Ausschnitte aus "Die Jagd" von Vernesa Berbo

Zeugnis

Sie geben uns Blumennamen, um uns leichter mit Füßen treten zu können.  Jasmin, Rosie, Iris, Zahra…

Wie so oft frage ich mich, ob ich es mir erlauben kann, mich nicht zu erinnern? Meine Erinnerungen bringen wieder Unruhe, Angst, Wut und Hass, zerstörerischen Hass, der alles vor sich wegradiert, mich eingeschlossen. Trotzdem kann ich es mir nicht leisten, zu vergessen. Das ist das Einzige, das ich nicht darf! Ich habe überlebt? Und? Was jetzt? Woher soll ich den Wunsch nehmen, etwas mehr aus diesem „geschenkten“ Leben zu machen?

Lesedauer: 12 Minuten

Ž - ŽENA (Die FRAU)

Sie geben uns Blumennamen, um uns leichter mit Füßen treten zu können.  Jasmin, Rosie, Iris, Zahra…

Wie so oft frage ich mich, ob ich es mir erlauben kann, mich nicht zu erinnern? Meine Erinnerungen bringen wieder Unruhe, Angst, Wut und Hass, zerstörerischen Hass, der alles vor sich wegradiert, mich eingeschlossen. Trotzdem kann ich es mir nicht leisten, zu vergessen. Das ist das Einzige, das ich nicht darf! Ich habe überlebt? Und? Was jetzt? Woher soll ich den Wunsch nehmen, etwas mehr aus diesem „geschenkten“ Leben zu machen? 

Ich versuche es immer wieder, aber das Verbrechen an mir ist immer noch unsichtbar und ohne Namen. Ich bin unsichtbar, wie meine Geschichte, die nur für mich und in mir existiert. Ich werde nie fähig sein, sie jemandem zu erzählen, nie so, wie sie wirklich passiert ist. Ich wüsste nicht, wo ich sie beginnen und wo ich sie beenden sollte. Jede Geschichte hat ihren Anfang und ihr Ende, werdet ihr sagen, meine nicht! Egal wie ich sie anfange, ist sie schon am Ende, egal wie ich sie beende, sie ist wieder am Anfang. Sie wird für mich nie vergangen sein. Also kann ich sie nicht beginnen mit: Es war einmal ein Mädchen in einem fernen Land oder so ähnlich. Ich werde sie nie alt werden lassen, denn das bedeutet Vergessen! Und Vergessen ist schlimmer als der Tod! Ja, sie glauben mir nicht, aber es gibt unerwartet viele Dinge, die schlimmer sind als der Tod: Zum Beispiel, tot zu sein bei lebendigem Leibe.

Sie haben mir meinen Körper, meinen einzigen Zufluchtsort genommen! Er ist noch da, aber er gehört mir nicht mehr. Ich will ihn so beschmutzt, so dreckig, nicht mehr haben. Meine Seele schwebt seitdem um ihn herum und beobachtet ihn wie einen gefährlichen Hund mit hundert Köpfen, der sie jeden Moment in genauso viele Teile zerreißen könnte. Alles, was ich noch fühle, fühle ich außerhalb meines Körpers. Hunger, Durst, Kälte, das hat nichts mehr mit mir zu tun. Ich heiße Emina, Branka, Fatma und Zorana und ich bin nicht die Einzige von meiner Sorte. Man nennt uns auch Kriegsbeute, sexuell kastrierte weibliche Subjekte, die schmutzige, etwas andere erste Frontlinie, die Vergewaltigten. Was man uns angetan hat, nennt man Missbrauchsschlacht! Toll, nicht?! Und wisst ihr, was die schlimmste Folge dieser Missbrauchsschlacht ist? Die Scham!

Ich heiße Emina, Branka, Fatma und Zorana, ich bin 19 Jahre alt und ich putze. Ich putze mein Zimmer, das ist das, was ich den ganzen Tag mache. Und ich wasche mich! Ich fange meinen Tag an, indem ich ganz lange meine Hände und mein Gesicht wasche. Dann putze ich mein Zimmer, dann wasche ich wieder meine Hände und mein Gesicht. Manchmal stehe ich hinter der Gardine und schaue heimlich nach draußen. Ich sehe die Menschen vorbeilaufen. Unter den Passanten sind Menschen, die mich im Stich gelassen haben, die zugeschaut haben, und auch die, die mir weh getan haben. Ja, sie laufen immer noch frei herum, bringen ihre Einkäufe nach Hause und ihre Kinder zur Schule. Ich bin diejenige, die sich verstecken muss, die Schmutzige, die Vergewaltigte. Ich bin diejenige, die Scham empfindet, nicht sie. Einer meiner Vergewaltiger holt jeden Nachmittag auf der anderen Straßenseite seine Freundin ab. Einmal hatte er sogar einen Blumenstrauß dabei. Er hielt ihn in seiner Hand, genau wie damals das Messer. Das Messer in der rechten, die Zigarette in der linken Hand. Sie haben uns wie Vieh zusammengetrieben und in die LKWs geladen. Wir saßen in diesem LKW, der nach Kuhscheiße stank, und konnten nichts tun außer schweigen. Der LKW hielt vor der Schule, meiner ehemaligen Grundschule. Wir waren zwanzig Frauen. Vergewaltigt haben sie uns oben in Klassenzimmer, aber die meiste Zeit saßen wir unten im Heizkeller, zwischen Bergen von Heizkohle.  

Zigarette im Mund, Hammer in seiner Hand, oben nackt, behaarter Rücken, behaarte Hände.  Zigarette in seiner Hand, seine Haare zu einem Zopf gebunden, keine Zähne, ein Bündel Geld in der Hand, offene Hose, weiße Unterwäsche, Urinflecken.

Ich putze den ganzen Tag. Ich sitze nie auf dem Boden, ich sitze nie auf etwas, das einen Flecken haben könnte. Ich sitze nie auf einem Sessel, weil ich Angst habe, er könnte nach alten Cevapcici und Slivovic-Schnaps riechen.

Zigarette hinter seinem Ohr, frisch rasiert, eine Wunde an seinem Kopf, Kassettenrecorder, Blaskapellenmusik, langsamer Schritt, ich kann nicht atmen, ich bin blind.

Ich sitze auf nichts, was ein Fleck haben könnte. Überhaupt sitze ich nicht gerne, ich laufe grundlos um mich herum, ich brauche sowieso keinen Grund für überhaupt irgendetwas.

Blaskapellenmusik, ich laufe den Schulflur entlang, er ist sehr lang. Meine einzige Hoffnung ist, dass ich dieses Mal nichts spüre. Mein Körper liegt auf dem Boden, aber ich schaue ihn mir von oben herab an, wie er gekrümmt auf meinem Körper liegt, wie sich sein haariger Hintern bewegt, und stelle mir vor, dass Gott gerade dasselbe sieht wie ich! Er sagt mir, dass wir Frauen Seine schönste Schöpfung sind und dass Er uns seitdem vor euch Männern beschützen muss. Er wird mich trösten und umarmen, er wird mich zur schönsten Jungfrau im Paradies machen und keinen Mann mehr an mich heranlassen! Ich werde für immer im Paradies bleiben, unberührbar bis in alle Ewigkeit!

K - KOSTI (die KNOCHEN)

Knochengärtner

Der Mensch ist kein Vogel, der in den Nebel fliegen kann, ohne eine Spur zu hinterlassen. Wenn ein Mensch verschwindet, warten irgendwo seine Knochen darauf, gefunden zu werden. Unter der Erde aus unbestimmter Tiefe schreien sie zu uns. Knochengärtner mit schwarzen Gesichtern und Augen ohne Licht pflanzen sie unbemerkt überall. Kein einsamer Ort ist vor ihnen sicher: Keine Mülldeponie, kein Felsspalt, kein Fluss, keine Wiese und kein Wald. Sie arbeiten ohne Rast, Tag und Nacht, mit Baggern, Schaufeln, um die Löcher zu graben, mit Traktoren, Autos, Pferdekutschen, Handkarren, um die Toten oder noch Lebenden den Löchern zuzuführen. Meistens aber geleiten sie die Menschen direkt zum ausgegrabenen Loch, sie sagen: „Komm, wir machen einen Spaziergang.“ Ihre Stimme klingt dabei bestimmend, selbstzufrieden. Ihre Lippen bewegen sich kaum, sie sind müde, fast gelangweilt. Und während sie den Menschen zu seinem Loch führen, wird ein Knochengärtner zu dem anderen sagen: „Machst Du den hier alleine? Du weißt ja, wo das Loch ist, bin ganzen Tag auf den Beinen, kann das Messer kaum noch in der Hand halten!“ Der andere Knochengärtner wird verständnisvoll mit dem Kopf nicken: „Ruh dich aus, ich habe eine kalte Cola mitgebracht, später kommt Cicko und bringt Eintopf von zu Hause. Ich hoffe, er vergisst das Brot nicht!“ Der erste Knochengärtner wird sich in den Schatten unter einem Baum legen, sein Messer in das Gras stecken. Mit der gleichen Hand wird er eine Flasche Cola geräuschvoll öffnen und einen Schluck nehmen. Der Mensch, der mit dem zweiten Knochengärtner schon am Rand des Lochs steht, denkt verwundert darüber nach, wie unspektakulär das Sterben doch ist und dass das letzte Geräusch, das er wahrnehmen wird, bevor man ihn mit halb aufgeschnittener Kehle nach unten wirft, das Geräusch einer zu schnell geöffneten Cola-Flasche sein wird. Sein letzter Gedanke, während er auf die unten wartenden toten Körper fällt ist: Wird man mich je finden, meine Wahrheit je entdecken? Unten angekommen, denkt er; Ich werde schreien, ich werde meinen Knochen das Schreien beibringen, man wird sie hören und finden!!!

Tief unter der Balkanerde findet man die besten „Beweise“ dafür, wie sehr wir uns hassen, wie sehr wir auf unseren „Unterschieden“ bestehen. Auch die Knochen werden eines Tages in bosnische, serbische und kroatische Knochen aufgeteilt. Sie werden noch Kinderknochen, heilige Knochen, unschuldige, geklaute, verlorene, falsche, gefundene, gesuchte Knochen genannt, aber eins ist sicher: Sie werden gesucht.  

P.S Erzählt von einem, der es überlebt hat.

18 Jahre später

Mutter

Nach achtzehn Jahren der Suche habe ich zwei Knochen gefunden. Den Knochen einer Hand und den Knochen eines Beines. Mit diesen zwei Knochen habe ich aber mein Kind nicht gefunden. Ismails Platz ist leer, in meiner Seele, in meinem Herzen, nichts kann ihn erfüllen.

Es ist schwer, sich damit abzufinden, nur zwei Knochen zu begraben. Ich als Mutter habe nicht einen Sohn mit zwei Knochen geboren. Ich habe einen Kopf, Schulter, Hände, Beine geboren, der Rest meines Kindes ist leider verschwunden. Aber ich bin nicht alleine. Alle Mütter, die ihre Kinder heute mit mir zusammen begraben, begraben zwei-drei Knochen oder nur die Hälfte ihres Kindes. Heute werde ich diese zwei Knochen begraben, werde einen Grabstein haben, auf dem geschrieben steht, dass ich einen Sohn mit Namen Ismail hier in Srebrenica geboren habe, und dass er hier in Srebrenica getötet wurde.

Als ich ihn vor achtzehn Jahre das letzte Mal gesehen habe, als sie ihn mir weggenommen haben, habe ich nur diese Kinderaugen gesehen, die vor Angst schon gestorben waren. Mit seiner festen jungen Stimme, der Stimme seines Vaters, schaffte er es noch, mir zu sagen: „Mach dir keine Sorgen, Mama.“ Als sie mir jetzt sagten, dass mein Sohn gefunden und identifiziert wurde, habe ich das empfunden, als sei er eben jetzt getötet worden, und nicht vor achtzehn Jahren. Es war wie ein Stich in meine Seele, lautes Sausen in meinem Kopf. “Aber es sind leider nur zwei Knochen“, sagten sie endschuldigend. „Ist schon gut“, sagte ich, „diese zwei Knochen geben meinem Ismail seinen Namen zurück. Jetzt können wir auch diejenigen nennen, die ihn getötet haben. Es sind nicht nur die Opfer, die einen Namen und Nachnamen haben müssen, sondern vor allem auch die Täter.“

Der Bruder

Sie haben sie aus dem Bus geholt, sie war sechzehn. 7,5% der Knochen meiner Schwester wurden gefunden. Der Rest ist leider verbrannt. Du bleibst alleine. Es gibt niemanden mehr, der an Deine Tür klopft. Du verbringst dein Leben nach Knochen grabend. Am Ende habe ich es geschafft, den Kopf meines Bruders zu finden. Er war 25km von seinem Körper entfernt. Ihm haben sie die Kehle durchgeschnitten, von meiner Schwester, wie gesagt, 7.5%. Und das war`s. Einer, der dabei war, erzählte mir, dass mein Bruder darum gebettelt habe, erschossen zu werden. Der Tschetnik (fast beleidigt) sagte zu ihm: „Bist Du verrückt? Eine Kugel kostet drei Mark. Das ist zu teuer für dich!“ Er musste dann sechs Stunden in der Todesschlange warten, bis er an der Reihe war.

Der Sohn

Ich suche meinen Vater seit 1992. Ein Typ hat mir einen Tipp gegeben, wer mir verraten könnte, wohin man meinen Vater geworfen hat, nachdem man ihn getötet hat. Am Sonntag, den 29. Juni 1999 kam ich dann in einen Wald, genannt Feen-Wald. Es war acht Uhr abends. Nach ein paar hundert Metern kam ich an eine Mülldeponie. Dort warteten wie verabredet zwei Männer auf mich, V.T und noch einer, den ich nicht kannte. Sie tranken Bier. Unter diesem Müll lag der Körper meines Vaters und seines Bruders B.C., also meines Onkels. Ich wühlte allein im Müll. Ganz oben lag ein Kuhkadaver, unter ihm noch mehr Müll. Ich fand die Überreste meines Vaters. V.T trank weiter sein Bier und lachte. Er wisse sogar, wessen tote Kuh dort liegt. Ich grub etwa zwei Stunden lang. Es wurde bald stockdunkel. Ich grub weiter mit meiner Taschenlampe. Das Monster fragte mich, ob ich für den anderen Körper auch bezahlen würde, immerhin seien es zwei Körper und ich hatte doch nur für einen bezahlt. Ich lehnte ab. Die zwei Körper brachte ich in zwei großen Mülltüten nach Hause. Für die sterblichen Überreste meines Vaters habe ich seinem Mörder 1.500 Euro bezahlt.

In Den Haag

Ich bin sehr erleichtert, dass das Versteckspiel vorbei ist. Nicht, dass es mir schlecht ging, ich hätte noch ewig so weitermachen können. Cicko ist immer noch irgendwo da draußen, bei den Seinen in den Bergen versteckt, aber man wird älter und schwächer, man braucht Medikamente und Ärzte. Der Knast in Den Haag ist viel besser als ich erwartet habe. Wie wir unter uns sagen, es ist so was wie ein Altersheim. Ich bekomme alles, was ich brauche. Mein Organismus verträgt es sehr gut. Was mich ärgert, ist diese Dunkelheit hier. Das Klima ist anderes als bei uns. Ich vermisse unsere Berge, Luft und Licht, aber davon kann man nicht leben? (lacht)

Der Anwalt

Allein im Juni, Juli und August 1992 hat Rade Sukic* den Muslimen in Visegrad mehr als 3.000 „Lebensjahre“ gestohlen. Er hat vergewaltigt so viel er wollte, er hat getötet so viel er wollte, er hat geplündert so viel er wollte, er hat gefoltert so viel er wollte. In seinem Schlussplädoyer bezeichnete sein amerikanischer Verteidiger Jason Alarid die Überlebenden, die gegen Rade Sukic ausgesagt hatten, als Lügner, als Verrückte, als Alkoholiker oder hysterische Personen. Rade Sukic wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.

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* Name geändert