Srećko Latal
Leiter
Social Overview Service, SOS
Sarajevo
SARAJEVO, Bosnien-Herzegowina, 19. Februar 2014 – Die Blockade des bosnisch-herzegowinischen Wegs in die Europäische Union ist nun offiziell und wurde am Dienstag, den 18. Februar bei der Pressekonferenz des Kommissars für EU-Erweiterungen, Stefan Füle, in Sarajevo klar bestätigt, nachdem die letzte Runde der Verhandlungen über die Verfassungsreform in BiH hinsichtlich des Sejdic-Finci Urteils gescheitert war.
Die Nachricht wurde weder von der einheimischen, noch der internationalen Öffentlichkeit besonders beachtet, da allen schon längst klar ist, dass der Integrationsprozess Bosniens im Treibsand der lokalen politischen Spielchen feststeckt.
Ob nun aus Gutherzigkeit, Gründlichkeit, Naivität oder einem vierten Grund, Herr Füle hat in den vergangenen Monaten noch „einige Runden gedreht“, aber nachdem die Leader aus BiH noch immer keinen Schritt vorwärts getan hatten, musste auch er am Dienstag letztendlich eine Niederlage verkünden.
Diese Niederlage ist umso schmerzlicher und ernsthafter, wenn man in Betracht zieht, dass sie inmitten der Unruhen geschieht, die bereits seit fast drei Wochen in einigen Teilen des Landes stattfinden. Die Gewalt, die sich zu Beginn der sozialen Unruhen in Sarajevo, Tuzla, Zenica, Bihac, Mostar und Brcko entlud, und die Aufnahmen von den Zusammenstößen von Polizei und Demonstrant/innen, den angezündeten Regierungsgebäuden, den von Rauch erfüllten Straßen, zerstörten Fahrzeugen und verstreuten Möbeln und Büroausstattungen, erinnerte schmerzhaft an die kürzlich stattgefundenen Kriegsereignisse und brachte BiH für kurze Zeit erneut in die Schlagzeilen der Medien weltweit.
Ungeachtet der Botschaft der sozialen Unruhen hat die Mehrheit der lokalen Politiker/innen entschieden, ihre gewohnten Standpunkte und ihr bisheriges Verhalten beizubehalten. Die Vertreter/innen der regierenden kroatischen und serbischen politischen Parteien haben versucht, die Bosniaken für alles verantwortlich zu machen, indem sie Spekulationen, Getratsche und Verschwörungstheorien für einem Versuch verwendeten, ihre eigenen ethnischen Kreise zu ängstigen und so die Verbreitung der Proteste zu verhindern. Auf der anderen Seite beschuldigten sich die bosniakischen Politiker/innen gegenseitig und wetteiferten in leeren Versprechungen und unrealistischen Vorschlägen.
Die Tatsache, dass die bosnisch-herzegowinischen Leader auch in einer solchen Atmosphäre weiterhin alle Kompromisse ablehnten und ihre harten, maximalistischen Forderungen beibehielten, zeugt von der Tiefe der Probleme in BiH. Dies, wie auch kürzlich gemachte Aussagen einiger Politiker, die deutlich sagten, dass IPA-Fonds sie nicht interessieren und dass sie nicht an einem europäischen Weg interessiert seien, wenn dieser zum Zerfall von BiH führen sollte, macht deutlich, dass es sich nicht lediglich um einen Misserfolg bei einer Serie von Verhandlungen handelt, die von irgendwelchen anderen technischen Verhandlungen ersetzt werden könnten oder sollten. Dies ist ein Indikator dafür, dass das Konzept der EU-Integration Bosnien-Herzegowinas selbst in Frage gestellt wird, was sich weder BiH noch die EU erlauben dürfen.
Bosnien-Herzegowina und die internationale Gemeinschaft erwarten jetzt die Ankunft der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Lady Catherine Ashton, die für die kommenden Tage angekündigt ist. Viele Bürger/innen BiHs haben große Erwartungen in diesen Besuch. Viele, die die jüngsten Fortschritte bei den Verhandlungen zwischen Belgrad und Prishtina verfolgt haben, hoffen darauf, dass Lady Ashton über mehr Autorität, stärkere Verhandlungskapazitäten oder zumindest über versteckte Magie verfügt, mit der sie die sturen und verantwortungslosen BiH Leader dazu bringt, sich von der Stelle zu bewegen. Leider sieht in BiH kaum jemand, dass die Fortschritte bei den Verhandlungen zwischen Belgrad und Prishtina vor allem den lokalen Leadern zu verdanken sind, die nach vielen Jahren endlich Kompromissbereitschaft gezeigt haben. Dazu war internationale Vermittlung nötig, die Lady Ashton gerne und erfolgreich übernommen hat.
Leider sind die BiH Leader weit von einem Kompromiss entfernt. Daher sollten eventuelle zukünftige Besuche von Lady Ashton oder anderer hoher internationaler Beamter genutzt werden um eine klare, laute und offizielle Botschaft der politischen Leader zu bekommen, ob und unter welchen Bedingungen sie für die Fortsetzung der Euro-Atlantischen Integrationen bereit sind. Es sollte keinem von ihnen erlaubt sein, weiterhin das Spiel zu spielen bei dem sie offiziell den europäischen Weg befürworten, insgeheim jedoch alles dafür tun, diesen zu blockieren. Es bedurfte vieler gescheiterter Treffen, damit die europäischen Verhandlungsführer endlich begreifen, dass einige lokale Politiker/innen dieses Spiel schon seit Jahren spielen, aber die diplomatische Kultur gab ihnen nicht das Recht, besagte Politiker/innen öffentlich zu benennen und sie öffentlich zur Verantwortung zu rufen.
Die klare Benennung der Schuldigen für die Blockade des europäischen Weges stellt den ersten, aber nicht auch den letzten Schritt dar, den die Europäische Union und der Rest der internationalen Gemeinschaft im Findungsprozess eines neuen internationalen Ansatzes für den Balkan tun müssen.
Ein neuer Ansatz ist unentbehrlich, ob nun wegen BiH oder der Interessen der Europäischen Union selbst. Die kürzlich ausgebrochene Welle der Gewalt in BiH, wie auch die schnelle Verbreitung der sozialen Unruhen auf Kroatien, Serbien, Montenegro und Mazedonien zeigen ganz klar, dass die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme auch weiterhin auf dem Balkan schwelen, und die jüngste Vergangenheit lehrt uns, dass politische und wirtschaftliche Probleme auf dem Balkan sehr schnell und unerwartet in Sicherheitsprobleme ausarten können, die es dann wesentlich schwerer und teurer zu lösen sein wird.
Die Diskussion über einen neuen Ansatz der internationalen Gemeinschaft für BiH und den restlichen Balkan beansprucht schon seit Monaten die akademischen Kreise, Expert/innen und Vertreter/innen der Zivilgesellschaft. Leider überwiegen in dieser Diskussion bisher noch immer alte, bereits erprobte Ideen, die bisher zu keinen langfristigen Ergebnissen geführt haben. Die absolute Mehrheit dieser Vorschläge kann in zwei Gruppen aufgeteilt werden; eine, die sich für die Rückkehr eines pro-aktiven Engagements der internationalen Gemeinschaft durch eine stärkere Rolle des Office of the High Representative (OHR) einsetzt, und die andere, die der Meinung ist, dass die internationale Gemeinschaft auch weiterhin nur Beobachter bleibt und den bosnisch-herzegowinischen Politiker/innen erlaubt, über die Zukunft des Landes zu entscheiden.
Ist es vielleicht möglich, einen neuen Ansatz, eine dritte Art und Weise, einen Mittelweg zu finden, der auch weiterhin die lokale Verantwortung und das „ownership“ für Reformen beinhaltet, aber auch ein stärkeres und konkreteres Engagement der internationalen Gemeinschaft einschließt? Die Fehler aus der Vergangenheit zeigen deutlich, dass lokale Verantwortung und „ownership“ bei den Prozessen für eine langfristige Stabilität notwendig sind, aber auch, dass ein stärkeres und konkreteres Engagement der internationalen Gemeinschaft weiterhin notwendig ist, um die Mängel der Daytoner Verfassung zu überbrücken und die Bürger/innen BiHs vor ihren politischen Vertreter/innen zu schützen, die die Daytoner Verfassung in Frage stellen oder missachten. Eine der Schlüsselfragen bei der Diskussion über einen neuen Ansatz der internationalen Gemeinschaft zu BiH bezieht sich auf eben diese Notwendigkeit einer Reform der Daytoner Verfassung.
Betrachtet man die vielen Versuche der internationalen Gemeinschaft, bei den Verhandlungen über die Verfassungsänderungen BiHs zu vermitteln, angefangen bei dem April-Paket der Verfassungsreform aus 2006, über das so genannte Butmir-Paket aus 2009 bis hin zu den Verhandlungen über die Verfassungsreform in Bezug auf das Sejdic-Finci-Urteil, die diese Woche kläglich gescheitert waren, wird sehr deutlich, dass es in BiH keinen Konsens über Verfassungsänderungen gibt und die internationale Gemeinschaft weder Kraft noch Lust hat, sich so tief in die wichtigen inneren Angelegenheiten eines international anerkannten Staates einzumischen.
Die Entscheidung über den Beginn und das Tempo der Vorbereitungen für einen neuen internationalen Ansatz zu BiH hängt von den wichtigsten Spielern ab, allen voran Berlin, Washington D.C. und Brüssel. Es ist klar, dass dieser Prozess in diesem Moment noch immer keine hohe Priorität hat, wenn man bedenkt, dass sowohl die Europäische Union als auch die USA momentan ihren Fokus auf andere Probleme richten, von Syrien und der Ukraine bis zur Wahl im Europaparlament, sowie dem amerikanischen Kongress und dem Senat, die alle dieses Jahr in Europa und den USA stattfinden.
Aber auch Bosnien-Herzegowina bereitet sich in diesem Jahr auf Allgemeinwahlen vor, was hierzulande eine verstärkte radikale Rhetorik, die Verbreitung nationalistischer und sezessionistischer Drohungen, eine Wiederbelebung von Verschwörungstheorien, gegenseitige Schuldzuweisungen und leere Versprechungen über eine bessere Zukunft bedeutet.
Die diesjährigen Wahlen werden in Zeiten der bisher schlimmsten wirtschaftlichen und sozialen Krise vorbereitet, wo der ohnehin schlechte Lebensstandard der Bürger/innen durch Neuverschuldungen sowohl bei kommerziellen Banken, als auch bei gleichgültigen internationalen Kreditinstituten gerade noch aufrecht erhalten wird.
Hunger, Armut und Arbeitslosigkeit in Kombination mit dem leichtsinnigen Verhalten der lokalen Politiker/innen haben in BiH jahrelang zu Spannungen und Unmut geführt, die Anfang dieses Monats ausgebrochen sind. Die sozialen Unruhen (Proteste) werden fortgesetzt, und die Bürger/innen organisieren sich erstmals selbst in Bürger/innen-Plenen, um ihre Forderungen an die lokalen Politiker/innen so gut und klar wie möglich zu formulieren. Bisher waren die Politiker/innen wenig offen für die Anliegen der Bürger/innen, was zu einer angespannten und unvorhersehbaren Situation im Land beiträgt. Dies unterstreicht aber auch die Wichtigkeit, dringend über neue Modalitäten eines internationalen Engagements in BiH, aber auch dem restlichen Balkan nachzudenken, um zu verhindern, dass dieser verfrühte bosnische Frühling nicht zu einem neuen Waldbrand wird.