Einmischen lernen: Der Nordosten Indiens liegt in vieler Hinsicht abseits und bringt die größte Demokratie der Welt an ihre Grenzen. Ziel der Heinrich-Böll-Stiftung ist es der Vernachlässigung der Gebiete etwas entgegenzusetzen.
Ein Blick auf die Karte des indischen Subkontinents genügt, um den Kern des Problems zu verstehen: der Nordosten des Landes sieht wie ein Anhängsel aus, als habe man vergessen, dieses Gebiet von Indien abzutrennen. Lediglich ein schmaler Landkorridor, der an manchen Stellen nur 13 Kilometer breit ist, verbindet den Nordosten mit dem Rest des Landes. Die Hauptstädte Bangladeschs, Thailands und Myanmars sind näher als Neu-Delhi.
„Viele Menschen im Nordosten fühlen sich Indien nicht voll zugehörig“, sagt Axel Harneit-Sievers, Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Indien. Sie sehen anders aus und stehen auch kulturell den Nachbarländern näher. Umgekehrt werden die Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Nordosten im Hauptteil des Landes oft als „ausländisch“ wahrgenommen, oft diskriminiert und zuweilen sogar mit gewaltsamer Ablehnung konfrontiert. In den sieben Bundesstaaten des Nordostens – Assam, Arunachal Pradesh, Nagaland, Manipur, Mizoram, Tripura und Meghalaya – leben zwar 45 Millionen Menschen. Doch da das nur knapp vier Prozent der indischen Gesamtbevölkerung ausmacht, spielt die Region auch auf der politischen Ebene nur eine marginale Rolle.
„Der Nordosten bringt die indische Demokratie an den Rand ihrer Integrationsfähigkeit“, so Harneit-Sievers. Die Heinrich-Böll-Stiftung hat den Nordosten deshalb zu einem Schwerpunkt ihrer Demokratieförderung in Indien gemacht und unterstützt eine ganze Reihe von Projekten und Initiativen. Ziel ist, zu einer besseren Anbindung an die indische Demokratie beizutragen und der jahrzehntelangen Vernachlässigung der Gebiete etwas entgegenzusetzen.
Herzstück des Engagements ist das „Cultures of Peace Festival“, das die Stiftung einmal im Jahr veranstaltet – eine Mischung aus kulturellen Events mit Literatur und Musik sowie politischer Debatte, an der sowohl Kulturschaffende als auch Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Politik und Medien teilnehmen. „Wir möchten, dass die Teilnehmenden aus dem Nordosten sich vernetzen, denn die sieben Staaten kommunizieren untereinander auch nicht viel“, sagt Festival-Leiterin Preeti Gill. „Gleichzeitig ist das Festival ein Forum, um den Nordosten im Rest des Landes bekannter zu machen.“
Denn das Wissen über den Nordosten tendiert gegen Null. In den Schulen erfahren junge Menschen nichts über diese Region. Sie kommt bisher im Lehrplan nicht vor. Und auch Preeti Gill selbst wusste kaum etwas über den Nordosten, als sie sich vor vielen Jahren zum ersten Mal für den feministischen Verlag Zubaan dorthin aufmachte, um nach interessanten Autorinnen zu suchen.
Die Menschen aus dem Nordosten sind aber nicht nur anders, ethnisch heterogener, sie sind auch liberaler als in anderen Teilen Indiens. „Die jungen Frauen sind ganz anders gekleidet – westlicher und moderner als im Übrigen Indien“, sagt Harneit-Sievers. Und gerade wegen dieser relativen Freizügigkeit werden sie auf rassistische Weise angefeindet oder wie Freiwild behandelt, wenn sie wegen des Studiums oder eines Jobs außerhalb des Nordostens in „Mainland“ Indien leben.
Mangelnde Akzeptanz ist indes nur die eine Seite. Der Nordosten ist andererseits durch einen starken Eigenständigkeitswillen und Sezessionsbewegungen gekennzeichnet. Die Bevölkerung dort hat massiv unter Gewalt gelitten: Auseinandersetzungen mit der Armee, Notstandsgesetze, Rebellen, die auch andere als politische Interessen mit Waffen durchsetzten. Viele sind traumatisiert – von der Brutalität der Armee ebenso wie von der der Rebellen.
Die Frauenorganisation CAFI in dem Bundesstaat Manipur, die mehrere Jahre von der Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt wurde, wehrt sich gegen die Notstandsgesetze, die der Armee freie Hand lassen. Juristisch ist es praktisch nicht möglich, sich gegen Vergewaltigung oder Erschießungen zu wehren. Die betroffenen Teile des Nordostens fühlen sich wie besetztes Gebiet an. Demokratie und Rechtsstaat sind außer Kraft gesetzt und nicht mehr fassbar.
„Wir stehen jedoch vor einer wesentlichen Veränderung“, sagt Sanjoy Hazarika, Direktor des Centre for North East Studies and Policy Research an der Jamia Milia University in Neu-Delhi und einer der prominentesten Vertreter der nordöstlichen Region. „In vielen ehemals unruhigen Gebieten gibt es mittlerweile einen Waffenstillstand und Friedensgespräche.“ Die Aussicht auf Frieden eröffnet ganz neue Chancen, über Identität und Entfremdung zu debattieren und eine starke Zivilgesellschaft aufzubauen.
Das von der Heinrich-Böll-Stiftung unterstützte Centre for North East Studies and Policy Research engagiert sich gleichzeitig als Hilfsorganisation im Gesundheitsbereich, insbesondere im bevölkerungsreichen Assam. Nirgendwo in Indien sterben bei der Geburt so viele Mütter und Säuglinge wie im Bundesstaat Assam. „Es gab und gibt von Seiten der Politik keinen Plan, wie man diese Menschen erreichen kann“, so Hazarika. Also sammelte er Spenden und erfand die Bootskliniken. Sie fahren zur Behandlung in die entlegensten Gegenden. „Es hat nichts Romantisches, sondern ist sehr harte und gefährliche Arbeit. Dennoch mögen die jungen Ärztinnen und Ärzte diesen Job, denn niemand kommandiert sie herum.“
Hazarika geht es nicht allein um medizinische Hilfe, sondern um politische Intervention und Grundrechte. „Wie machen ihnen klar: das ist kein Almosen, ihr habt Rechte. Der Staat muss sich um eure Bedürfnisse kümmern.“
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Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers "Für Demokratie - Vom Engagement der Heinrich-Böll-Stiftung in der Welt" und wurde im Rahmen der gleichnamigen Publikation erstellt.