Presuda Mladiću: „Gnusni činovi“, ali lekcije ipak nenaučene

Pozadina

Der ehemalige serbisch-bosnische General Ratko Mladić ist vom UN-Kriegsverbrechertribunal zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Derweil werden die Täter in der Region weiter glorifiziert, ihre Taten verleugnet.

Teaser Image Caption
Grafiti Ratka Mladića

Das Urteil ist da. Lange hat die Welt darauf gewartet, dass Ratko Mladić, der ehemalige bosnische Serbengeneral vor dem Internationalen Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag seinen Richterspruch vernehmen kann. Nun wurde er vom Tribunal für Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. In zehn von elf Anklagepunkten befanden die Richterinnen und Richter den ehemaligen General für schuldig. Er war Teil einer gemeinsamen kriminellen Unternehmung.

Es ist ein historisches Urteil. Nicht zuletzt, da die begangenen Taten ebenfalls eine historische Dimension tragen. Im August 1995 wurden in Srebrenica, einer abgelegenen Gegend im Osten Bosnien-Herzegowinas, mehr als 8000 Jungen und Männer von den Frauen und Mädchen getrennt und anschließend kaltblütig umgebracht.

Noch heute weisen die Witwen auf die Stelle, an der die Kolonne der Serben die Männer aussortierte. Sie ist nicht weit von der heutigen Gedenkstätte Potočari entfernt, an der tausende Stelen, Reihe in Reihe, für die Ermordeten ein Zeichen setzen. Es ist ein Meer aus Erinnerungen an eine der schrecklichsten Taten, begangen während der Nachfolgekriege im ehemaligen Jugoslawien.

Der erste und einzige Genozid auf europäischem Boden nach Ende des Zweiten Weltkriegs

Der Völkermord wird hier, an der Grabstätte, in seiner ganzen Perfidie erkennbar: Ein verlassenes Fleckchen Erde, nicht eben schön, nicht unbedingt bedeutend. Wohl aber für die nationalistischen serbischen Masterminds, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, „ihr“ Territorium, die Republika Srpska, von allem Nicht-Serbischen zu säubern.

Das Ziel sollte sein, ein Groß-Serbien zu erschaffen. Noch heute erinnern die zahlreichen Häuserskelette entlang der Straßen in der Republika Srpska an die Tatsache, dass hier einmal Familien anderer ethnischer Zugehörigkeit lebten.

Die Auslöschung anderen Lebens war radikal: Die Morde von Srebrenica stellen den ersten und einzigen Genozid auf europäischem Boden nach Ende des Zweiten Weltkriegs dar. Die Taten Mladićs, so der vorsitzende Richter des ICTY Alphons Orie bei der Urteilsverkündung, seien „abscheulich“ gewesen. Die Täter hätten gegenüber den Opfern „wenig bis keinen Respekt gegenüber dem menschlichen Leben oder dessen Würde“ gezeigt.

„Inbegriff des Bösen und Inbegriff internationaler Gerechtigkeit“

Bereits 2016 war Radovan Karadžić für zahlreiche Anklagepunkte schuldig gesprochen worden, darunter ebenfalls für den Völkermord von Srebrenica und den jahrelangen Beschuss der Stadt Sarajevo, der die mutwillige Tötung von hunderten Zivilistinnen und Zivilisten zur Folge hatte – die längste Belagerung einer Stadt in der modernen Kriegsgeschichte. Es war Karadžićs Oberkommando, unter dem Mladićs Truppen 1995 die serbische UN-Schutzzone Srebrenica stürmten und Sarajevo unter Dauerbeschuss nahmen.

40 Jahre Haft, so lautete der Richterspruch im Falle Karadžić. Mit dem Serbenführer, der die Verbrechen gegen andere Volksgruppen aus der Stadt Pale heraus orchestrierte, und seinem willfähigen Vollstrecker Mladić, konnten die Hauptverantwortlichen für die schlimmsten Verbrechen, die im Bosnien-Krieg begangen wurden, nun – 22 Jahre nach Kriegsende – zur Rechenschaft gezogen werden.

Mladićs und Karadžićs Verurteilungen werden als erfolgreicher Versuch in die Geschichtsbücher Einzug halten, Gerechtigkeit walten zu lassen - für einen Ausbruch an Hass und Gewalt, den Europa in dieser Form jahrzehntelang nicht erlebte. Uno-Menschenrechtskommissar Said Raad-al Hussein würdigte den Schuldspruch denn auch als monumentalen Akt: „Mladić ist der Inbegriff des Bösen, und die Verurteilung von Mladić ist der Inbegriff für internationale Gerechtigkeit."

Die Botschaft lautet: Wir kriegen euch

In der Tat geht mit den Urteilen beider Serbenführer ein wichtiges Zeichen vom ICTY aus: Trotz ihrer jahrelangen Flucht, trotz der Tatsache, dass sie sich lange auf die aktive Unterstützung von getreuen Anhängerinnen und Anhängern in Bosnien, Serbien (und vermutlich auch Montenegro) verlassen konnten, wurden ihre Taten am Ende geahndet. Wir kriegen euch – das ist die Botschaft, die vom Jugoslawien-Tribunal ausgeht und auch für künftige Verbrechen in anderen Konfliktregionen Gültigkeit haben wird.

Im Bosnien-Krieg starben etwa 100.000 Menschen. Bis heute werden nahezu täglich in irgendeinem Zipfel Bosniens Massengräber ausgehoben, mitunter liegen einzelne Körperteile von Opfern durch das ganze Land verstreut. Nicht nur, dass hier Menschen getötet wurden, die Täter unternahmen mit Schändungen, Sprengungen und klandestinen Transporten alles, um ihre Gräueltaten akribisch zu vertuschen.

Der mutmaßliche Mastermind der serbischen Aggressionspolitik in Belgrad, Slobodan Milošević, starb in Haft, bevor die Richterinnen und Richter in Den Haag Recht sprechen konnten. Diese Tatsache stellt womöglich die größte Tragik dieses Gerichts dar, das sich stets bemühte, die Komplexität und Monstrosität der begangenen Verbrechen zu berücksichtigen und zu dokumentieren. Im Falle Miloševićs dauerte dieses Bemühen der Staatsanwaltschaft zu lang.

Das Scheitern des ICTY in diesem so wichtigen Prozess war für den dringend erforderlichen Läuterungsprozess, für die Rückbesinnung auf Werte von Aussöhnung und Menschlichkeit, ein Debakel. Bis heute halten serbische Nationalisten und Nationalistinnen den Hass-Apologeten aus Belgrad für einen ehrenwerten Mann.

Gefährliche Umdeutungen

Während die Leistung des ICTY im juristischen und symbolischen Sinne trotz mancher Rückschläge als positiv zu beurteilen ist, muss die edukative Wirkung der Arbeit des Tribunals in Zweifel gezogen werden. Denn so klar die Rechtsprechung bezogen auf die begangenen Verbrechen auch war, so wenig strahlen diese Richtersprüche bis heute in die Region aus. Die dortigen, überwiegend nationalistischen politischen Eliten haben die Lehren, die aus den Urteilen des Tribunals zu ziehen sind, in keinster Weise gezogen.

Ein Phänomen, dass es auch lange im Nachkriegsdeutschland gab: Verdrängen, schönreden, leugnen. Deutschlands Katharsis, die zur Abrechnung mit den eigenen Taten und Verbrechen der NS-Zeit führte, kam daher auch erst Jahrzehnte nach dem Krieg.

Zwar war die Entnazifizierungspolitik der Alliierten nicht in allen Bereichen erfolgreich - sie formulierte dennoch ein klares Ziel: Jene, die die Vernichtungspolitik der Nazis betrieben hatten, sollten nicht mehr in maßgeblichen Positionen des Staates vertreten sein. Die alten Kräfte waren jedoch auch damals nachhaltig resistent.

Das Aufbegehren der Studierenden in den 60er und 70er Jahren war denn auch eine Auseinandersetzung mit diesen verkrusteten Strukturen und mit der offenbaren Unfähigkeit der jungen deutschen Republik zu echten Reformen sowie ernsthafter Vergangenheitsaufarbeitung. Die Studentenrevolten und die politischen Nachbeben machten schließlich den Weg frei für die weitere demokratische Entwicklung Nachkriegsdeutschlands samt einer aktiv betriebenen Aussöhnungspolitik. 

Erosion der Werte

Von Aufarbeitung und Aussöhnung ist man auf dem Balkan noch weit entfernt. Jene Kräfte, die sich heute kritisch mit der blutigen Vergangenheit auseinandersetzen wollen, sind in der Minderheit, meist sind es nur wenige einzelne Akteure und Akteurinnen, akademische Zirkel.

Insbesondere dort, wo die brutalen Massaker oder Vergewaltigungen stattfanden, werden diese Stimmen unterdrückt, als Verräter gebrandmarkt. In Prijedor etwa durfte die Organisation Kvart vor einiger Zeit nicht einmal eine Anzeige in der lokalen Zeitung schalten, um an die im Krieg getöteten Kinder zu gedenken.

Wie weit die Umdeutungen gehen, zeigte sich zuletzt im Sommer 2017, als am Jahrestag des Völkermordes in Srebrenica eine Gruppe Versprengter in Banja Luka für ihren großen General demonstrieren wollte. Eine der Hauptlosungen der Aktion lautete: „Stoppt die Lügen über Srebrenica“[1].

Die Veranstaltung wurde später nicht genehmigt – freilich nicht aus inhaltlichen Bedenken: Es habe zu wenige Polizeikräfte gegeben, die den Protestmarsch der Mladić-Verehrer hätten schützen können, so die offizielle Begründung. Die Beamtinnen und Beamten waren zeitgleich bei der Gedenkveranstaltung in Potočari  im Einsatz.

Angesichts der vorherrschenden groben Versuche von Geschichtsklitterung muss konstatiert werden, dass es trotz des Wirkens des ICTY nicht gelungen ist, in der Region das Bewusstsein für Recht und Unrecht wieder herzustellen. Die Erosion der Werte, die durch die Kriege Einzug hielt, hält nach wie vor an.

Die wahren Helden und Heldinnen: Die Überlebenden

Dass heldenhaft im Bosnienkrieg einzig jene waren, die es geschafft haben, diese für viele bis heute traumatisch nachwirkende Zeit zu überleben, wird von nationalistischer Rhetorik übertüncht. Aus Opfern werden Täter, die es zu beseitigen galt, um der eigenen „nationalen Sache“ zu dienen“.

Mladićs Ausspruch, bevor die Verbrechen in Srebrenica begangen wurden, spricht Bände: „Kurz vor einem großen serbischen Festtag übergeben wir dem serbischen Volk diese Stadt. Die Zeit ist gekommen, um an den Türken[2] Rache zu nehmen.“

Dennoch plädierte Mladić im Prozess für unschuldig in allen Anklagepunkten. Auch Karadžić hatte negiert, den Krieg gegen alles Nicht-Serbische geführt zu haben. Beide wollen mit der systematischen Vernichtungsmaschinerie, die das ICTY nun noch einmal feststellte, nichts zu tun gehabt haben. „Lüge, Lüge“, empörte sich Mladić noch im Sitzungssaal, bevor er von den Sicherheitsleuten abgeführt wurde. Die Verkündung seines Urteils erlebte er an einem anderen Ort.

Und auch die serbischen Vertreter Bosniens, die heute im Amt sind, weigern sich standhaft, sich mit den Verbrechen der Kriege auseinanderzusetzen: So zeigte sich Mladen Ivanić, immerhin einer der drei Präsidenten des Landes, nach dem Urteil uneinsichtig: Das Tribunal habe „anstellte des Vertrauens das Misstrauen gestärkt“, erklärte er. Anstellte von Versöhnung werde es zu neuen politischen Konflikten kommen – ganz so, als sei die Leugnung der Taten und deren Nicht-Ahndung ein Schritt in Richtung Aussöhnung.

Zementiertes System der Angst

Ivanić steht damit nicht allein: Keine der drei ethnischen Gruppen macht Anstalten, einen Prozess der Aussöhnung auf den Weg zu bringen. Die regierenden Nationalistinnen und Nationalisten haben den Staat in Interessensphären aufgeteilt, das System gekapert[3], sie zementieren mit Bedacht ein System der Angst, mit dem sie die Menschen weiter gegeneinander aufbringen und in Atem halten, um bei den nächsten Wahlen 2018 ihre Macht verteidigen zu können.

Alle politischen Debatten werden auf diese Weise ethnisiert, Sachpolitik wird hingegen kaum gemacht. Nahezu täglich präsentieren die politischen Akteure und Akteurinnen die anderen ethnischen Gruppen als Feinde der eigenen Interessen. Die Rhetorik erfährt dabei spätestens seit dem widerrechtlich abgehaltenen Referendum in der Republika Srpska 2016 eine gefährliche Radikalisierung.

Angesichts der starken Fragmentierung der bosnischen Gesellschaft, angesichts einer schwach ausgebildeten Zivilgesellschaft und nicht zuletzt angesichts einer unfreien Medienlandschaft, die kaum in der Lage ist, objektive Informationen zu präsentieren, fehlt es an einer kritischen Masse, die gegen die Aufrechterhaltung und gezielte Instrumentalisierung der ethnopolitischen Konfliktlinien und die daraus resultierende blockierte Aufarbeitung der begangenen Gräueltaten vorgehen würde.

Und noch etwas erschwert die Aufarbeitung der Kriegs-Vergangenheit: Mit einem stark politisierten Bildungssystem, das auf Segregation der einzelnen ethnischen Gruppen setzt, ziehen sich Bosniens Politiker und Politikerinnen gezielt ein Heer von jungen Nationalistinnen und Nationalisten heran.

An den Schulen kursieren drei verschiedene Kriegsnarrative: die eigene Gruppe ist jeweils Opfer, niemals Täter. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte, basierend auf Fakten, wird nicht gelehrt. Folglich fehlt es an jungen Menschen, die aufbegehren und sich kritisch mit der Rolle der Väter und Großväter im Krieg auseinander setzen würden.

ICTY: Ein wichtiges Fundament gelegt

So können führende Politikerinnen und Politiker in Bosnien und Herzegowina als auch im angrenzenden Serbien und Kroatien weiter ungehindert in nationalistischer Verblendung schwelgen. Lessons not learned – das ist die traurige Bilanz zweier Dekaden nach Ende des Krieges, der für alle Seiten lediglich Verluste brachte und das multiethnische Miteinander im Lande zerstörte.

So viel Ignoranz, so viel gezielte Ausblendung historischer Fakten vergiftet dauerhaft nicht nur das politische Klima. Es treibt auch massenhaft gut ausgebildete Menschen aus dem Land, die nicht länger gewillt sind, die Dominanz nationalistischer Hass-Narrative zu  ertragen.[4]

Umso bedeutender ist die Arbeit des ICTY zu bewerten, das mit dem Urteil gegen Mladić und dem in Kürze erwarteten Revisions-Urteil gegen den Kroaten Jadranko Prlić seine jahrelange Arbeit abschließt.

Denn auch wenn der serbische Präsident und Kriegstreiber Slobodan Milošević starb, auch wenn Vojislav Šešelj, der Hetzer aus Serbien, mit kruden Begründungen freigesprochen wurde und nun neuerlich im serbischen Parlament sein Unwesen treibt, auch wenn einige Prozesse aus Sicht der Opfer entschieden zu lange dauerten, so hat die Arbeit des Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien für den so dringend erforderlichen Aussöhnungsprozess dennoch ein überaus wichtiges Fundament gelegt.

Ein Resonanzraum für die Opfer

Zum einen wurde eine Dokumentation schwerster Verbrechen gegen die Menschlichkeit erreicht, die detailliert nachgezeichnet und damit - trotz aller Versuche - nicht mehr so einfach zu leugnen sind. Oder, wie es der langjährige Richter am ICTY, Wolfgang Schomburg ausdrückt: „Die große Leistung besteht darin, dass es gelungen ist, die Menschenrechte zu verteidigen.“

Zum anderen wurde den Opfern über all die Jahre ein Resonanzraum geboten, ihre Stimme zu erheben, in dem ihre Erlebnisse einen Widerhall fanden. Dies ist in der bosnischen Öffentlichkeit bis heute bedauerlicherweise nicht gegeben.

Seit seiner Gründung 1993 hat das ICTY insgesamt 43 Prozesse zum Bosnien-Krieg geführt. Fünf Mal lautete das Urteil auf Genozid. Mladić und Karadžić sind verurteilte Mörder, Völkermörder. Aussöhnung kann es dauerhaft indes nur geben, wenn diese historischen Fakten auch im öffentlichen Diskurs irgendwann Akzeptanz finden und den nachkommenden Generationen vermittelt werden.

Um die nationalistische Hasspolitik zu beenden, mit denen die politischen Eliten auf Kosten eines ganzen Landes immer weiter zündeln, und um der Menschenverachtung irgendwann ein Ende zu setzen, sind die vor dem ICTY verkündeten Strafen ein Segen.

 

[1] Die Demonstration wurde vom Innenministerium der RS erst genehmigt, dann kurzfristig verboten, da nicht genügend Polizeikräfte zur Verfügung stünden; diese waren an diesem Tag in großer Zahl zur jährlichen Beisetzung der identifizierten Opfer in der Gedenkstätte Potočari eingesetzt.

[2] Damit war die muslimische Bevölkerung Bosniens gemeint.

[4] Siehe hierzu die Dokumentation: Bad governance in BiH - Die stille Revolution, Heinrich Böll Stiftung - Marion Kraske/Katharina Schmitz, Sarajevo 2017.