“Ec Shlirë” („Walk freely“)!

Vom 25. bis 29. Mai fand in Sarajevo die „Point Conference“ statt, eine Zusammenkunft von Aktivist*innen, Programmierer*innen und anderen Tech-Affinen aus zehn verschiedenen Ländern, die an der Schnittstelle von politischem Engagement und Digitalen Medien arbeiten. Neben Projekten vom Balkan und dem arabischen Raum, die Pressemeldungen einem „Fact Checking“ unterziehen und so Propaganda entlarven, Tools zur Wahlbeobachtung in Russland  oder einem Stadtraumprojekt aus Skopje, das den Korruptionssumpf in der Bauwirtschaft entlarvt, wurde in Sarajevo auch eine App vorgestellt, die im Vergleich mit den vielen umfangreichen Projekten so simpel erscheint, dass man sie leicht übersehen könnte:

 “Ec Shlirë” („Walk freely“) nennt sich die App aus dem Kosovo, die es Frauen anonym ermöglicht, mit ein paar Klicks sexuelle und andere Formen der Belästigung zu melden. Entwickelt wurde die App vom Kollektiv „Girls coding Kosova, in Kooperation mit der „Open Data Kosovo Organization“ und „Kosova Women Network“.

In nur 4 Schritten führt die App die Betroffene zum anonymen Report. Dazu wählt die Nutzerin jeweils das Icon aus, das die erlebte Belästigung beziehungsweise den erlittenen Missbrauch am treffendsten bezeichnet.

Schritt 1: Was ist passiert? Die dargestellten Formen der Belästigung und des Missbrauchs reichen von Hinterherpfeifen über Begrapschen bis zur Vergewaltigung.

Schritt 2: Wer war der Täter? Ein Arbeitskollege, der Vorgesetzte, ein Kunde oder ein Passant auf der Straße?

Schritt 3: Wo ist die Belästigung passiert? Hier können Nutzer*innen zwischen Kategorien wie „Straße“, „Arbeitsplatz“, „Restaurant“ oder „Bus/ Bahn“ wählen und optional die Lokalisierungsfunktion ihres Smartphones nutzen, um genaue Standortdaten in die Meldung einzubeziehen.

Schritt 4: Hier kann der Vorfall genauer wiedergegeben werden. Anschließend muss nur noch auf „Senden“ geklickt werden und schon wird die Meldung registriert.

Ich habe mit Blerta Thaçi vom Kollektiv „Girls coding Kosovo“ aus Prstina gesprochen. Sie hat die Entwicklerarbeit der jungen Frauen mentoriert.

Blerta Thaçi, warum braucht es eine App, um sexuelle und andere Formen der Belästigung anzuzeigen?

Das „Kosova Women Network“ hat in einer Studie ermittelt, dass viele Frauen im Kosovo in ihrem Alltag sexuellen Missbrauch erleben. Die Daten der Polizei zeigten jedoch, dass diese Fälle im Kosovo nur selten zur Anzeige gebracht wurden. Offenbar erscheint es vielen Betroffenen zu umständlich, bei der Polizei eine Anzeige zu erstatten. Mit der App ist es nun sehr einfach, das Erlittene publik zu machen.

Die App enthält auch eine Landkarte, auf der die gemeldeten Fälle in Echtzeit angezeigt werden. Wozu dient die?

Dadurch kann frühzeitig erkannt werden, wenn sich etwa in einer Straße oder Institution Belästigungen oder Missbrauch häufen. Wir nehmen daraufhin den betroffenen Ort unter die Lupe. Meist erleben wir dabei überraschend viel Kooperationsbereitschaft.

Per Diagrammen können Nutzer*innen der App außerdem sehen, wo die meisten Belästigungen und Missbräuche statt finden und durch welche Art von Personen: etwa durch Lehrer, Vorgesetzte oder Familienangehörige. Mit einer Filtereinstellung lässt sich für jede Form der Belästigung ermitteln, welche Mitglieder der Gesellschaft sie am häufigsten begehen.

Also etwa, ob sexueller Missbrauch besonders oft von Vorgesetzten begangen wird?

Genau! So schaffen wir ein öffentliches Bewusstsein dafür. Dieses ist im Kosovo nicht sehr ausgeprägt. Viele Frauen halten es für normal, Gewalt und sexuelle Übergriffe von Männern zu erdulden. Die Angst, über Missbrauchserfahrungen zu sprechen, ist oft sehr groß. Durch die App erfahren die Frauen, dass sie nicht allein sind und dass sexuelle Belästigung keine Bagatelle ist.

Leitet Ihr die Meldungen auch an die Polizei weiter?

Ja, wir machen die Polizei etwa darauf aufmerksam, wenn die Landkarte in der App anzeigt, dass sich an bestimmten Orten Belästigungen oder Missbräuche häufen. So können sie gezielter ermitteln. Durch die Summe an Meldungen, die wir bündeln, nimmt die Polizei das Problem ernst.

Kann die App nicht auch missbraucht werden, um gezielt Institutionen oder Personengruppen zu verleumden?

Dieses Risiko besteht. Unsere Administratoren bekommen es allerdings mit, wenn von demselben Smartphone immer und immer wieder die gleiche oder eine ähnliche Meldung ausgeht. In dem Fall würden wir prüfen, ob es sich um glaubwürdige Anzeigen handelt.

Kann die App auch außerhalb des Kosovo genutzt werden? In Deutschland zum Beispiel?

Ja, sie kann weltweit kostenlos heruntergeladen werden:

https://play.google.com/store/apps/details?id=org.opendatakosovo.android.ecshlire&hl=de

Bis jetzt gibt es eine Version für Android-Smartphones in Englisch. Übersetzungen in andere Sprachen sind in Arbeit. Wir stellen die App als Open Source zur Verfügung. Sie soll weiterentwickelt werden. Wir werden bald auch eine Version für iphones bereitstellen können.

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