Restart für Bosnien und Herzegowina: Demokraten stärken, Ethnokartelle entmachten

25 Jahre nach Ende des Krieges ist es an der Zeit, den andauernden Kalten Krieg - in und gegenüber Bosnien und Herzegowina - zu beenden. Höchste Zeit zudem, endlich auch Frauen und ihre Vorstellungen von einer friedlichen Zukunft einzubinden. Weltweit belegen Studien, dass Frauen in Friedensprozessen nachhaltigere Ergebnisse erzielen - dieses gestaltende Element fehlt in Bosnien bislang zur Gänze.

Human Rights
Teaser Bild Untertitel
Human Rights

Es waren gezielte Schüsse, die Marko Radić Mitte November 2020 in Mostar vor seinem Wohnhaus niederstreckten. Nach zwölf Jahren Haft war der bosnische Kroate erst seit 2019 wieder auf freiem Fuß, zuvor verurteilt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wegen Mordes und Vergewaltigung im Lager 'Vojno' bei Mostar. Die Taten geschahen im Bosnienkrieg (1992-95), als die Kroaten in der Herzegowina einen Krieg gegen alles Nicht-Kroatische führten.

Nach der Erschießung Radićs saßen sie Mitte November dann da und huldigten auf der Trauerfeier dem verurteilten Verbrecher: Frauen in der ersten Reihe, Politiker der nationalistischen kroatischen HDZ BiH. Jener Partei, die nun im Mostarer Wahlkampf eine „Stadt mit europäischen Standards“ verspricht. Jene Partei, die sich mit ihrem Chef Dragan Čović in den letzten Jahren zu einem der wirkungsmächtigsten Blockierer von Reformen in Bosnien entwickelt hatte.

Wenige Wochen zuvor hatte es ein anderes Begräbnis, an einem anderen Spielort, gegeben. Diesmal wurde im serbisch-dominierten Landesteil, der Republika Srpska (RS), der verurteilte Kriegsverbrecher Momčilo Krajišnik begraben, nachdem er an den Folgen des Corona-Virus gestorben war. Der serbische Vertreter im bosnischen Staatspräsidium, Milorad Dodik, der es sich zu einem Hobby gemacht hat, serbischen Kriegsverbrechern zu huldigen, forderte für den verstorbenen Kriegsverbrecher gar die Abhaltung einer offiziellen Schweigeminute, schließlich sei Krajišnik der Gründer der Republika Srpska, so die Begründung.

25 Jahre nach dem Friedensschluss von Dayton bejubeln Kroaten und Serben ganz offen jene, die einst im Bosnienkrieg töten ließen, die mordeten und vergewaltigten. Der Friedensschluss, der am 21. November 1995 mit internationaler Politprominenz im US-Bundestaat Ohio öffentlichkeitswirksam orchestriert worden war, vermochte zwar die einstigen Kriegshandlungen zu beenden, die Ideologien dahinter indes leben auch heute noch wirkungsmächtig nach. Nicht zuletzt durch hochrangige Amtsinhaber.

Um zu verstehen, warum in Bosnien Krieg geführt wurde, muss man ins Jahr 1991 zurückgehen: Damals trafen sich die Präsidenten der Jugoslawischen föderalen Staaten, Franjo Tuđman für Kroatien und Slobodan Milošević für Serbien, in Karadjordjevo und einigten sich dort auf die Aufteilung Bosniens.

Die Ausrufung der Republika Srpska war in der Folge der Startschuss für eine serbische Vernichtungspolitik gegen alles Nicht-Serbische, die im Juli 1995 in dem Völkermord in Srebrenica kulminierte. Mehr als 8000 muslimische Jungen und Männer wurden umgebracht, da die UNO-Truppen den Menschen in der Schutzzone eben eines nicht boten: Schutz. Exekutiert wurde der Gewaltexzess unter dem serbischen General Ratko Mladić.

In der Herzegowina vollzog sich ein ähnlich menschenverachtendes Vorgehen: Hier riefen die Kroaten den Parastaat Herceg-Bosna aus und begannen, die Herzegowina zu „säubern“, Bosniaken und Serben passten nicht in das Bild einer ethnisch reinen Gebietseinheit. Die sechs Hauptverantwortlichen dieses gewaltsamen Unterfangens wurden vom Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag zu insgesamt 111 Jahren Haft verurteilt.

Die Richtersprüche durch das internationale Gericht haben indes kaum eine heilende Wirkung zu entfalten vermocht. Im Gegenteil, in trotziger Pose halten heute beide Seiten die angeblichen Helden und deren brutale Verbrechen hoch. In Mostar etwa flattern im westlichen, kroatisch dominierten Teil, nach wie vor die Flaggen des Parastaates Herceg-Bosna. Dragan Čović düpierte Ende November gar den UN-Sicherheitsrat bei einer Anhörung, indem er im Hintergrund die Flagge des Parastaates präsentierte, in dessen Namen unter anderem Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden.

Kroatien und Serbien bringen Friedensordnung in Gefahr

Dass ausgerechnet das jüngste EU-Mitgliedstaat Kroatien seine Unterstützung für die kriegerischen Agenden der neunziger Jahre im Nachbarland Bosnien und Herzegowina nicht abgelegt hat, findet interessanterweise in Brüssel kaum Beachtung. In Permanenz mischen sich der kroatische Premier Andrej Plenković und der neu gewählte kroatische Präsident Zoran Milanović in die inneren Belange Bosnien-und Herzegowinas ein. Statt die begangenen Verbrechen aufzuarbeiten, schürt Zagreb gezielt Spannungen im Nachbarland.

In Belgrad unterstützt seinerseits Aleksandar Vučić seinen serbischen Brückenkopf in Banja Luka. Es ist eine unheilvolle Allianz von Nachbarn mit zweifelhaften Agenden, die von kroatischen und serbischen Extremisten in Bosnien, allen voran Dragan Čović und Milorad Dodik, für ihre innenpolitische Obstruktionspolitik genutzt wird.

Den Traum, ethnisch reine Gebiete und Kontrollräume in Bosnien zu schaffen, ein Groß-Serbien und ein Groß-Kroatien – diese Kriegsziele der neunziger Jahre verfolgen beide Blöcke noch immer, nur dass die kroatische Agenda diesmal mit den „Föderalisierung“ bzw. „dritte Entität“ verbrämt wird, während Dodik ganz offen die Vereinigung der Republika Srpska mit Serbien propagiert.

Der ehemalige Hohe Repräsentant Christian Schwarz-Schilling kritisiert daher eindringlich, Kroatien und Serbien behandelten Bosnien wie eine Kolonie. Sie brächten dadurch die Friedensordnung auf dem Balkan in Gefahr, warnt der Deutsche eindringlich.

Tatsächlich haben sich die Akteure in den letzten Jahren immer weiter radikalisiert, die innere Zersetzung Bosniens läuft in vollem Gange. Gezielt nutzen Kroaten und Serben dabei die Schwächen der in Dayton verabschiedeten Verfassung aus, um mittels Hassrhetorik und Blockadepolitik die bosnischen Institutionen nachhaltig zu schwächen und dadurch eine Funktionalität des Gesamtstaates zu unterminieren.

Auf diese Art und Weise wird die Dayton-Verfassung vorrangig dazu missbraucht, die drei existierenden Ethno-Zentren zu zementieren; die bosniakische Partei der Demokratischen Aktion (SDA) des ehemaligen Staatsgründers Alija Izetbegović ist in diesem Kontext mit von der Partie. Dabei bleibt der statebuilding-Prozess seit Jahren auf der Strecke.

An der immer wieder beschworenen Zukunft Bosniens in der EU haben alle drei Ethno-Clans denn auch wenig Interesse, sie nutzen das politische System vielmehr weitestgehend zur Selbstbereicherung und Ressourcenausbeutung. Die Kaperung der staatlichen Institutionen durch die nationalistischen Parteien ist nahezu komplett, Korruption ist endemisch - das Land ist daher weit abgeschlagenes Schlusslicht in der Region auf dem EU-Integrationspfad. Gestaltungsansätze zur Lösung der drängenden ökonomischen und ökologischen Probleme sucht man vergeblich – einer Studie der Weltbank zufolge würde Bosnien und Herzegowina derzeit 100 Jahre benötigen, um beim Lebensstandard mit Rest-Europa aufzuschließen.

Historischer Friedensschluss mit Kollateralschäden

Dennoch muss der historische Vertragsabschluss von Dayton heute hinreichend gewürdigt werden, da das Abkommen sein vorrangiges Ziel erreichte: Die grausamen Verbrechen an der Bevölkerung nach drei Jahren zu beenden. Die Internationale Gemeinschaft hatte endlich, wenn auch viel zu spät, erkannt, dass man nach dem eigenen Versagen insbesondere im Kontext des Genozids in Srebrenica handeln musste.

Und so war es ein echtes Verdienst, dass man nach wochenlangen Verhandlungen im November 1995 die Kriegsparteien an einem Tisch versammelte und zunächst zu einem Handschlag und schließlich zur Unterzeichnung des Friedensvertrags bewegen konnte.

Der Preis indes für den vereinbarten Frieden war hoch: Die Anerkennung der ethnischen Säuberungen in der Republika Srpska, die zu einer eigenen Entität wurde, die Festschreibung von Unrecht und Ungleichheit nach zweifelhaften Prinzipen. Geschaffen wurde eine dreiköpfige Ethnokratie, bei gleichzeitiger Abschaffung von Individual- und Bürgerrechten – mit diesen Kollateralschäden hat Bosnien bis heute zu kämpfen.

Die Dayton-Verfassung rückt eine verzerrend ethnisierte Betrachtungsweise ins Zentrum, die den drei konstitutiven Völkern der Bosniaken, Kroaten und Serben eine besondere Rolle im Staate zuschreibt. Die Grundgesamtheit der Bevölkerung, die Bürger/innen, der citoyen wurden de facto enteignet, der Mensch als Individuum degradiert - er existiert allein als Instrumentarium der ethnischen Machtkartelle.

Dass die systematische Diskriminierung, die die Dayton-Verfassung schuf, nicht vereinbar mit europäischen und internationalen Rechtsnormen ist, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg bereits in mehreren Fällen grundlegend festgestellt. Im Fall Sejdić/Finci haben ein Rom und ein Jude geklagt, sie dürfen bislang nicht für ein Präsidentenamt kandidieren. Azra Zornić will sich nicht einordnen lassen in die ethnischen Kategorien, sie kann jedoch nicht einfach als Bürgerin kandidieren. Und Ilijaz Pilav (Bosniake), Samir Šlaku (Albaner) und Svetozar Pudarić (Serbe) sind allesamt Minderheiten in ihrem jeweiligen Wohngebiet, die aufgrund ihres ethnischen Hintergrundes nach der Dayton-Logik ebenfalls nicht für Präsidialämter antreten dürfen.

Alle diese Fälle belegen, dass mit der Dayton-Verfassung ein wilder Irrgarten an Diskriminierungen und Erpressungen geschaffen wurde. Dieses Unrecht gegenüber Individuen, die entweder nicht Mitglied der jeweils dominierenden Ethnie sind oder sich den konstitutiven Völker nicht zurechnen, zerfrisst das System von innen.

Politische Debatten sind als Konsequenz selten Sachdebatten in Bosniens Politikalltag, sie werden fast ausschließlich durch ethnisierte Schein-Auseinandersetzungen ersetzt. Die Postenvergabe geschieht ebenfalls falls ausschließlich nach ethnischer Zugehörigkeit denn nach Fachkompetenz – so kommt es, dass in höchsten Ämtern Personen einzig aus dem Grunde sitzen, da sie Mitglied einer nationalistischen Partei oder Familienangehörige einer der maßgeblich den Takt angebenden Clans sind. Der Mangel an echter Expertise dieser Günstlinge führt zu systemischem Nepotismus und bad-Governance. Besonders besorgniserregend ist die Lage im Justizwesen, wo ebenfalls kaum unabhängige Vertreter sitzen, auch hier dominieren willfähige Politgünstlinge; die OSZE konstatiert eine „Krise der Ethik“ in diesem sensiblen Bereich.

Insgesamt hat der Dayton-Vertrag, dessen Annex 4 als Verfassung Bosniens fungiert, eher den „Charakter eines Projektes denn einer klaren Leitung“, schlussfolgern die Autoren eines Grundsatzbandes über die Verfassung Bosnien und Herzegowinas.

Und eben diese fehlende Leitung nutzen die nationalistischen Kräfte seit Jahrzehnten aus, um die geschaffenen Ethnokratien rigoros abzusichern, um selber an der Macht zu bleiben und Reformen jeder Art zu torpedieren.

Rückschritte in der Demokratieentwicklung

Ganz offen opponieren nationalistische Vertreter gegen Individualrechte. In Brüssel wird gezielt über die Zagreber Schwesterpartei HDZ das Narrativ einer vermeintlichen Benachteiligung der Kroaten in Bosnien gestreut – dass die Realität anders aussieht, dass tatsächlich die sogenannten Anderen (Juden/Roma, Bürger/innen) von den drei Ethnoblöcken diskriminiert werden, davon ist keine Rede.

Und so walten die Ethnokraten weitestgehend ohne Korrektive – eine Tatsache, die nicht zuletzt die Internationale Gemeinschaft, allen voran die EU, maßgeblich mit zu verschulden hat.

2006 wurde der von den Vereinten Nationen eingesetzte Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina de facto entmachtet, indem man einem zweifelhaften „ownership“-Ansatz unter Ägide der EU Vorrang gab. Während bis dahin wichtige Erfolge auf dem Weg zu einer Normalisierung der internen Beziehungen und Denationalisierung der Politik erzielt wurden (gemeinsame Armee/Auto-Kennzeichen/Hymne), ist die Entwicklung seither in evidenter Weise rückwärtsgerichtet; mitunter wurden Reformen gar rückabgewickelt.

Die Republika Srpska und gar Milorad Dodik als Präsidialvertreter promovieren offen und mit Rückendeckung Moskaus und Belgrads das Ende der bosnischen Staatlichkeit und die Sezession aus dem Staatsverband. Die SDA reagiert auf diese Provokationen regelmäßig mit Kriegsrhetorik. Die Kroaten streben eine Zementierung der Parteiendominanz der HDZ BiH an, anderen Kroaten (jene, die nicht Teil der extremistischen HDZ sind) wie dem amtierenden kroatischen Vertreter im bosnischen Staatspräsidium, Željko Komšić, sprechen sie jegliche Legitimität ab.

Mit derart irreleitenden Diskussionen und Manipulationen führen die beiden Hauptstörer eines bosnischen Demokratisierungsprozesses, Dragan Čović und Milorad Dodik, die Internationale Gemeinschaft im durch Dayton geschaffenen Labyrinth der Nationalexzesse seit Jahren erfolgfreich an der Nase herum. Dass ausgerechnet der HDZ-Chef vor diesem Hintergrund von dem amtierenden EU-Delegationsleiter Johann Sattler öffentlich als „Champion“ auf dem EU-Integrationspfad gelobt wird, erscheint nicht nur unangemessen, sondern auch kontraproduktiv.

Demokratiepolitisch steht Bosnien heute jedenfalls in vielerlei Hinsicht schlechter da als vor zehn Jahren, in der bewusst provozierten Dysfunktionalität haben sich die nationalistischen Eliten komfortabel eingerichtet. Bei den Bürger/innen Bosniens aber macht sich angesichts dieser Entwicklungen ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit breit, zu Zehntausenden packen sie ihre Koffer und verlassen das Land.

Europäische Union muss Verantwortung übernehmen

Mit den genannten nationalistischen Akteuren und ihrer Obstuktionspolitik steht Bosniens staatliche Unversehrtheit zunehmend auf dem Spiel. Auf die aktuellen Gefahren wies auch der amtierende Hohe Repräsentant Valentin Inzko im November 2020 in seinem regelmäßigen Report an den Uno-Sicherheitsrat hin.

Damit steht die Internationale Gemeinschaft vor dem Scherbenhaufen ihres Bosnien-Engagements - in der letzten Dekade gab es kaum nennenswerte Reform-Fortschritte. Zuletzt wurde mit zweifelhafter Unterstützung der EU und der USA ein sogenanntes Mostar-Abkommen begleitet, das zwar nach zwölf Jahren Blockadepolitik durch SDA und HDZ erstmals wieder die Durchführung von Lokalwahlen vorsieht, das zersetzende Ethnoprinzip aber de facto weiter legitimiert.

Am Jahrestag des Dayton-Abschlusses, dem 21. November, reiste der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nach Sarajevo und erklärte: Bosniens Zukunft liege in der EU. Tatsächlich steht Bosnien heute näher bei Karadjordjevo als vor den Toren Brüssels, die Angriffe der Serben und Kroaten von innen und außen, die Macht korrupter Ethnokartelle, die zementierten state-capture-Strukruren - statt die Resilienzkräfte zu stärken, den überaus relevanten statebuilding-Prozess gezielt weiter zu verfolgen und auf Rechtsstaatlichkeit zu fokussieren, ließen die Internationalen jahrelang ausgerechnet jene Kräfte walten, die kein Interesse an einem funktionierenden Gesamtstaat Bosnien und Herzegowina haben. Ein folgenreicher Fehler.

Will die EU mit der Aussage ihres Chefdiplomaten Ernst machen, muss sie als maßgeblicher Akteur wieder sichtbar werden. Dann wird es Zeit, dass Brüssel ernsthaft Verantwortung übernimmt und jene Prinzipien stärkt, die maßgeblich sind für ein demokratisches Miteinander.

Vor diesem Hintergrund sollte die EU-Delegation in Bosnien und Herzegowina von dubiosen Hinterzimmer-Deals mit Nationalisten wie in Mostar endgültig Abstand nehmen. „Wir sind kein Projekt, wir sind ein Staat“, erbost sich Amna Popovac, eine Mostarer Aktivistin und Politikerin angesichts des umstrittenen Agreements, das in klandestiner Art und Weise, unter Ausschluss der Bürger/innen und der Oppositionspartien realisiert wurde.

Das Beispiel Mostar zeigt auf, dass die Internationale Gemeinschaft seit Jahren ausgerechnet jene Akteur/innen ignoriert und marginalisiert, die die eigentlichen Europäer sind und daran arbeiten, dass Bosnien demokratischer wird. Um in der Region nicht weiter an Glaubwürdigkeit zu verlieren, sollte die EU daher endlich anfangen, gezielt und nachhaltig in partizipative Ansätze zu investieren. Fest steht: Ohne die strategische Einbindung von demokratisch gesinnten Akteur/innen in die politischen Entscheidungsprozesse wird es in Bosnien keine Demokratie geben.

Um nachhaltige Demokratie-Schritte zu beförden, muss die EU alsbald die Daytoner Diskriminierungsmatrixen, die viel zu lange andauern, proaktiv beenden und die Umsetzung europäischer Standards einfordern. Die systemischen Diskriminierungen von Individuen müssen zu einem Ende gebracht werden. Die Urteile im Fall Sejdić/Finci und allen anderen Fällen, die vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof verhandelt wurden, müssen endlich implementiert werden - ohne Ausreden und ohne weitere Verzögerungen.

Ebenso muss das Apartheidsystem „Zwei Schulen unter einem Dach“ beendet werden, in dem bosniakische und kroatische Kinder vor allem in der Herzegowina auf menschenverachtende Weise nach ethnischen Gesichtspunkten voneinander getrennt werden, um eine neue Generation von Nationalisten groß zu ziehen.

Vom Ende her denken: Demokratische Werte verteidigen

Um BiH zielgerichtet den Weg nach Europa zu ebnen, wäre die Internationale Gemeinschaft gut beraten, vom Ende her zu denken: Das erklärte Ziel ist eine Mitgliedschaft Bosnien und Herzegowinas in der EU - dazu sollte entsprechend auch fokussiert gearbeitet werden. Um neue Akzente auch gegen die Widerstände der politischen Akteure durchsetzen zu können, wäre die EU vor diesem Hintergrund gut beraten, mit der neuen US-Administration eine Art Task-Force zu formieren und relevante Meilensteine samt eines strikten Zeitfensters für einen nachhaltigen Reformprozess festzulegen. Erforderlich ist eine klare Exit-Strategie, um die Dauerschleife undemokratischer und antizivilisatorischer Praktiken, Kriegsglorifizierungen und die Verbreitung menschenverachtender Narrative zu beenden. In diesem Kontext erscheint ein Gesetz von übergeordneter Bedeutung, das die Leugnung von Kriegsverbrechen und die Glorifizierung von Tätern und Taten sowie deren Symbolen gleichermaßen unter Strafe stellt, ähnlich dem Holocaustleugnungsgesetz in Deutschland oder dem Verbotsgesetz in Österreich.

Nicht zuletzt sollte ein Sanktionsregime mit konkreten Maßnahmen - etwa die Einfrierung von Auslandskonten, Reisebeschränkungen etc. - definiert werden, um Hassredner und ihre Angriffe auf Staat und Verfassung künftig rigoros in ihre Schranken weisen zu können.

Das Ethnoprinzip fungierte bislang als Instrument totaler Machtausübung, etwa durch Erpressungen der Bürger/innen bei Wahlgängen. Die Lokalwahlen im November 2020 haben indes gezeigt, dass es genug Bürger/innen gibt, die den alten kriminellen Ethnokadern das Vertrauen entzogen haben. Sie wollen europäische Standards und keine zweifelhaften Kompromisse mit den mächtigen Ethnoclans zugunsten einer scheinbaren „Stabilität“ in der Region, die durch die Schaffung von kriminell unterwanderten Stabilokratien die ohnehin fragile Friedensordnung in den letzten Jahren nur noch weiter in Gefahr gebracht hat.

Deutschland - als Korrektiv unsichtbar

In diesem Kontext ist insbesondere auch die deutsche Außenpolitik gefragt, sich konstruktiv und nachhaltig in der gesamten Region des Westbalkan als gestaltende Kraft zu engagieren. Außenminister Heiko Maas forderte im Herbst 2020 im Bundestag, dass Kriegsverbrecher weltweit nicht straflos bleiben dürften, die Bundesregierung arbeite daher an einem Menschenrechtssanktionsregime in der EU. Dann aber wären auch klare Worte mit den politisch Verantwortlichen in Zagreb notwendig - das kroatische Parlament hatte 2017 geschlossen mit einer Schweigeminute einem der Haupttäter des Parastaates Herceg-Bosna gedacht. Kein Einzelfall, die regierende HDZ Kroatiens stützt immer wieder revanchistische Ansätze zur Verklärung der eigenen Kriegsvergangenheit.

Auch Serbien gehört klargemacht, dass weitere Störmanöver auf die demokratische Entwicklung Bosnien und Herzegowinas sowie auf die staatliche Souveränität nicht hingenommen werden. Es rächt sich nun, dass Berlin nicht über eine kohärente Balkanstrategie verfügt, statt dessen setzte man lange auf gute Kontakte zu dem vermeintlichen „Zugpferd“ Aleksandar Vučić.

Nicht zuletzt angesichts der zunehmenden Störfeuer durch Russland in der gesamten Balkan-Region, dessen Politik auf die Unterstützung von Nationalisten und Autokraten ausgerichtet ist, wären Berlin und Brüssel gut beraten, die viel beschworenen eigenen Werte zu verteidigen, insbesondere das Prinzip der Multiethnizität. Ob mit einem neuen High Representative, wie von Deutschland augenscheinlich neu in die Diskussion gebracht, oder mit dem amtierenden Hohen Repräsentanten, Valentin Inzko, der zuletzt eine Rückkehr zu einer härteren Gangart, einen „Paradigmenwechsel“ gegenüber den Nationalisten und Destrukteuren, angemahnt hatte, um nach dem gescheiterten ownership-Ansatz endlich Reformen durchzusetzen, ist erst einmal zweitrangig. Wichtig wäre in jedem Falle, die großkroatischen und großserbischen Ambitionen rigoros zu unterbinden, um in Bosnien den State-building und De-Nationalisierungsprozess nachhaltig abzustützen.

Denn Bosnien und Herzegowina ist in seiner Diversität nichts anderes als ein Spiegelbild Europas. Um dessen Diversität zu verteidigen, ist es unabdingbar, die Dayton-Phase nun in eine echte EU-Integrationsphase zu transformieren. Den Politiken von Slobodan Milošević, Franjo Tuđman, Radovan Karadžić, Ratko Mladić und den Herceg-Bosna-Protagonisten, vor allem aber ihren zündelnden Nachfolgern im Geiste, muss ein für alle Mal Einhalt geboten werden, will man nicht neue gewaltsame Konflikte in der Region provozieren.

25 Jahre nach Ende des Krieges ist es an der Zeit, den andauernden Kalten Krieg - in und gegenüber Bosnien und Herzegowina - zu beenden. Höchste Zeit zudem, endlich auch Frauen und ihre Vorstellungen von einer friedlichen Zukunft einzubinden[1]. Weltweit belegen Studien, dass Frauen in Friedensprozessen nachhaltigere Ergebnisse erzielen - dieses gestaltende Element fehlt in Bosnien bislang zur Gänze.

Es muss Schluss sein mit einer Politik, die ausgerechnet jene Kräfte im Stich lässt, die die eigentlichen Verbündeten eines friedlichen Europas sind. Eine Ära der Bürger/innen muss eingeläutet werden – sind es doch eben diese zivilen Akteur/innen, die in Bosnien Menschenrechte und Grundfreiheiten gegen alle Widerstände und Bedrohungen verteidigen. Sie benötigen endlich eine kompromisslose Unterstützung aller International Beteiligten, von Berlin über Brüssel bis nach Washington[2]. Denn sie sind die Garanten für einen dringend notwendigen Restart, die aus Bosnien und Herzegowina doch noch eine Erfolgsgeschichte machen können.

Sarajevo, November 2020

https://ba.boell.org/en/2019/03/25/karadordevo-and-territorial-ethnic-division-bosnia-and-herzegovina

https://ba.boell.org/en/2020/11/09/angriffe-auf-bosnien-und-herzegowina-kroatien-und-serbien-bringen-den-frieden-gefahr

https://avaz.ba/vijesti/bih/596805/bih-ce-trebati-100-godina-da-dostigne-standard-eu?amp=1

http://ba.n1info.com/English/NEWS/a489221/OSCE-A-crisis-of-ethics-in-Bosnian-judiciary-and-no-corruption-accountability.html

Steier, Christian/Ademovic, Nedim: Die Verfassung Bosnien und Herzegowinas, Kommentar, Herausgeber: Konrad-Adenauer Stiftung, 2010

https://www.klix.ba/vijesti/bih/sattler-u-mostaru-znamo-da-je-covic-sampion-evropskih-integracija/200429110

http://www.ohr.int/remarks-by-high-representative-valentin-inzko-to-the-united-nations-security-council-22/

https://ba.boell.org/en/2020/11/03/buergerzorn-mostar-die-eu-spricht-mit-der-mafia-nicht-mit-uns

https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/maas-bt-straflosigkeit/2410586

https://www.euronews.com/2017/12/01/war-criminal-in-the-hague-but-still-a-war-hero-in-croatia

 

 

[2] Recently, the new US president Jo Biden and his consultants for the Western Balkans Region formulated new ideas for a comprehensive democratisation process in Bosnia and Herzegovina: https://www.peacefare.net/2020/12/08/my-balkans-recommendations-for-president-biden/