Das Abkommen von Dayton hat Frieden auf dem Balkan geschaffen. Doch das zweite Friedensjahrzehnt hat wesentlich weniger Fortschritt gebracht als erwartet. Immer wieder schüren Drohungen die Angst vor Konflikten.
Seit dem Herbst 1995 ist viel nachträgliche Weisheit geflossen über die Qualität und die Tragweite des Friedensabkommens, das in Dayton ausgehandelt und in Paris unterzeichnet wurde. Memoirenhafte Anekdoten aus der Militärbasis in den USA erzählen von Isolation, Nervosität, Zigaretten, Whiskey, dem metaphorischen in die Zange nehmen, verpassten Gelegenheiten, die "Lage vor Ort" um einige Kilometer zu verschieben…
Doch das Abkommen, das den Krieg beendet hat, das Abkommen, das viele von Anfang an als Provisorium empfanden, das Abkommen, mit dem ein institutioneller Rahmen geschaffen wurde, der derart hybridisiert ist, dass er sich damit zu Recht als Unikat heraushebt, hat Frieden gebracht.
Brudermörderischer Frieden: die Tücken der asymmetrischen Konsoziation
Die Komplexität des vom Daytoner Friedensabkommen verordneten institutionellen Arrangements ist seit seiner Entstehung Gegenstand zahlreicher und argumentativ kritischer Rückblicke sowohl einheimischer als auch internationaler Expert/innen. Die locker miteinander verbundenen, in vielen relevanten Bereichen autonomen und vollkommen unterschiedlich strukturierten Bestandteile wurden willkürlich "Entitäten" genannt. Auf der semantischen Ebene ist eine Entität "weder Fisch noch Fleisch", etwas mehr als eine reine Verwaltungseinheit, etwas weniger als ein parastaatliches Territorium mit dem Potenzial zur Verselbständigung. Aber der Schlüssel zum Verständnis dieses scheinbar komplizierten Konstrukts ist im Grunde genommen sehr einfach: die durch das Friedensabkommen hergestellte Staatsordnung ist das direkte Resultat kriegerischer Handlungen und beruht auf ethnischer Teilung.
Trotz der Zerstörungen und Teilungen machte das Land, bei einem starken Engagement der internationalen Gemeinschaft, Jahr für Jahr langsam aber sicher Fortschritte durch die Entwicklung ihrer Institutionen, Dialoge und Kompromisse. Aber die Grundeinstellungen sind von Beginn an so gestaltet, dass es so gut wie keine wesentlichen Veränderungen gibt. Das zwischenethnische Vertrauen wurde sehr langsam und mühevoll wieder hergestellt und ist deswegen noch immer sehr fragil – trotz der Tatsache, dass seit nunmehr 20 Jahren Frieden herrscht, schüren periodisch auftretende Drohungen mit wieder aufflammenden Konflikten noch immer Angst, Panik und Psychosen, auch wenn sie noch so unbegründet sind. Diesbezüglich unterscheiden sich die Jahre 2015 und 1995 kaum voneinander, zumindest was die Rhetorik angeht. Die bis 2005 erzielten Erfolge, einschließlich der paradoxal erfolgreichen Militärreform, bei der die drei "Kriegsparteien" zu einer komplizierten, aber einheitlichen Streitkraft umgewandelt wurden, sind größtenteils das Ergebnis des starken internationalen Einflusses, den die Menschen in BiH mittlerweile zu schätzen wissen.
Dennoch dominiert bei der politischen Elite auch weiterhin die in den Neunzigern ausgearbeitete Matrix der Konflikte. Trotz des bis zum Jahr 2005 konsolidierten Friedens und einer einigermaßen erholten Wirtschaft brachte das zweite Friedensjahrzehnt wesentlich weniger Fortschritt, als die Optimisten zu dieser Zeit erwartet hatten. Der Rückgang des internationalen Interesses und des Engagements hat ein günstiges Klima für die Aufrechterhaltung und Erneuerung der Spannungen geschaffen. Das wesentliche Problem liegt im Fehlen des politischen Willens, der für eine verfassungsmäßige Umwandlung des Staates notwendig ist. Die Unvollkommenheiten Daytons könnten beseitigt werden – es gibt Dutzende Initiativen in diese Richtung. Von theoretischen Erörterungen formeller, halb-formeller und informeller Expertenteams bis zu praktischen Initiativen unter dem Patronat der angesehensten Diplomat/innen der westlichen Mächte wurde viel unternommen – aber Jahr für Jahr scheiterten selbst Versuche von rein kosmetischen Eingriffen.
Bis heute wurde das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg aus dem Jahr 2009, mit dem der bosnische Rom Dervo Sejdić und der bosnische Jude Jakov Finci praktisch bewiesen haben, dass die Staatsform auf sehr direkte Weise Minderheiten diskriminiert, nicht vollständig umgesetzt: jahrelang wird auch über dieses Urteil verhandelt, und man versucht, über dieses Thema auch schwerwiegendere Probleme des zwischenethnischen Kräftegleichgewichts übers Knie zu brechen.
Die kommenden 20 Jahre
Während in Bosnien-Herzegowina die politische Elite auf strategischer Ebene geneigt ist, 1996 zu recyceln, mit den gleichen Zielen im Sinn und der gleichen Rhetorik, hat sich die Welt gewandelt. Erst nahm das Interesse der USA für Bosnien-Herzegowina (BiH) und die Region diskret, aber dramatisch ab. Daraufhin begann auch die EU nach anfänglichem Enthusiasmus des vergangenen Jahrzehnts, als man in Brüssel noch glaubte, dass BiH einer der wichtigsten Faktoren für die Befürwortung eines gemeinsamen außenpolitischen Auftretens sein würde, langsam aber stetig das Interesse und die Initiative für BiH zu verlieren. Gegenwärtig führen die weltweiten Veränderungen Bosnien-Herzegowina noch weiter weg von der Spitze der Prioritätenliste. BiH ist auch für seine Nachbarstaaten, die Mit-Unterzeichnerinnen des Daytoner Abkommens, keine Priorität mehr. Auch wenn Kroatien und Serbien in der hiesigen Öffentlichkeit sehr oft (und völlig zu Unrecht) als die "Garanten von Dayton" dargestellt wurden, beruht das Friedensabkommen doch auf den Garantien eines Konsens der Großmächte der Kontaktgruppe, und nicht auf dem guten Willen der Nachbarn, deren Unterschrift auf dem Friedensabkommen nicht etwa ein Nachweis ihres "Prestiges" oder ihrer "Bedeutsamkeit" war, sondern eher die Bestätigung ihrer schmählichen Beteiligung an dem Konflikt.
Bedenkt man die Veränderungen im äußeren und die Kontinuität im inneren Kontext Bosnien-Herzegowinas, sind verschiedene Lösungen möglich. Leider ist auch ein pessimistisches Szenario nicht ausgeschlossen, in dem der Status Quo so lange fortgeführt wird, bis er in sich zusammenbricht... Aber es gibt auch Platz für einen gemäßigten Optimismus: sollte sich die Dynamik der Beziehungen zwischen der EU und BiH mittelfristig vom halbtoten Punkt weg bewegen und der Staat zumindest mit kosmetischen Reformen den "EU-Weg" fortsetzen, wird das Land eine vollwertigen EU-Mitgliedschaft erreichen. Fragwürdig dabei ist die Aufrichtigkeit der lokalen politischen Eliten in ihrer Entscheidung für diesen Weg – das zeigen die Vorgehensweisen des letzten Jahrzehnts. Völlig außer Frage steht jedoch das Interesse der Bürgerinnen und Bürger Bosnien-Herzegowinas daran, Fortschritt und eine gesicherte Zukunft durch europäische Werte zu suchen, in einer Gemeinschaft, die den alten Kontinent verbindet.
Dieses Interesse wurde durch zahlreiche Initiativen, direkten oder indirekten Einsatz für die EU-Integration, durch unzählige Projekte der Zivilgesellschaft, aber auch im Alltag bekundet: das reale Leben, das sich jenseits der medialen Zusammenstöße der politischen Titanen abspielt, unter dem Vorhang der schweren Worte und der hohen Politik, führt die Menschen unausweichlich zueinander.
Die Öffentlichkeit wurde 2008 von der Nachricht über das Verschwinden des Original-Exemplars des Daytoner Friedensabkommens in BiH erschüttert. Damals wurde das Problem des verlorenen Exemplars gelöst, indem man eine "Original-Kopie" aus dem Pariser Archiv zugesandt bekommen hat. Es wäre gut, auf solch eine Art eine "Original-Kopie" für Hoffnung auf eine bessere Zukunft bekommen zu können. Aber für eine bessere Zukunft werden - neben dem weiteren Engagement der internationalen Gemeinschaft - die Bemühungen der Bürgerinnen und Bürger Bosnien-Herzegowinas ausschlaggebend sein.
Übersetzung ins Deutsche: Alma Sukić, Büro Sarajevo der Heinrich-Böll-Stiftung