Kroatiens Altpräsident Mesić: "Grenzänderung führt zur Katastrophe"

Interview

"Alles, was zur Grenzänderung führen würde, würde zu neuen Katastrophen, zum neuen Krieg führen. Die Frage sollte aber in einem breiteren, europäischen Zusammenhang betrachtet werden: Alle Aggressoren in der Geschichte Europas haben immer Kriege angefangen, um scheinbar ihre nationale Minderheit zu verteidigen. Das war aber immer nur die Ausrede, das Ziel war immer, Territorium zu gewinnen."

In einem Gespräch mit Adelheid Wölfl (Der Standard) erklärt Kroatiens ehemaliger Staatschef Stjepan Mesić, warum eine Grenzänderung so gefährlich wäre.

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Kroatiens ehemaliger Staatschef Stipe Mesić
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Kroatiens ehemaliger Staatschef Stipe Mesić

STANDARD: Was halten Sie von der Idee von Aleksandar Vučić und Hashim Thaçi, einen Gebietsaustausch zwischen Serbien und dem Kosovo vorzunehmen?

Mesić: Allein die Vermutung, dass man das durchführen kann, ist falsch. Und es ist keine gute Idee, denn die Architektur Europas wurde durch die Unabhängigkeit des Kosovo vollendet. Alles, was zur Grenzänderung führen würde, würde zu neuen Katastrophen, zum neuen Krieg führen. Die Frage sollte aber in einem breiteren, europäischen Zusammenhang betrachtet werden: Alle Aggressoren in der Geschichte Europas haben immer Kriege angefangen, um scheinbar ihre nationale Minderheit zu verteidigen. Das war aber immer nur die Ausrede, das Ziel war immer, Territorium zu gewinnen. Europa kann es aber schaffen, dass der Krieg als politisches Mittel ausgeschlossen wird, denn es gibt den Schutz der eigenen nationalen Minderheit als Motiv nun nicht mehr. Ein Franzose kann auf beiden Seiten der Grenze zu Deutschland leben, und dies dank der gleichen gesetzlichen Regeln, an deren Schaffung alle beteiligt waren. In erster Linie muss Europa vereint werden. Wenn wir die Grenzen öffnen, kann es auch einem Albaner egal sein, auf welcher Seite der Grenze er lebt, einem Serben auch, genauso wie es mit den Franzosen oder Deutschen der Fall ist.

STANDARD: Beim Zerfall Jugoslawiens wurden die alten Verwaltungsgrenzen belassen, man setzte auf Multiethnizität. Welche Auswirkungen kann es haben, wenn man diese beiden Prinzipien aufgibt?

Mesić: Wenn wir ein vereintes Europa bilden wollen, wenn wir uns öffnen, dann ist es ein Unsinn, nur nationale Identität zu bilden. Die Politik soll helfen, dass sich ganz Europa in einem Raum befindet, sodass wir alle Grenzen öffnen. Der Brexit ist nur ein Ausreißer – früher oder später wird es wieder zur Vereinigung mit der EU kommen. Vielleicht wird das auch noch diese Generation machen.

STANDARD: Die Idee der Teilung des Kosovo ist alt, sie wurde etwa vom Vordenker des extremen serbischen Nationalismus, Dobrica Ćosić, befürwortet. Er hat davon gesprochen, eine Abgrenzung zwischen "Serben und Albanern" zu ziehen. Vučić und der albanische Premier Edi Rama sprechen nun auch davon. Wie schätzen Sie das ein?

Mesić: Das wäre ein falscher Weg. Wir müssen den eng denkenden Nationalismus loswerden. Vom Nationalismus kommt man leicht zum Chauvinismus und dann auch leicht zum Faschismus. Man sollte den Nationalismus vor allem im alten Europa einstellen, denn das alles hat ein Echo im neuen Europa – in den Ländern, die später der EU beigetreten sind. Denn diese sind am konservativsten. Ein Beispiel: Unsere Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović hat gesagt, sie habe hinter dem Eisernen Vorhang gelebt. Sie ist 1968 und ich 1934 geboren. Ich habe den Zweiten Weltkrieg erlebt, mit allen Grausamkeiten. Ich erinnere mich aber nicht, dass wir irgendwann danach hinter einem Eisernen Vorhang gelebt hätten. Sie weiß wahrscheinlich auch nicht, dass Jugoslawien zur Zeit des Kalten Krieges noch mit Griechenland und der Türkei in einem Pakt und auf diese Weise indirekt mit der Nato in einem Bund war. Sie scheint mehr mit dem Showbusiness beschäftigt zu sein. Oder mit Fußball. Sowohl die Präsidentin als auch der Premierminister können einen Fußballklub unterstützen. Emotionen sind aber eines und die Verantwortung eines Staatschefs etwas anderes. Wäre ich auf die Idee gekommen, als Präsident der Republik in einen Raum zu gehen, wo sich etwa unsere Sportlerinnen umziehen, um sie alle dort zu küssen, man hätte mich für verrückt erklärt. Das Amt verlangt auch eine gewisse Würde.

STANDARD: Politiker wie Grabar-Kitarović unterstützen nationalistische Projekte der Kroaten in der Herzegowina. Kürzlich wurde der 25. Jahrestag der Schaffung der bosnischen Pseudorepublik Herceg-Bosna von kroatischen Nationalisten während des Bosnien-Kriegs gefeiert. Wie sehen Sie die derzeitige kroatische Politik in Bosnien-Herzegowina?

Mesić: Die Schaffung der Herceg-Bosna war eigentlich ein Beitrag zur Zerstörung von Bosnien und Herzegowina, genauso wie die Schaffung der Republika Srpska. Kroatien soll dem Nachbarland helfen, die kroatische Politik soll aber nicht darüber entscheiden, was man in Bosnien und Herzegowina tun wird. Ich selbst habe mich wegen seiner Bosnien-Politik vom damaligen kroatischen Präsidenten Franjo Tuđman verabschiedet. Die Vereinbarung zwischen Tuđman und dem damaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević war der Wendepunkt. Denn die, die dachten, sie könnten Grenzen ändern, tragen die größte Schuld an den mehr als 100.000 Toten in Bosnien und Herzegowina, den Verwundeten und Flüchtlingen. Denn zum Krieg kam es nur wegen der Ambition, die Grenzen zu ändern.

STANDARD: Weshalb gibt es immer noch Unterstützung aus Zagreb für die dritte Entität für Kroaten in der Herzegowina? Weil die Herzegowiner in Zagreb so einflussreich sind?

Mesić: Das ist einer der Gründe. Aber insgesamt handelt es sich um eine Widerspiegelung der falschen Politik von früher. Im Lateinischen sagt man: "Was von Anfang an schlecht ist, wird auch mit der Zeit nicht gut." Die Haltung in Kroatien war besänftigt, solange man sich um den EU-Beitritt bemühen musste. Und jetzt flammt das wieder auf.

STANDARD: Wenn man hier mit Bürgern über die Zeit des Krieges in den 1990ern redet, denken viele, dass es um einen Konflikt zwischen Gruppen ging. Wurde die völkische Ideologie, die zum Krieg führte, zu wenig reflektiert?

Mesić: Das ethnische Prinzip zieht sich durch, aber nicht als überwiegende Kategorie. Milošević wollte Großserbien, und er hat wie Viktor Orbán in Ungarn dazu gedrängt. Er hielt leidenschaftliche Reden in Anwesenheit von Millionen Bürgern. Ich habe damals immer gesagt: keine Grenzänderungen. Denn wenn wir Grenzen ändern, bedeutet das Krieg.

STANDARD: Einer, der Grenzänderungen heute besonders attraktiv findet, ist der bisherige Präsident des bosnischen Landesteils Republika Srpska, Milorad Dodik. Wird er die Diskussion über den Kosovo nutzen?

Mesić: Sowohl Dodik als auch das bisherige kroatische Mitglied im bosnischen Staatspräsidium, Dragan Čović, werden das tun. Sie stimmen gut überein, wenn es um die Zerstörung von Bosnien und Herzegowina geht. Am meisten Verdienste für die einstweilige Beendigung dieses Szenarios hat der ehemalige Hohe Repräsentant Paddy Ashdown. Und auch heute gibt es einen guten Menschen, unseren Freund, den aktuellen Hohen Repräsentanten Valentin Inzko. Er hat den Wunsch und den Willen, aber er hat keine Vollmacht. Die internationale Gemeinschaft ist teilweise schuld daran, sie muss ihrem Repräsentanten Befugnisse geben, damit die Sachen in eine normale Routine zurückkehren.

STANDARD: Die Idee für einen Gebietsaustausch zwischen dem Kosovo und Serbien wird von Frankreich, Ungarn und teilweise der US-Regierung unterstützt. Könnte es auch dazu dienen, dass Russland die Annexion der Krim dadurch legitimieren will?

Mesić: Ich kann mir denken, dass gerade deshalb Russland manche Änderungen unterstützen würde. Weder Amerika noch Frankreich begreifen aber, was es bedeutet, wenn es zur Grenzänderung kommen würde. Es wäre, wie wenn eine Burg zusammenstürzen würde. Die Welt darf es einfach nicht akzeptieren, denn sie weiß nicht, in welche Katastrophe uns das führt. Dennoch: Ich habe noch ein bisschen Hoffnung, vor allem dass der rückwärts gerichtete Prozess in Europa gestoppt werden wird. Denn das alles haben wir schon erlebt. Und diejenigen, die es nicht erlebt haben, müssen lesen und lernen.

Von: Adelheid Wölfl, Der Standard 17.10.2018 - für das Original-Interview klicken Sie bitte hier