain gehört verurteilt, weil er seinen Bruder tötete. Obwohl Gott unzählige Strafen über ihn verhängen könnte,  tötet er ihn nicht wie manch andere Sündiger, sondern versieht ihn mit einem Mal,  das ihn vor Rache schützen soll. Gott verbietet, Kain zu töten und lässt ihn am Leben, als Erinnerung daran, dass er nur ein Mensch ist. Diese biblische Erzählung sagt uns, dass auch wir Brudermörder sind, und die Geschichte fügt hinzu, dass wir auch Vergewaltiger und Quäler und Schlächter sind. Oder zumindest stille Mittäter und Zuschauer. Und das dürfen wir nie und unter keinen Umständen vergessen. 

Deswegen muss man Krieg und Verbrechen immer wieder ansprechen, ständig nach neuen Wegen suchen, sich ins Gedächtnis zu rufen, was man alles anzurichten vermag. „Wir wissen, was der Mensch anrichten kann, traut dem Frieden nicht“, schreibt Heinrich Böll 1959 und sein Gedanke büßt leider nichts an Aktualität ein. In Friedenszeiten  wiegen wir uns zu schnell in Sicherheit, glauben an das bessere Bild von uns und vergessen seine Kehrseite. Dabei ist der Frieden unvorstellbar zerbrechlich und porös. Wahrhaftig, die Jugend soll über das Geschehene lernen, und die Verbrechen dürfen nicht in Vergessenheit geraten, obwohl sie sich ständig wiederholen werden. Doch die Erinnerung darf weder ein kollektiver Ipsismus über dem eigenen Leid noch ein narzisstischer Genuss der Selbstviktimisierung sein. Die Opferrolle ist angenehm, denn ungeachtet unserer Taten  ordnet sie uns für immer und ewig den Gerechten zu. Allen unseren zukünftigen Handlungen verleiht sie Legitimität und entbindet uns der Verantwortung, denn immer ist das, was sie uns angetan haben, unvergleichbar grausamer. Man soll sich der Verbrechen erinnern, um sich selbst  bewusst zu machen, was man anderen anzutun fähig ist, und nicht, um über das eigene Leid zu lamentieren.  Die Verfolgungsfähigkeit ist nicht für andere reserviert. In jedem von uns schläft ein Faschist. Der Satz sie müssen alle getötet werden fließt uns leichter von den Lippen, als wir es wahrhaben wollen. 

Heinrich Böll warnt ganz klar davor, dass die Kriterien  für die Verfolgung einer Gruppe willkürlich sind. Er sagt: „Das, was den Juden geschah, kann jeder beliebig eingestuften Menschengruppe geschehen.“ Psychoanalytiker würden sagen, der Feind sei eine Projektion unserer tiefsten Ängste, die ihm Körper und Gestalt verleihen. Sie ist die Leinwand, auf der wir unsere Empfindungen darstellen. Wie die Auswahl getroffen wird und wem die finsteren Eigenschaften zugeschrieben werden, ist ziemlich egal. Die Geschichte zeigt, dass ethnische und nationale Kriterien  erprobte Rezepte sind. Man könnte meinen, dass sich dieses Konzept nach einer Massenverwendung abnutzt, es sind ihm jedoch keine Ermüdungserscheinungen anzusehen. Wie wird also ein erstklassiger Feind und eine unüberbrückbare Kluft zwischen „wir“ und „sie“ erzeugt?  

Der wichtigste Schritt ist die Erzeugung dieses Unterschiedes, um eine massenweise Verfolgung oder Ausrottung zu organisieren. Am wichtigsten ist es, eine Gruppe auszuwählen und ihr das Feind-Etikett aufzukleben, der Rest läuft dann reibungslos. Am interessantesten erscheint es aber, dass die Argumentation, mit welcher jemand zum Feind erklärt wird, gar nicht besonders glaubhaft sein muss (sie haben braune Augen, einen größeren Kopfumfang, eine beschnittene Eichel, sie beten anders, lassen sich Koteletten und einen Bart wachsen). Es ist nur wichtig, die Ängste und Schwächen der Menschen anzusprechen, sie gären und sie als Hass und Zorn oder zumindest als zynische Gleichgültigkeit auf die Oberfläche quellen zu lassen. Wir finden immer ein Kriterium, nach dem wir uns mit den einen identifizieren und solidarisieren und uns von den anderen unterscheiden.

Feinde können zum Beispiel Menschen sein, die an den Fingernägeln kauen, gestrickte Pullis und Mützen tragen, mit der Linken schreiben oder einen schlaksigen Gang haben. Es könnten auch die mit blauen Augen sein, die Armbanduhren tragen, sich die Haare von links nach rechts oder von rechts nach links kämmen. Und wenn wir wollen, können auch diejenigen Feinde sein, die sich die Haare nach hinten kämmen. Man muss es nur wollen. Auf den ersten Blick erscheinen diese Beispiele vielleicht nicht überzeugend, aber dafür gibt es keinen Grund – auch in den vergangenen Kriegen war das Erstellen eines Feindbildes nicht besser motiviert.

Als Kriterium können Hautfarbe oder eine andere körperliche Eigenschaft herangezogen werden, und der Feindbestimmung dienen genauso gut Sprache, Nation, Religionsbekenntnis und Ethnie. Der Feind muss nicht einmal ein Mensch sein. Derzeit dienen Straßenhunde als ein gutes Beispiel für so einen griffbereiten Feind. Sie können gehasst werden – und werden auch tatsächlich von zornigen Menschen, die sich vor der sozialen Unsicherheit, der Armut, der korrupten und nicht funktionsfähigen Regierung fürchten, leidenschaftlich gehasst. Die Hunde haben ein Fell, sind vierbeinig, halten zusammen, sprechen unsere Sprache nicht, und als solche erwecken sie unweigerlich Argwohn und stellen eine Gefahr dar. Sie bellen, greifen an und übertragen Krankheiten. Geschichten von unseren zerbissenen Kindern und einer Unmenge verletzter Spaziergänger haben eine klare Botschaft: Die Streuner sind zu unserem eigenen Schutz auszurotten. Verfolgung ist immer eine Frage des Überlebens, entweder wir oder sie. Und natürlich ist wir immer besser. Darum muss der Feind ausgerottet werden, bevor er auf den Gedanken kommt, uns auszurotten. 

Den Anderen kennen und sich mit ihm verstehen lernen, seine Logik erkennen – erinnern wir uns doch einmal an diese in der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft über Generationen hinweg tradierende Strategie, die in den letzten Jahren keine große Popularität genießt. Sie ist mühselig und kompliziert, zu delikat. Dagegen ist Hass einfach, süffig und klar. Dem sich vor einem Hund Fürchtenden kommt jede harmlose Bewegung wie das Kratzen oder Gähnen wie eine verhängnisvolle Drohung vor. Wir werden doch jetzt nicht alle an Schulungen teilnehmen, um das Hundeverhalten und die Unterscheidung zwischen gefährlichen und nicht gefährlichen Hunden zu erlernen? Leichter ist es, sie alle zu töten. Die meisten meiner Mitbürger sind sich darin zweifellos einig. Ein gemeinsamer Feind vereint, begonnen von der schlechtbezahlten Kassiererin im Supermarkt, die nicht einmal Recht auf Karenzzeit hat, bis hin zu dem ermüdeten Vetternwirtschafts-Beamten, der für immer und ewig an dem gutbezahlten aber unnötigen Arbeitsplatz bleibt.

Nebst Hunden können wir doch beispielsweise auch die Menschen hassen, die die Streuner schützen und füttern. Die Kollaborateure sind vielleicht sogar schlimmer als die Hunde selbst. Überhitzte Gemüter rufen in Foren, Kommentaren in den Internetportalen und Facebook-Status zur Selbstjustiz auf. Hunde und Hundeliebhaber sind die Summa aller unserer Ängste. Sie mobilisieren, vereinigen uns, Dank ihnen fühlen wir uns wohl unter Gleichgesinnten. In der Öffentlichkeit rechtfertigt der kantonale Premierminister die Einschläferungen, indem er behauptet, dass Frauen Fehlgeburten, alte Frauen Armamputationen hätten und Mädchen an Diabetes erkranken würden – wegen der Streuner. Bedroht seien unsere Frauen und unsere Babys, für die wir doch eine so große Schwäche haben.  Die Behauptungen können Lügen sein, sinnloses Gequatsche, können der Wissenschaft oder dem gesunden Menschenverstand trotzen, aber gerade so, wie sie sind, schüren sie Hass und nähren die Polarisierung der Gesellschaft in uns und sie

Die Hunde aus diesem Text sind ein Zufallsbeispiel, genauso wie es die Wahl der zu verfolgenden Gruppen immer ist. Im Nu findet man einen Anlass, und die Lawine rollt. Die Leute aus dem Sandschak nehmen uns die Jobs weg, sie bringen ihren ungewohnten Akzent und retrograde Gepflogenheiten mit. Die Araber sind gekommen, um unser Land aufzukaufen und unsere Frauen mit Tschadors zu verhüllen. Homosexuelle wollen uns für sich gewinnen, damit wir so werden wie sie. Feministinnen unterdrücken Männer. Vielleicht ist es wegen ihnen allen, der Sandschak-Leute, der Araber, der Homosexuellen und Feministinnen, dass unsere Frauen Fehlgeburten erleiden, den Alten die Arme amputiert werden und Mädchen an Diabetes erkranken. Sie alle bedrohen uns und unsere Kinder und es bleibt uns gar nichts anderes übrig als sie zu hassen.  Wird uns solch ein Gequassel von einer genügend charismatischen oder hoch positionierten Figur aufgetischt und damit unsere verborgene Angst gereizt, ist es der Auftakt zur Katastrophe.  

Der italienische Chemiker und Literat Primo Levi überlebte Auschwitz und schrieb über seine Erfahrung das berühmte Buch Ist das ein Mensch. Sprachlos über das Ausmaß und die Grausamkeit der Verbrechen, die er miterlebt hat, fragt er sich in seinem Titel auch, ob es möglich sei, dass Menschen zu solchen Untaten fähig seien und behauptet gleichzeitig resigniert, dass auch das, was er in dem Lager gesehen hat,  Menschen waren. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Aufforderung, nicht zu vergessen und es nicht noch einmal geschehen zu lassen, zum  allgemeinen Mantra – doch in all diesen Jahren wurde es wiederholt und vergessen. Den eigenen Beitrag zum Verständnis der Mechanismen des Hasses, der Verfolgung und der Bosheit bieten uns unzählige Bände, die in den letzten Jahrzehnten erschienen sind. Es ist schon ziemlich lange her, dass Hanna Arendt und Heinrich Böll den mickrigen und sterilen Bürokraten, der plötzlich zum Heerführer wird und fest davon überzeugt ist, er würde nur seinen Auftrag erledigen, in ihren Arbeiten bloßgelegt haben. Unter den Kriegsverbrechern gibt es weder Dämone noch Märtyrer. Es ist immer eine unersättliche Ambition und ein Machthunger, ein Handel, ein Wunsch nach einem Militärgrad oder einem Ferienhaus, es sind Selbstgefälligkeit, Hochmut, Angst – es ist ein Mensch aus Fleisch und Blut. An einem Ort lebend, sind sie alle miteinander befreundet, feiern Geburtstage und tauschen Bücher aus. Manche tragen bei Kälte lange Unterhosen, andere mögen Pflaumenmus, die dritten Schnaps. Sie sind Menschen und all das ist der Mensch, in seiner drittklassigen Ausführung. Solch einem Vorbild nachzueifern, ist ein Zeichen für die Leere des eigenen Seelenlebens und ein Zeichen von Ängsten, die einem im Nacken sitzen. Ziehen wir daher die Mörder von den Altären und sehen wir uns ihre Menschengesichter an. 

Wenn wir uns nicht kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzen, wird jeder Krieg zum Vermächtnis und zum Keim eines zukünftigen Krieges werden. Ein Krieg hinterlässt Leid und Ängste, die in der Stille auf die nächste Generation übertragen werden. Eine nicht aufgearbeitete Angst kann uns morgen zu allem Möglichen mobilisieren, und es ist falsch zu glauben, dass wir besser als andere, immun gegen Verbrechen sein werden. Man bricht mit der Kriegstradition, indem man sich vor den eigenen Handlungen zu fürchten beginnt und  das Angsthaben lernt, nicht vor den Anderen, sondern vor dem, was aus einem selbst werden kann.  

Aus dem Bosnischen übersetzt von Nermama Mršo