Frauen, raus aus der Finsternis! Das Potenzial einer Frauenbewegung in Südosteuropa

Von einer Gleichstellung von Mann und Frau sind wir weltweit weitentfernt. In Südosteuropa werden seit Jahren nahezu alle politischen Entscheide weiterhin von Männern gefällt. Es ist an der Zeit, dass die Frauen endlich zusammenstehen und ihre Stimme im öffentlichen Raum zurückgewinnen.

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Am 25. November, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, versammelten sich hunderte Frauen in Santiago de Chile für eine Performance gegen die Gewalt an Frauen. Das Video[1] zur Performance verbreitet sich über soziale Medien in Windeseile bis nach Südosteuropa. Mittlerweile findet die Performance weltweit Nachahmerinnen, um auf die stets vorherrschende Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen und gegen das Patriarchat anzukämpfen.

Die Gewalt gegen Frauen ist der Ausdruck historisch gewachsener Ungleichheit zwischen Frauen und Männern, die bis heute anhält. Mehr noch, in den letzten Jahren erleben wir auf der ganzen Welt Rückschritte im Bereich der Gleichstellung von Mann und Frau. Verantwortlich dafür sind konservative, fundamentalistische und nationalistische Kräfte, welche alten Machstrukturen, Wertvorstellungen und starren Rollenbilder neuen Glanz verleihen. Traditionelle Werte und patriarchale Strukturen sind insbesondere in Südosteuropa noch weit verbreitet.

Viele Frauen aus Südosteuropa sind der Meinung, dass in der Zeit des Sozialismus die Stellung der Frau einiges besser war als heute. „Ich bin in Jugoslawien geboren und gross geworden. Während in vielen anderen Ländern die Frauen für Gleichberechtigung kämpften, hatten wir in Jugoslawien dieselben Recht wie die Männer“, so Aida Feraget, eine Frauenaktivistin aus Sarajevo, Bosnien und Herzegowina. Die Meinungen gehen allerdings auseinander, ob dem tatsächlich so war. Tatsache ist, dass seit dem Aufkommen des Neoliberalismus in den 90er Jahren in Südosteuropa die Rolle der Frau in der Gesellschaft neu definiert wurde. Die Frauen zogen sich zunehmend zurück aus dem Arbeitsmarkt, aus der Politik und den öffentlichen Debatten. Haus und Herd sollten wieder der richtige Platz für die Frauen werden.[2]

Diese Entwicklungen begünstigten in der Region die Entstehung einer männlichen Demokratie[3]. Tatsächlich werden bis heute nahezu alle politischen Entscheidungen von Männern gefällt. Dies aber nicht zum Vorteil der Länder, die im internationalen Vergleich in vielerlei Hinsicht sehr schlecht abschneiden: Die hohe Arbeitslosigkeit, die starke Luftverschmutzung in vielen Städten und die weitverbreitete Korruption sind nur drei Beispiele für das politische Versagen der männlichen Elite.[4]

Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist an der Tagesordnung

Die männliche Dominanz ist aber nicht nur im öffentlichen, sondern auch im privaten Leben in Südosteuropa immer noch deutlich spürbar. Der vermehrte Rückzug der Frauen aus dem öffentlichen Raum hat viele in eine wirtschaftliche Abhängigkeit getrieben. In Kombination mit den stets vorherrschenden traditionellen Werten und patriarchalen Strukturen, wurden Bedingungen geschaffen unter denen häusliche Gewalt zudem weitgehend akzeptiert wird.[5]

So erstaunt es nicht, dass Gewalt gegen Frauen und Mädchen in Südosteuropa noch immer an der Tagesordnung ist. Eine Studie der OSZE im Jahr 2019 zur Gewalt gegen Frauen in Südosteuropa zeichnet ein eindeutiges Bild: Rund jede zweite Frau war seit ihrem 15. Lebensjahr Gewalt ausgesetzt. In Albanien sind es 67%, in Bosnien und Herzegowina 48% und in Nord-Mazedonien 54%. Treffen kann es jede Frau. Wobei insbesondere ärmere Frauen mit Kindern betroffen sind.[6] „In der Tat ist Gewalt gegen Frauen in Südosteuropa immer noch weit verbreitet. Viele betroffenen Frauen gehen nicht zur Polizei, um sich Hilfe zu holen. Einer der Gründe ist, dass Gewalt in unserer Gesellschaft immer noch kulturell akzeptiert ist“, so Iris Luarasi, Direktorin der Counseling Line für Mädchen und Frauen in Tirana, Albanien.

Allein im Oktober sind in Bosnien und Herzegowina vier junge Frauen durch einen Gewaltdelikt ums Leben gekommen. Eine junge Aktivistin meint dazu: „Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der ich über mehr Morde an Frauen gelesen habe, die unbestraft oder ungeklärt blieben.“ Die Medien berichten über die Fälle, klammern aber entschieden aus, dass es sich bei den Opfern um Frauen handelt, die durch geschlechtsbedingte Gewalt ums Leben gekommen sind.

Dem Ausmass der Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen, muss gesellschaftlich dringend mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Neue Gesetze und Massnahmen gegen Gewalt reichen nicht aus. Denn Gewalt gegen Frauen ist sowohl Ursache als auch Folge von fehlender Gleichstellung der Geschlechter.

Schwächung der zivilgesellschaftlichen Stimme

In der Vergangenheit versuchten Frauen über ihr zivilgesellschaftliches Engagement, ihre Stimme im öffentlichen Raum zurückzugewinnen und für die Gleichstellung einzustehen. Viele dieser Frauen haben sich in Organisationen zusammengetan und über Jahre Aufgaben übernommen, die vom Staat nicht wahrgenommen wurden.

Ein Beispiel dafür sind die zahlreichen Frauenorganisationen in Südosteuropa, die Frauenhäuser betreiben. Die Organisationen bieten gewaltbetroffenen Frauen und ihren Kindern eine geschützte Unterkunft, Beratung und Begleitung. Viele dieser Organisationen erhalten wenig bis gar keine finanzielle Unterstützung von dem Staat, obwohl sie sich durch der Ratifizierung der Istanbul Konvention verpflichtet haben, finanzielle Mittel für die Umsetzung von Massnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen bereit zu stellen.[7]

Diese Frauen sind in eine zivilgesellschaftliche Falle getappt: Über Jahre übernehmen sie die Rolle des Lückenbüssers - mit Hilfe von internationalen Geldern und der freiwilligen Unterstützung von Frauen. Dies hat teilweise zu einer Entpolitisierung der Frauenorganisationen geführt.[8] Dazu kommt, dass in den letzten Jahren generell immer weniger internationale Gelder für Frauenorganisationen zur Verfügung standen. Die internationalen Gelder sind heute stark umkämpft. „Wir beobachten einen Rückgang an Solidarität zwischen den Frauenorganisationen“, so Zlatiborka Popova Momčinović, Professorin an der Universität von Ost Sarajevo. Der tägliche Kampf um die Sicherung der finanziellen Mittel und der damit einhergehende Mangel an Solidarität zwischen den Organisationen haben die Stimme der Frauen aus der Zivilgesellschaft drastisch geschwächt.[9]

Frauen zwischen Tradition und Feminismus

Neben der mangelnden Solidarität zwischen den Frauenorganisationen erweist sich die Formierung einer Frauenbewegung als schwierig, weil ein Generationenkonflikt zwischen jüngeren und älteren Aktivistinnen die Bemühungen erschwert. Die ältere Generation, die meisten davon Vertreterinnen von Frauenorganisationen, sehen davon ab, sich als Feministinnen zu bezeichnen. „Frauenaktivistinnen älterer Generation ziehen es vor, sich als Frauenrechtlerinnen und nicht als Feministinnen zu bezeichnen“, so Ermira Danaj, Frauenaktivistin aus Albanien. Das hängt damit zusammen, dass in Südosteuropa Feminismus bis heute als ein Konzept des Westens betrachtet wird und in der Region damit negativ konnotiert ist.[10]

Anders sieht es aus bei der jüngeren Generation von Aktivistinnen. „Ich bin eine Feministin“, sagt Kalia Dimitrova aus Skopje, Nord-Mazedonien. Zusammen mit einer Freundin hat sie die Plattform Meduza[11] ins Leben gerufen. Meduza ist eine Plattform, welche die Möglichkeit bietet, über Feminismus lesen und schreiben zu können. Die Plattform besteht seit einem Jahr und hat über 6000 Follower. „Als ich angefangen habe mich für Feminismus zu interessieren, habe ich festgestellt, dass der Zugang zu feministischer Literatur in meiner Sprache für die breite Bevölkerung verwehrt bleibt. Daraus ist dann die Idee dieser Plattform entstanden“, so Kalia Dimitrova weiter.

Auch in Albanien haben sich junge Frauen zusammengetan, um feministische Literatur zu übersetzen, zu drucken und gratis an Studenten zu verteilen. „Wir wollen einen Beitrag leisten zu einer feministischen Debatte. Über Feminismus wird viel zu wenige diskutiert. Nicht nur in Albanien, in der ganzen Region“, erläutert eine der Initiantinnen. Die jüngere Generation nutzt den Feminismus, um vorherrschende patriarchale Strukturen und traditionelle Werte in Frage zu stellen, denn die Überwindung dieser Werte und Strukturen ist für die Gleichstellung von Mann und Frau unabdingbar.

Starke Frauenbewegung als wichtigster Faktor für mehr Gleichstellung

Weltweit sind sich viele Frauenaktivistinnen einig: Um die Gleichstellung von Mann und Frau zu erreichen, braucht es eine starke Frauenbewegung. Deshalb sollte Feminismus nicht als spaltendes, sondern vielmehr verbindendes Element verstanden werden. Denn Feminismus vertritt die Grundannahme, dass alle Geschlechter zwar nicht gleich, aber gleichwertig sind und deshalb gleiche Rechte haben sollten. Er analysiert aus verschiedenen Perspektiven die Gründe, warum die Gleichberechtigung nicht erreicht ist und benennt Machtverhältnisse, welche die Gleichberechtigung verhindern.[12] Auslegungen von Feminismus gibt es viele, am Ende geht es doch aber darum, dass alle Menschen, unabhängig vom Geschlecht, ein selbstbestimmtes und gewaltfreies Leben führen können.

Von einer organisierten und politischen Frauenbewegung in Südosteuropa können wir heute noch nicht sprechen, aber an Frauenaktivistinnen und Ideen fehlt es nicht. „Gleichberechtigung kann nicht über Projekte erreicht werden. Gleichberechtigung lebt man. Es braucht einen gemeinsamen Willen und Solidarität“, so Stanoija Tesić, Frauenaktivistin aus Bratunac, Bosnien und Herzegowina. Nicht nur in Südosteuropa, weltweit ist es an der Zeit, dass Frauen zusammenstehen, Solidarität zeigen, die Stimme im öffentlichen Raum zurückgewinnen und gemeinsam für Gleichstellung kämpfen.

 

[2] Danaj, E. (2018): “I am not a feminist but...”: women’s activism in post-1991 Albania, Gender, Place & Culture, 25:7, 994-1009, S. 995.

[3] Einhorn, B. (1993): Cinderella Goes to Market: Citizenship, Gender and Women’s Movements in East Central Europe. London: Verso, S.148.

[5] Hughson, M. (2014): Gender Country Profile For Bosnia And Herzegovina. HTSPE Limited.

[6] OSCE (2019): Wellbeing and Safety of Women.

[8] Baert, P., Koniordos, S.M., Procacci, G. and Ruzza, C. (2009): Conflict, Citizenship and Civil Society. Routledge/ESA Studies in European Societies. Taylor & Francis.

[9] Baert, P., Koniordos, S.M., Procacci, G. and Ruzza, C. (2009): Conflict, Citizenship and Civil Society. Routledge/ESA Studies in European Societies. Taylor & Francis.

[10] Danaj, E. (2018): “I am not a feminist but...”: women’s activism in post-1991 Albania, Gender, Place & Culture, 25:7, 994-1009, S. 996.