Bosnien-Herzegowina: Projekt der Destruktion

Bosnien-Herzegowina: Projekt der Destruktion

Bosnien-Herzegowina hat auf Lokalebene gewählt: Und wieder haben die nationalistischen Kräfte im Land gewonnen, sie konnten ihre Machtbastionen mitunter sogar noch ausbauen. Also alles beim alten, alles „stabil“ - trotz oder gerade wegen der nach wie vor mächtigen Eliten, die das Land seit einem Vierteljahrhundert mit ihrem Ethno-Nationalismus in Atem halten.

Die letzten Monate haben gezeigt, dass es in Bosnien nicht bergauf, sondern bergab geht. Das Land ist backsliding, in vielen Bereichen. So weit, so beunruhigend also. Daran ist die Internationale Gemeinschaft nicht unschuldig.

Dabei könnte man auf den ersten Blick meinen, Bosnien sei 21 Jahre nach Kriegsende endlich auf einem guten Weg: Immerhin hatte es im Februar 2016 endlich den Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt, signifikant später als alle Nachbarstaaten auf dem Westbalkan. Und tatsächlich bemühen sich seither Vertreter/innen der Internationalen Gemeinschaft, allen voran der EU, in Bosnien eine positive Dynamik zu betonen. Diese freilich sucht man in der Tagespolitik vergeblich.

Denn schon die mit der Unterzeichnung des EU-Antrags verbundenen technischen Vereinbarungen – Anpassung an den Stabilitäts- und Assoziierungs-Mechanismus (SAA) sowie der sogenannte Koordinationsmechanismus – wurden nicht routinemäßig auf den Weg gebracht, sondern, wie so vieles in Bosnien, von den verschiedenen ethnischen Gruppen und ihren Vertreter/innen zerredet und zu Blockaden genutzt.

Nach monatelangem Hickhack beschieden Anfang September die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini sowie EU-Kommissar für europäische Nachbarschaftspolitik, Johannes Hahn, Bosnien dann einen „sichtbaren Fortschritt“. Angesichts der realen Vorgänge in der bosnischen Politik mutet dieses Lob geradezu grotesk an. Schließlich hatte sich zuletzt erneut auf drastische Weise gezeigt, dass es den Akteuren im Land nach wir vor am erforderlichen Reformwillen mangelt, dass sie – entgegen öffentlicher Bekundungen - lieber weiter den Rezepten der Vergangenheit anhängen und gezielt die Chancen Bosniens auf eine von der Bevölkerung so sehnsuchtsvoll erhoffte Annäherung an die EU torpedieren als den Weg der Modernisierung und Demokratisierung zu beschreiten.

Nationalistische Hetze und Panikmache

Als einer der schrillsten Protagonisten dieser Obstruktion tritt regelmäßig der Präsident der Republika Srpska (RS), Milorad Dodik in Erscheinung, der fortgesetzt ethnische Aufhetzung und Panikmache betreibt. In einem Referendum hat Dodik die Bewohner/innen der RS am 25. September 2016 über einen Nationalfeiertag abstimmen lassen: Den 9. Januar, der Tag, an dem 1992 die Republika Srpska begründet wurde, auf deren Gebiet in der Folge massenhafte Vertreibungen und die gezielte Auslöschung aller Nicht-Serben zum obersten Prinzip erhoben wurde - eine Politik, die ihren dramatischen Höhepunkt im August 1995 im Genozid von Srebrenica fand, bei dem rund 8.000 muslimische Jungen und Männer ermordet wurden. Das Referendum also: Zwar gingen nur 55 Prozent der Bürger in der RS an die Urne, von denen stimmten indes 99,8 Prozent für den heiß diskutierten Nationalfeiertag.

Dass dieser Tag vom Obersten Verfassungsgericht Bosniens als „verfassungswidrig“ eingestuft wurde, da er die nicht-serbischen Bevölkerungsgruppen diskriminiere, störte Dodik kaum - ganz im Gegenteil: Er nutzte die Kontroversen um das umstrittene Datum gezielt, um die bosnischen Institutionen anzugreifen und die Staatlichkeit Bosniens, wie so oft in den letzten Jahren, in Frage zu stellen.

Mit dem Referendum gelang Dodik innenpolitisch ein Propagandacoup: Erfolgreich lenkte er die Öffentlichkeit von den Missständen in der RS ab, die von Korruption und Misswirtschaft gebeutelt ist. Dabei scheuten sich die Organisatoren nicht, trotz der schwerwiegenden sozialen und gesellschaftlichen Probleme in der RS, rund eine Million Euro zu verschleudern, um ein illegales Referendum durchzuführen.

„Sieg“ in Srebrenica

Mit Bedacht wurde die Bürgerbefragung zum Nationalfeiertag zeitlich unmittelbar vor die Lokalwahlen gesetzt, um auf diese Weise eine nationalistische Solidarisierungswelle aufbauen zu können. Und das Kalkül ging auf: Dodiks Partei SNSD konnte bei den Lokalwahlen signifikant zulegen, ein serbischer Kandidat eroberte sogar erstmals seit 20 Jahren das Bürgermeisteramt in Srebrenica. Am Wahlabend kam es zu unschönen Szenen: Serben schwenkten im Ort des Genozids serbische Fahnen und skandierten „Pobeda“ (Sieg). Die Stimmen in Srebrenica freilich müssen noch einmal ausgezählt werden, es soll zu Unregelmäßigkeiten gekommen sein.

Das Referendum war seit Wochen in aller Munde, eine fortgesetzte Medienmaschinerie arbeitet sich genüsslich an dem Thema ab – erfolgreich konnten Dodik und Konsorten auf diese Weise die eigentlichen Probleme der RS in den Hintergrund drängen: Die hohe Arbeitslosigkeit, Nepotismus und Vetternwirtschaft, Korruption – Dodik selbst steht wegen der nebulösen Finanzierung seiner Villa im Belgrader Nobelvorort Dedinje unter Beschuss. Nicht zuletzt ist ganz Bosnien von einem alarmierenden Brain drain betroffen, der vor allem junge Leute aus dem Land treibt, die für eine Modernisierung so dringend gebraucht würden.

Vor allem atmosphärisch richtete das Referendum einen gewaltigen Flurschaden an: In den vergangenen Wochen kam es zu ethnischen Spannungen mit immer neuen Eskalationsstufen. Selbst neue bewaffnete Auseinandersetzungen wollten Beobachter/innen nicht mehr ausschließen. Die Politvertreter aller drei ethnischen Gruppen setzten dabei gezielt auf Konfrontation. Der serbische Vertreter im dreiköpfigen Staatspräsidium Bosniens, Mladen Ivanic, erklärte, dass der 9. Januar nicht verhandelbar sei. Man müsse ihn indes nicht Nationaltag nennen, man könne ihn auch Tag der Staatlichkeit nennen, und wenn auch das abgelehnt würde, dann sollte er als Tag der Loslösung oder gar als Tag der Unabhängigkeit gefeiert werden. Eine unverhohlene Drohung auf Sezession, die die bosnischen Serben mit schöner Regelmäßigkeit in die öffentliche Debatte einspeisen, skurriler Weise vorgetragen von einem der Staatspräsidenten höchstpersönlich.

Friede ist nicht alles?

Der kroatische Vertreter im dreiköpfigen Staatspräsidium, Dragan Covic, nutzte die Diskussion für eigene Ziele: Am liebsten würde er die gemeinsame Föderation aus Bosnjaken und Kroaten neu aufteilen. Eine dritte Entität muss her, so die Logik des Kroatenführers - mit dem Machtzentrum Mostar. Dass damit die groteske Fragmentierung Bosniens und die daraus resultierende Unregierbarkeit nur noch vergrößert würden, spielt bei Covics Überlegungen keine Rolle. Politik, die sich am Gemeinwohl orientiert, zum Nutzen aller, ist nicht das Geschäft, das in Bosnien Konjunktur hat, es geht ausschließlich um die rigorose Absteckung ethno-nationaler Einflusszonen.

Wie schonungslos dabei von den politischen Akteuren gezielt Porzellan zerschlagen wird, um vor Wahlen die eigene ethnische Gruppe hinter sich zu scharen, bewies auch Bakir Izetbegovic, der bosniakische Staatspräsident. In der ohnehin aufgeheizten Debatte erklärte er: Nichts sei heiliger als Friede, dahinter aber stünden Freiheit und einige andere Dinge, so der Bosniakenführer nebulös. „Niemand von uns ist bereiter dieses Land bis zum Schluss zu verteidigen.“ Damit nicht genug: Der ehemalige Kriegs-Kommandeur der bosnischen Armee, Sefer Halilovic, ließ die Öffentlichkeit gar wissen, dass das Referendum einen neuen Krieg auslösen würde und spekulierte, dass sich die RS – im Falle von Auseinandersetzungen – lediglich zehn bis 15 Tage halten könnte.

In einem Land, das überall noch die Narben des letzten Krieges trägt, das sich noch immer nicht vom Hass und den Folgen der ethnischen Säuberungen erholt hat, werden neuerlich Szenarien von kriegerischen Auseinandersetzungen erörtert. Diese jüngsten Eskalationen belegen, dass die maßgeblichen politischen Akteure in Bosnien aus den Kriegsdramen der Vergangenheit kaum die entsprechenden Lehren gezogen haben. Vielmehr habe sich, konstatiert der ehemalige bosnische Diplomat und politische Analyst Zlatko Dizdarevic, eine neue Generation herausgebildet, die das „Projekt der Zerstörung“ in Bosnien fortsetze.

Öl ins Feuer

Doch nicht nur im Inland, auch in den Nachbarländern wurde die irrlichternde Debatte befeuert: In Kroatien goss der ehemalige Premierminister Zoran Milanovic im Parlamentswahlkampf Öl ins Feuer, indem er bei einer Wahlkampfveranstaltung vor Veteranen erklärte, in Bosnien gebe es keinerlei Regeln, das gesamte Gebilde sei nichts weiter als ein „big shit“. Zudem stellte der Sozialdemokrat die Möglichkeit in den Raum, dass – für den Fall, dass sich die Serben aus dem bosnischen Staatsverband lösen würden – Kroatien selbstredend auch die bosnischen Kroaten nicht allein lassen würde.

Der Verbündete in Belgrad

Störfeuer gegen den fragilen bosnischen Staat kommen zudem aus Serbien. Trotz anderslautender Bekundungen gegenüber dem Westen, wo man das Land aus strategischen Überlegungen lieber heute als morgen als Mitglied in die EU aufnehmen würde, ist Serbiens Premier Alexander Vucic stets bemüht, die Sonderbeziehungen zur RS immer wieder neu unter Beweis zu stellen. Demonstrativ reiste Vucic am 9. Januar dieses Jahres aus Belgrad nach Banja Luka, um an der Seite Dodiks den serbischen „Nationalfeiertag“ zu feiern – zu der Zeit hatte das bosnische Verfassungsgericht dessen Unrechtmäßigkeit längst festgestellt.

Je näher das Referendum rückte, desto offensichtlicher wurden zuletzt die serbischen Machtdemonstrationen. Gemeinsame Kraftmeierei vollführten Belgrad und Banja Luka Ende August, als Polizeieinheiten Serbiens und der Republika Srpska im Drina-Grenzgebiet mit bewaffneten Fahrzeugen und Hubschraubern eine gemeinsame Übung abhielten. Die Botschaft dahinter war unmissverständlich: Bei Bedarf verfügt die RS über einsatzbereite Einheiten, auch jenseits der Grenzen. Und nur wenige Tage später der nächste serbisch-serbische Schulterschluss: Dodik und Vucic weihten zusammen eine Autobahn ein – der Name des medienwirksam gefeierten Teilstücks, wie sollte es anders sein: „9. Januar“.

Kaum vorstellbar, dass bei so enger Kooperation Dodiks Referendumscoup nicht aufs Engste mit Vucic abgesprochen wäre. Kaum vorstellbar auch, dass angesichts der so offensichtlich zur Schau gestellten Bruderschaft Vucic in nächster Zukunft endlich die staatliche Souveränität Bosniens unmissverständlich anerkennt. Von den relevanten Politakteuren in den Nachbarländen hat bislang einzig der ehemalige kroatische Präsident Stipe Mesic den Kroaten in Bosnien unmissverständlich klargemacht: Eure Hauptstadt ist Sarajevo - und nicht Zagreb. Solche Zeichen freilich sucht man auf serbischer Seite vergeblich.

Die Konstellation, in der von allen Seiten die Staatlichkeit Bosniens unter Beschuss genommen wird, lässt Erinnerungen an die unseligen 90er Jahre aufkommen: Damals, als der kroatische Präsident Franjo Tudjman und sein Belgrader Counterpart Slobodan Milosevic das bosnische Territorium unter sich aufteilten – mit fatalen Folgen.

Vom großen Belgrader Bruder bestärkt, dreht Dodik seit Jahren immer weiter an der Eskalationsspirale. Bosnien gilt ihm als verhasstes Gebilde, Sarajevo nicht als Hauptstadt, sondern als Hort des Extremismus, „Teheran“, wie er es einmal nannte . Dass Dodik jüngst zum 20jährigen Jubiläum seiner Partei erklärte, er fordere von jedem, dass die RS „wie ein Staat“ feiere, belegt, wie unverblümt die Zentrifugalkräfte inzwischen ihre Positionen abstecken. Der bosnische Staat ist – keine Frage – unter Beschuss.

Verfestigung der Ethnopolitik

Geradezu hilflos mutet in diesem Zusammenhang die Internationale Gemeinschaft an.

Sie hat es in zwanzig Jahren nicht vermocht, mit der sogenannten bosnischen Politelite einen Modus Vivendi zu finden, mit dem das Land modernisiert und fit für Europa gemacht werden könnte. Ganz im Gegenteil: Die nationalistischen Kräfte sind weiter an der Macht, nach den Lokalwahlen sind sie stärker als jemals zuvor. „Warum wählen wir für diese Leute?“, fragte kürzlich der Journalist Andrej Nikolaidis provokativ seine Landsleute. Seine Antwort: „Weil wir denken, dass sie das kleinere Übel sind.“ Auf diese Weise versucht jede ethnische Gruppe, ihre Kandidaten zu pushen, Ethnopolitik siegt so über Sachpolitik.

Dass im Wahlkampf für die Lokalwahlen Mitarbeiter/innen öffentlicher Firmen unter Druck gesetzt wurden, ihre Stimmen der „richtigen“ Partei zu geben, dass es am Wahlabend laut der staatlichen Wahlkommission zu mehr als 90 Zwischenfällen kam, dass Wahlregularien nicht eingehalten wurden, dass Manipulationen vorgenommen wurden – all das zeigt, wie wenig das Prinzip der Rechtstaatlichkeit, das Recht auf freie und faire Wahlen bis dato implementiert wurde.

Das hat Gründe: Seit Jahren versuchten die Internationalen mit den diskreditierten Politikvertretern abseits der staatlichen Institutionen Übereinkommen zu treffen, mit denen man augenscheinlich hoffte, die nationalistischen Geister endlich zur Räson zu bringen.

Tatsächlich wurde mit dieser Form der Hinterzimmerdiplomatie, die in der Bevölkerung zunehmend auf Ablehnung stößt, eine höchst fragwürdige Politikerkaste nachhaltig gestärkt, was den Erosionsprozess der staatlichen Institutionen weiter befördert. Das von der EU angestrebte Ziel einer dauerhaften Stabilisierung wird auf diese Weise konterkariert. Bosnien, das zeigen die jüngsten Auseinandersetzungen, ist instabiler denn je. „Die langjährige Passivität der Internationalen Gemeinschaft hat die Ethnopolitik als zentrales Mobilisierungs- und Machtabsicherungsmittel erst genährt“, konstatiert der Politikwissenschaftler Vedran Dzihic von der Universität Wien.

Immer deutlicher wird, dass die Internationale Gemeinschaft mit ihrer Bosnien-Politik in einem Dilemma steckt: Die EU-Delegation tritt bei wichtigen Debatten nicht in Erscheinung. Zudem galt es lange als Konsens, dass der High Representative (OHR), die sogenannten Bonn Power, mit denen er als oberster Aufseher über die Einhaltung des Dayton-Friedensabkommens wachen soll, nicht mehr anwenden sollte. Anders als unter dem österreichischen Spitzendiplomaten Wolfgang Petritsch oder dem Briten Paddy Ashdown, die diese Machtbefugnisse noch extensiv nutzten, um obstruierende Politiker abzusetzen, steht dem aktuellen OHR Valentin Inzko damit kein Instrumentarium mehr zur Verfügung, mit dem sich rote Linien definieren lassen bzw. deren Übertretungen sanktionieren ließen. „Die Anwendung der Bonn Power passt nicht zu einem Land, mit dem über die Aufnahme in die EU verhandelt werden soll“, befand jüngst ein westlicher Diplomat.

Ecosystem zur Selbstbereicherung und zum Machterhalt

Zugleich sind die Internationalen aber augenscheinlich auch nicht bereit, jenseits der Bonn Power normative Grenzen zu setzen. Diese Weigerung allerdings, keine „sticks“ mehr anzuwenden, also nur noch Zuckerbrot zu verteilen und auf „Peitscheneinsätze“ zu verzichten, ist es gerade, die den nationalistischen Kräften in Bosnien alle Möglichkeiten offenlässt. Denn warum sollte sich heimische Politiker freiwillig für Reformen erwärmen – für Rechtssicherheit etwa oder die Implementierung von Standards wie den allgemeinen Menschenrechten - wenn diese ihren ureigensten Interessen diametral entgegen stehen? Hieße es doch für sie, das überaus ergiebige Eco-System, das sie bislang rigoros zur Selbstbereicherung, zur Ausbeutung der Staatsressourcen und zum Machterhalt nutzen, sukzessive aufzugeben. Die Fragmentierung, die Aufhetzung der ethnischen Gruppen, die Dysfunktionalität des bosnischen Staatssystems ist es ja gerade, die ihre Machtspielchen erst ermöglichen – auf Kosten der Allgemeinheit, auf Kosten der Bürger und Bürgerinnen, die seit 20 Jahren vergeblich auf wirtschaftliche und politische Modernisierung hoffen.

Tatsächlich hat die bosnische Politik seit Kriegsende so gut wie nichts unternommen, um aus dem Quasi-Protektorat einen funktionierenden Staat zu machen. In 20 Jahren wurde in dem überwiegend ländlich geprägten Staat noch nicht einmal ein Landwirtschaftsministerium geschaffen. Die für eine landwirtschaftliche Entwicklung so wertvollen IPARD-Hilfen, so Sanella Klaric vom Green Council, konnten nicht abgerufen werden. Dadurch seien dem Land mehr als 350 Millionen Euro entgangen.

Doch es gibt noch weitere Beispiele dieses politischen Totalversagens: Noch immer gibt es kein staatliches Kultusministerium, in der einzig verbliebenen multiethnischen Stadt Mostar wird den Einwohner/innen seit acht Jahren das Recht auf Wahlen vorenthalten, da sich die beiden verantwortlichen Politiker Dragan Covic für die Kroaten und Bakir Izetbegovic für die Bosniakische Seite nicht in der Lage sahen, einen entsprechenden Kompromiss zu finden. Wahlen sind nicht in ihrem Interesse – das Machtvakuum in Mostar lässt sich trefflich auf beiden Seiten für eigene Ziele nutzen. Damit ist Mostar die einzige Stadt Europas, in der den Bürger/innen seit Jahren fortgesetzt das Grundrecht auf Wahlen, eine der tragenden Säulen der Demokratie, abgesprochen wird.

Bad Governance bis No-Governance

Wo man auch hinschaut, kommen einem die Ergebnisse von Bad Governance oder trefflicher „No Governance“ entgegen. Die bewusst ventilierten Nationalismen, die fortgesetzte Aufteilung des Landes in ethnische Einflusszonen fungieren dabei als Instrumentarium, um die Gruppe hinter sich zu scharen und zur eigenen Machtsicherung zu nutzen. Die Nationalisierung jedes noch so kleinsten Politikinhaltes wird dabei gezielt eingesetzt, um vom eigenen Versagen abzulenken.

Das Gemeinwohl wird mit Füßen getreten - davon zeugen nicht zuletzt öffentliche Plätze, Spielplätze oder Museen, die in einem desaströsen Zustand sind. Rentner/innen müssen zum Überleben aus Müllcontainern Lebensmittelreste zusammenklauben. Die Hälfte der Bosnier/innen ist ohne Arbeit, bei den Jungen ist die Lage noch dramatischer. Die zunehmende Perspektivlosigkeit treibt vor allem gut ausgebildete Menschen massenhaft aus dem Land. 2016 registrierte die deutsche Botschaft einen dramatischen Anstieg bei der Beantragung von Arbeitsvisa.

Genozidleugnung auf höchster Ebene

Statt die Zukunftsfähigkeit des Landes sicher zu stellen, bedienen sich die Politiker/innen weiter den Konzepten der Vergangenheit: Der Aussöhnungsprozess hat noch nicht einmal begonnen. Es fehlt den Akteuren an der notwendigen Empathie mit den Opfern. Stattdessen herrscht nach wie vor ein Klima vor, in dem Kriegsverbrecher verherrlicht, ihre vermeintlichen Leistungen für die eigene ethnische Gruppe verklärt werden. Milorad Dodik erklärte vor wenigen Wochen, als sich der Völkermord von Srebrenica jährte, dass es gar keinen Genozid gegeben habe. Fakten werden geleugnet und verbogen, Täter bejubelt. Von einer historischen Aufarbeitung als Grundvoraussetzung für einen demokratisch orientierten Transformationsprozess findet sich in Bosnien bislang keine Spur. „Lediglich in Bosnien ist ein Kriegsverbrecher ein Star“, konstatierte jüngst die bosnische Zeitung Oslobodjenje.

Gezielt heizten die nationalistischen Parteien in den vergangenen Monaten Konflikte an. Konsequenzen? Keine. Die Internationale Gemeinschaft scheut ganz offenbar die Auseinandersetzung mit den bosnischen Politikvertreter/innen. „Seit Jahren gelten dadurch keine Regeln mehr in Bosnien – und die Lager wird immer schlimmer“, konstatierte jüngst der amerikanische Analyst Kurt Bassuener in einem Interview mit Radio Free Europe. Er appellierte an die internationalen Akteure, dem Erosionsprozess des bosnischen Staates nicht weiter tatenlos zuzusehen.

Politologe: Passivität mit Folgen

Wie auch in Serbien, wo die EU seit Jahren vergeblich versucht, Vucic zu einer konstruktiven Politik gegenüber Bosnien zu drängen, galt bislang die Strategie Stabilisierung vor Demokratisierung. Dieser Ansatz allerdings droht angesichts der Zunahme an Attacken auf den bosnischen Staat zu scheitern, die jüngsten ethnischen Verbalangriffe erinnern in fataler Weise an die Spannungen der Vorkriegszeit.

Vor diesem Hintergrund stellt das Referendum in der RS eine veritable Gefahr für Bosnien dar. Es geht dabei nicht nur um einen Feiertag, wie einer der westlichen Diplomaten in einem Gespräch mit einem Analysten die Lage verharmloste, es geht um die Frage, ob Entscheidungen von Staatsinstitutionen wie dem Obersten Verfassungsgericht Bestand haben. Werden die Institutionen eines Staates nicht geachtet, ist der Staat in Gänze in Gefahr.

Noch gefährlicher ist es, wenn die staatlichen Institutionen und mit ihnen das Daytoner Vertragswerk auch von den Internationalen aufgegeben werden. Dann könnte sich das Referendum über den Nationalfeiertag als Büchse der Pandora erweisen. Es ist nicht mehr auszuschließen, dass Dodik vor den nächsten Parlamentswahlen versuchen wird, eine ungleich schärfere Waffe zu zünden: Ein Referendum über die Sezession.

Die derzeitige Krise ist somit der Lackmustest für die Internationale Gemeinschaft, die den Auftrag hat, über die Einhaltung des Friedensabkommens von Dayton zu wachen. High Representative Valentin Inzko ließ zu dem Referendum verlauten, dass die Entscheidungen des Verfassungsgerichts bindend seien, alles andere wäre „rechtliche Anarchie". Damit ist alles gesagt. Wer der Anarchie nicht begegnet, kann kaum Erfolge im weiteren statebuilding-Prozess erwarten.

Bislang haben sich lediglich die USA für Sanktionen als Reaktion auf den offenen Verfassungsbruch infolge des Referendums ausgesprochen. Von europäischer Seite vernahm man dazu bislang nichts. Doch schon warnt Serbenpremier-Vucic, dass – für den Fall, dass es Sanktionen gegen den RS-Präsidenten geben würde - man auf serbischer Seite ebenfalls „Schritte“ andenken würde. Die Lage spitzt sich also zu.

Dodik wurde mehrfach von Seiten der Internationalen Gemeinschaft gewarnt und aufgefordert, das illegitime Referendum abzusagen. Er hat sich für den Weg des Verfassungsbruchs und der gezielten Destruktion entschieden. Die Internationale Gemeinschaft muss nun dringend handeln, um diesem Geist, der die bosnische Politik 21 Jahre nach Kriegsende noch immer dominiert, etwas entgegen zu setzen. Gelingt es ihr nicht, diesen Ungeist einzufangen, steht der Westen vor den Scherben seiner Balkanpolitik. Sollte Bosnien zerfallen, hätte dies gefährliche Rückkopplungen für die Stabilität und Sicherheitslage in der gesamten Region.