Ergebnisse der Volkszählung – wie geht es weiter?

Die Ergebnisse des Zensus sowie der Zählung der Haushalte und Wohneinheiten in BiH aus dem Jahr 2013  wurden am 30.06.2016 veröffentlicht – bezeichnend ist, dass dies nur einen Tag vor Ablauf der gesetzlichen Frist erfolgte. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse ganze drei Jahre nach der Datenerfassung, was einen Präzedenzfall bei den Volkszählungen weltweit darstellt. Die veröffentlichten Daten sind keinesfalls vollständig oder wurden auf adäquate Weise bekannt gemacht: bestimmte Empfehlungen, die für die Veröffentlichung der Daten oder eine Methodologie für das Erfassen und Veröffentlichen der Daten vorgesehen sind, wurden nicht eingehalten. Aufgrund dessen können wir zu zwei folgendem Schlüssen kommen:

  • Die Ergebnisse wurden veröffentlicht, und im Moment ist dies das einzig Positive an dieser Volkszählung – damit ist die gesetzliche Pflicht in der letzten Frist erfüllt und noch ein „Erledigt“-Häkchen wurde in der To-Do-Liste der EU-Integrationen hinzugefügt;  
  • Die Ergebnisse wurden unter großem Druck und in Eile veröffentlicht, um die gesetzte Frist noch einhalten zu können, so dass ein so chaotischer Epilog ein weiterer Indikator dafür ist, wie der gesamte Prozess in BiH ablief.  

Probleme mit dem Zensus

Die Probleme beim Volkszählungsprozess begannen schon bei der Vorlage des Zensusgesetzes. Das Gesetz wurde schon seit 2009 geprüft, und die umstrittenste Frage, die schließlich auch den ganzen Prozess kompromittiert hatte, war die Frage nach der Ethnizität – der nationalen Zugehörigkeit, sowie die Verarbeitung dieser gewonnenen Daten nach der Volkszählung. Mit der Verabschiedung des Gesetzes und der Aufnahme der umstrittenen empfindlichen Fragen in das Gesetz nahmen die Probleme ihren Lauf und sind auch heute noch, nach der Veröffentlichung der Ergebnisse, aktuell. Diese Fragen, die in den meisten Ländern der Welt wichtige statistische Fragen für Wirtschaft, Bildung, Gesundheits- und Sozialwesen  darstellen, wurden in BiH zu ausschließlich politischen Fragen. Die ganze Debatte zum Zensus sowie die Aktivitäten rund um den Zensus waren ausschließlich bezogen auf politische Konnotationen, die der Zensus eventuell haben könnte. Hierbei geht es vor allem um die Frage nach der ethnischen Zugehörigkeit, die am häufigsten für die Entfachung ethnischer Leidenschaften genutzt wurde, aber auch bei der Frage nach der Sprache, bei der die Wahl der Sprache die Grundlage für ausschließlich politische Äußerungen der Standpunkte bildete, da es im linguistischen Sinne keine großen sprachlichen Unterschiede zwischen den gebräuchlichen Sprachvarianten in BiH gibt. All dies führte zu einer Anhäufung von Problemen und Unregelmäßigkeiten im ganzen Volkszählungsprozess, von denen hier einige der wichtigsten hervorgehoben werden können und die während der Vorbereitungsphase des Zensus, insbesondere während der Datensammlungen aufgetreten sind: 

  • Die Kampagnen der politischen Parteien, der Organisationen der Zivilgesellschaft, religiösen Institutionen, sogar die der Institutionen und Staatsmänner aus dem Ausland, die sich auf die Aussagen zur ethnischen Zugehörigkeit bezogen.  

Alle nationalistischen Parteien haben groß angelegte Kampagnen gestartet, die oft an der Grenze der Legalität waren bzw. diese bereits überschritten hatten, indem sie zu illegalen Handlungen im Rahmen der Volkszählung aufriefen, und es kam zu Gründungen von formellen und informellen Gruppen und Organisationen, die Teil dieser Kampagnen waren. Auch religiöse Organisationen waren beteiligt, indem sie durch öffentliche Bekanntmachungen, Äußerungen und Mitteilungen aus ihren jeweiligen religiösen Objekten heraus offen dazu aufforderten, sich für eine der ethnischen Optionen zu bekennen. Dazu kamen noch Vertreter aus den Nachbarländern, etwa der Präsident der Republik Kroatien, der die in Kroatien lebenden Bürger/innen Bosnien-Herzegowinas offen dazu aufrief, an der Volkszählung in BiH teilzunehmen. Damit rief er indirekt zu einer Straftat auf, denn laut Gesetz dürfen Personen, die länger als 12 Monate in Kroatien leben, nicht als Wohnbevölkerung in den Zensus aufgenommen werden;

  • Die öffentliche Kampagne für die Volkszählung wurde viel zu spät gestartet und hat die Bevölkerung nicht angemessen über alle Aspekte, vor allem aber über sensible Fragen  des Zensus informiert.

Die Kampagne des Amtes für Statistik startete gut nach all den anderen Kampagnen  für die Volkszählung und beinhaltete nur allgemeine Informationen, die jedoch überwiegend unangemessen waren. Dies bezieht sich überwiegend auf Informationen über sensible Fragen in den Fragebögen. Das Ergebnis dessen ist, dass laut repräsentativer Stichprobe einer Umfrage, die IPSOS im Auftrag der Vereinigung „Zašto ne?“ durchgeführt hat, etwa 60% der Befragten mehr oder weniger überzeugt waren, das die Ergebnisse des Zensus nicht glaubwürdig sein werden;  

  • Ein hohes Maß an Autonomie der Gemeindevorsteher in der Durchführung des Zensus führte zur  Gelegenheit für Missinterpretationen oder gar Manipulationen während des gesamten Vorgangs.

Beweis dafür sind die vielfach gemeldeten Unregelmäßigkeiten und die schlechte Einweisung der Zensus-Befrager, häufige Beschwerden der Befragten über das Benehmen des Personals vor Ort, mangelnde Möglichkeiten der Lagerung der Fragebögen und somit eine Verletzung des Zensus-Gesetzes, des Weiteren die statistischen Indikatoren über die Anzahl der  Befragten seitens einzelner Befrager, die vom Durchschnitt abweichen sowie die der Verglich der Anzahl der Befragten in den Gemeinden mit den statistischen Schätzungen aus dem Zeitraum 2010-2012;

  • Und zuletzt die vielen einzeln ausgeführten oder organisierten Manipulationen im Laufe des Datensammlungsprozesses, von denen eine gravierende Zahl registriert wurde, deuten auf die vielen Probleme in der Umsetzung des Zensus hin, so dass dessen Ergebnisse in Frage gestellt wurden.  

Am Ende haben die letzten Probleme und das Hinauszögern der Veröffentlichung der Ergebnisse, sowie die Veröffentlichung der Ergebnisse auf eine sehr oberflächliche Art und in letzter Minute sicherlich nicht zu mehr Vertrauen in die Ergebnisse des Zensus beigetragen. Wie die Geschichte hinsichtlich der angekündigten gesonderten Veröffentlichung der Ergebnisse für die Republika Srpska (RS) ausgeht, bleibt abzuwarten. Denn die Regierungsvertreter/innen in der RS erkennen die veröffentlichten offiziellen Ergebnisse des Zensus nicht an und stellen somit die Legitimität des gesamten Prozesses in Frage, und auch Obstruktionen in der Umsetzung bestimmter Dinge im Bezug auf die Zensus-Ergebnisse sind zu erwarten. 

Auswirkungen der Veröffentlichung der Ergebnisse

Wenn wir uns mit den Auswirkungen der Veröffentlichung der Ergebnisse befassen wollen, müssen wir folgende Aspekte beachten:

  • Internationale Integrationen BiHs. Die Veröffentlichung der Ergebnisse wird sich positiv auf bestimmte Aspekte der internationalen Integrationen auswirken, vor allem auf den EU-Beitrittsprozess. Die EU hat den Zensus weitestgehend finanziert, so dass er vom politischen Aspekt einen positiven Effekt auf die Meinung der EU über den ernsthaften Willen der Institutionen BiH zur EU-Integration haben wird, auch wenn es von einer Veröffentlichung  der Resultate ohne die Zustimmung der RS überschattet wird. Außerdem werden die Ergebnisse im praktischen Sinne Voraussetzungen für viele Prozesse im Rahmen der EU-Integration schaffen, die ohne die statistischen Erkenntnisse nicht möglich wären.  Wobei auch hier wieder mit der Reserve, dass die angekündigten Aktivitäten aus der RS auf den EU-Integrationsprozess selbst übertragen werden könnten, so dass dies auch viele potenzielle Blockaden im Integrationsprozess bedeuten könnte;
  • Gesetzliche Auswirkungen. Die Auswirkungen auf die Gesetzeslage werden nicht sehr groß sein, auch wenn sich die Ergebnisse des Zensus möglicherweise wesentlich auf zwei Gesetze auswirken könnten – auf das Beamtengesetz und das Gesetz über die Aufteilung der Steuereinnahmen (Haushaltsgesetz). Eine direkte Auswirkung wird sein, dass die Struktur der Beamten genau den Ergebnissen des Zensus entsprechen wird, zumindest was die Staatsebene und die Republika Srpska angeht, auch wenn das Gesetz bisher kaum Anwendung  fand und die Auswirkungen des Zensus auf das Gesetz eher diskutabel sind. Die Ergebnisse des Zensus werden sich auch auf die Budgets der Gemeinden und Kantone auswirken, denn die Verteilung der Mittel richtet sich in hohem Maße nach der Einwohnerzahl. Aus diesem Grund war es ein großer Fehler, die Durchführung in die Hände der Gemeindevorsteher zu geben. Dies hat bereits zu einer Kontroverse geführt, da die Finanzministerin der Föderation BiH (FBiH) Jelka Miličević schon den Haushaltsplan für 2016 aufgrund der vorläufigen Zensusergebnisse verabschiedet, was vermutlich seinen Epilog im Gerichtssaal finden wird;
  • Fachliche und statistische Auswirkungen. Auf diesem Gebiet sind die Auswirkungen der Zensusergebnisse am fragwürdigsten, denn allein schon die Durchführung einer Volkszählung nach 22 Jahren ist aus verschiedenen Gründen wichtig und notwendig. Aber wie verwendbar die Daten aufgrund der vielen Probleme vom fachlichen Standpunkt aus sind, müssen ausschließlich Fachwelt und Expert/innen einschätzen. Jedenfalls sind dies die aktuellsten statistischen Daten, über die wir verfügen, und sie haben ihren Anwendungswert, aber wie und wofür sie verwendet werden, bleibt abzuwarten;
  • Politische Auswirkungen. Auch wenn hier viele Probleme erwartet wurden, sieht es so aus, als würden sich hier weitaus weniger Auswirkungen als angenommen abzeichnen. Wahrscheinlich deswegen, weil niemand von dem ganzen Prozess – gerade weil er von so vielen Problemen begleitet wurde – einen Nutzen haben könnte. Die Manipulation der ethnischen Frage und die Zahl der Angehörigen zu den einzelnen konstitutiven Völkern, die in die Höhe geschraubt wurde, kann aus zweierlei Gründen kein Ausgangspunkt sein für jedwede Gespräche über neue gesetzliche und verfassungsmäßige Lösungen: Erstens, wegen der Fragwürdigkeit dieser Zahlen, und zweitens sind für Verfassungsänderungen immer noch die erhobenen Hände am relevantesten. Momentan wird es sehr schwer sein, ausreichend Fürstimmen für derartige Veränderungen zu finden. Andererseits wird es mit solchen fingierten Zahlen schwer werden für jene Parteien, die von sich behaupten, dass sie legitime Vertreterinnen der einzelnen Konstitutiven Völker sind, dies auch zu beweisen. Denn wenn wir davon ausgehen, dass die Struktur des Wahlverzeichnisses identisch ist zur Bevölkerungsstruktur, dann drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass keine der Parteien mehr als 25% der Wähler/innen eines konstitutiven Volkes in ihrer Wählerschaft hat.

Jegliche Veränderungen in den niedrigeren Regierungsebenen ist ebenso schwer zu erwarten, denn die potenziellen Auswirkungen beziehen sich auf Gesetze und Regeln die in den niedrigeren Regierungsebenen bisher sowieso nicht angewendet wurden, wie es beim Beamtengesetz der Fall ist, so dass politische Auswirkungen in diesen Ebenen kosmetischer Natur wären.

Die einzige Auswirkung, die der Zensus im politischen Sinne haben könnte, ist auf den Status und die Rechte von nationalen Minderheiten. Bleiben wir aber konsequent bei dem Schutz der Minderheitenrechte, sollte die Anzahl der nationalen Mindereheiten keinesfalls ihre Rechte und die Mechanismen zu ihrem Schutz beeinflussen, so dass ich auch hier keine wesentlichen Veränderungen erwarte.

Zum Schluss sollte noch eine potenzielle Art der politischen Auswirkung erwähnt werden, die mit der Veröffentlichung der Zensusergebnisse einher gehen könnte: Hier ist es zu einem Präzedenzfall in der Praxis der Institutionen BiH gekommen, als diese auf staatlicher Ebene die Veröffentlichung  beschlossen haben – wozu sie per Gesetz berechtigt sind – ohne die Zustimmung der Institutionen auf Entitätsebene, die sich mit dem Thema befassen, einzuholen. Inwieweit die Institution der RS dies als Angriff auf ihre Gerichtsbarkeit oder gar ihre Souveränität ihrer Entität deuten wird, und ob es sich außer auf den Veröffentlichungsprozess auch auf andere politische Prozesse im Land auswirken wird, bleibt für den kommenden Zeitraum abzuwarten.

Legitimität beweisen

Ein Fazit drängt sich von selbst auf: Die Volkszählung begann, verlief und endete auf die gleiche Art und Weise, nämlich belastet durch die Frage der ethnischen Struktur der Einwohner/innen Bosnien-Herzegowinas. Die Veröffentlichung der Ergebnisse hätte mit dem Einverständnis aller zuständigen Institutionen erfolgen sollen, aber besser auf diese Weise als gar keine Veröffentlichung, zumindest im Hinblick auf die Anforderungen im EU-Integrationsprozess. Aber alle großen Ankündigungen über die Bedeutung des Zensus für die Schicksale der einzelnen konstitutiven Völker haben sich jetzt schon oder werden sich schon bald als unbegründet erweisen – politische Entscheidungen werden in den staatlichen Institutionen getroffen, mit einem Niveau an Kompromissen die eine notwendige Mehrheit gewährleisten, und dazu sind die Parteien, deren Kampagnen bei der Volkszählung hitzig waren, nicht in der Lage. Gleichzeitig müssen dieselben Parteien nach der Veröffentlichung der Ergebnisse ihre Legitimität für die Vertretung des jeweiligen Volkes durch die bei den Wahlen erhaltenen Stimmen beweisen, deren Trend sich durch die Wahlen der letzten Jahre klar zeigt und die bei solchen Zensusergebnissen nicht unbedingt ihren Aussagen entsprechen.