Sexuelle und reproduktive Rechte

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Einleitung
Die Konzerne Apple und Facebook bieten in den USA an, Social Freezing, das Einfrieren unbefruchteter Eizellen für später, als karriere- und familienfreundliche Maßnahme für ihre Beschäftigten zu bezahlen.
Präsident Erdogan fordert, dass jede türkische Frau zum Wohle der Nation mindestens drei Kinder gebären soll.
Im EU-Parlament hat sich ein konservativer Block gebildet, der 2013 die Verabschiedung einer einheitlichen EU-Politik in Bezug auf sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte verhinderte. Gegen massive Proteste christlicher Medien, von Lebensschützern und konservativen Lobbygruppen wurden jedoch im März 2015 zwei Berichte verabschiedet, die sich für den Zugang aller EU-Bürger_
innen zu Verhütung, legale Abtreibung und Sexualerziehung aussprechen.
In Indien starben mindestens 14 Frauen nach einer Laparoskopie in einem Sterilisationscamp.
In Uganda wird ein neues Anti-Homosexualität-Gesetz vorbereitet, nachdem das Verfassungsgericht ein bereits verabschiedetes Gesetz, das die Todesstrafe vorsah, für nichtig erklärte.
In El Salvador, wo Abtreibung kategorisch verboten ist und Hunderte von Frauen nach Fehlgeburten und Totgeburten in Gefängnissen sitzen, hat das Parlament auf Drängen feministischer Organisationen erstmalig eine Frau begnadigt. Wenig später wurde im US-Bundesstaat Indiana erstmalig eine Frau nach einer Fehlgeburt unter dem Vorwurf der Abtreibung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.
Das russische LGBT-Propaganda-Gesetz gibt vor, Kinder vor Informationen über LGBT-Personen und nicht-traditionelle Familienformen zu schützen. Leihmutterschaft ist in Russland legal, aber nicht für gleichgeschlechtliche Paare.
Nach der Entführung von 276 Schülerinnen gab die islamistische Gruppe Boko Haram bekannt, dass die Mädchen zum Islam konvertieren, heiraten und Kinder gebären sollen.

Diese Liste von Schlagzeilen ist endlos erweiterbar. Sie signalisiert, dass sexuelle und reproduktive Rechte (SRR) überall höchst umkämpft sind. Geschlechterordnungen gelten als das Herzstück von soziokulturellen und religiösen Wertesystemen in den unterschiedlichsten Gesellschaften, und sexuelle und reproduktive Regime bilden wiederum den Kern der Geschlechterordnungen. Sie markieren eine brisante Schnittstelle individueller, kollektiver, ethischer, politischer, wissenschaftlicher und kommerzieller Interessen und unterschiedlicher, miteinander verflochtener, komplexer Machtregime.

Der folgende Überblick über Diskurse, Dynamiken und Perspektiven geht davon aus, dass sexuelle und reproduktive Rechte als eine Agenda von normativen Prinzipien ein höchst umstrittenes gesellschaftliches Terrain ist.

Dieser Essay versucht, die verschränkten Herrschaftsstrukturen zu entzerren, die aktuelle Sichtweisen auf, Umsetzungen von und Widerstände gegen sexuelle und reproduktive Rechte bestimmen. Dazu werden drei Hauptachsen von Macht und Einflüssen auf sexuelle und reproduktive Rechte identifiziert, die als Referenzrahmen für Diskussionen in verschiedenen Regionen und Ländern fungieren können:

a ) Soziale Normen, Werte und Rechte,
b ) Biopolitik und Biomacht
c ) Reproduktionstechnologien und Bioökonomie.

In jedem dieser drei Machtfelder bzw. Regime ist Gender als Kategorie sozialer Ungleichheit tief eingeschrieben und gleichzeitig mit anderen Kategorien sozialer Ungleichheit, insbesondere Klasse /Kaste, Hautfarbe /Ethnizität 1 und Kolonialismus/Imperialismus verflochten. Das komplexe Zusammenspiel dieser Faktoren zeigt, dass im Themenfeld sexueller und reproduktiver Rechte Geschlecht und soziale Gerechtigkeit untrennbar zusammengehören.
Dieser Essay bietet Hintergrundinformationen und analytische Zugänge aus einer internationalen Perspektive. Er will in der Tradition der Politisierung scheinbar persönlicher Probleme Raum für die Klärung von Positionen öffnen und dazu motivieren, politische Interventionsmöglichkeiten zu erkunden. Er will zu kritischen und kontroversen Debatten motivieren und wirft deshalb mehr Fragen auf, als er Antworten gibt.