Anpacken gegen Abwanderung und Schranken im Kopf

Bericht

Das „Zentrum für Bildung und Geselligkeit“ im zentralbosnischen Jajce zeigt vor, wie man sich mit Ausdauer, Ideenreichtum und Blick für das Wesentliche erfolgreich gegen ethnonationale Perspektivenlosigkeit wehren kann

Festung in Jajce
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Festung in Jajce

Anpacken gegen Abwanderung und Schranken im Kopf

 „Wo auch immer die neuen Autobahnen gebaut werden, um Jajce werden sie jedenfalls einen großen Bogen machen“, sagt Samir Agić lächelnd und deutet einladend auf die Eingangstür des kleinen Bürogebäudes.

Die mangelnde Anbindung an entstehende Infrastrukturprojekte ist für die 8000-Einwohnerstadt in den Bergen Zentralbosniens dennoch keines der Hauptprobleme, die Busse auf der Transitstrecke Sarajevo-Bihać spucken regelmäßig Rucksacktouristen und Reisegruppen aus Europa und den Golfstaaten aus.

Dass der Tourismus in Jajce als kräftiges Pflänzchen sprießt und Arbeitsplätze schafft, ist nicht zuletzt Agić und dem von ihm mitbegründetem „Zentrum für Bildung und Geselligkeit“ (COD) zu verdanken, das gegen die Perspektivenlosgkeit der Jugend kämpft und unter anderem 2009 die erste Tourismus-Webseite der Region ins Netz stellte. 

Mit seiner Vielzahl an Naturjuwelen und seiner Bedeutsamkeit als Hauptstadt des mittelalterlichen Bosnien hat Jajce eine gute Ausgangslage für den Fremdenverkehr, die es mittlerweile zu nutzen weiß. In der Festung kann man Bogenschießen, mehrsprachige Hinweistafeln erläutern die Geschichte von mittelalterlichen und neuzeitlichen Baudenkmälern. Nur über „den letzten Krieg“ schweigen die Besucherinformationen.  

Wasserfall im Zentrum von Jajce

Mit Ausländern gegen Lagerbildung

Das COD wurde 2002 von internationalen Projektpartnern wie dem Friedenskreis Halle als Jugendzentrum gegründet, um zur Aussöhnung der verfeindeten Gruppen aus dem Bosnienkrieg beizutragen.

Die Tatsache, dass die Bevölkerung auch nach den ethnischen Säuberungen der 1990er noch zu etwa gleichen Teilen aus katholischen Kroaten und muslimischen Bosniaken besteht und die Stadt zudem an die serbischen Gebiete der Republika Srpska grenzt, ließ die Standortwahl auf Jajce fallen. Bei Kriegsende stand die Gegend unter kroatischer Kontrolle und war ethnisch homogen, die Rückkehr der Bosniaken in den Jahren danach wurde misstrauisch aufgenommen und führte zu starken Spannungen sowie zur Ausbildung zweier getrennter Gesellschaften.

Um die junge Generation wieder zusammenzubringen, setzte das Jugendzentrum von Beginn an auf mehrere Projektsparten. Das eine Standbein sind Kursprogramme für Kinder ab drei Jahren, die Inhalte werden nach Interesse festgelegt. Heute bieten neun lokale und zwei ausländische Volontär/innen zweimal wöchentlich Zumba, Sprachkurse, Gitarrenunterricht, Basteln und Zeichnen oder Schauspiel an, das Angebot wird von 60-70 Kindern angenommen. Auch aus der benachbarten Republika Srpska kommen Kursteilnehmer/innen, bei vollkommen getrennten Strukturen in den meisten Bereichen keine Selbstverständlichkeit.

Kinder-Tanzgruppe

Vor allem in den ersten Jahren des COD waren die ausländischen Kursleiter/innen wertvoll für das Vertrauen der Bevölkerung, da sich viele Eltern weigerten, ihre Kinder von einer Bosniakin oder einer Kroatin unterrichten zu lassen.

Eine zweite Sparte des Zentrums ist internationale Vernetzung. Bei Jugendcamps im In- oder Ausland kommen Bosnier/innen aller ethnischen Gruppen mit anderen jungen Europäer/innen zusammen, als eines der ersten bosnischen Projekte ist das COD auch Teil des European Solidarity Corps und schickt Einheimische zu Auslandspraktika und -volontariaten. Bei der Zusammenstellung der Gruppen sei man gerne provokant, lacht Agić, und zwinge die Jugendlichen aus verschiedenen Landesteilen, sich miteinander auseinanderzusetzen. Meistens fährt man sehr gut damit, es seien schon viele ungewöhnliche Freundschaften entstanden.

Kunst- und Kreativ-Workshop

Auch das Medienprojekt Senzor, von 2005 bis 2017 laut Agić die einzige Regionalzeitschrift Bosniens, die nicht nur für eine der ethnischen Gruppen gemacht wird und mittlerweile in das Webportal Jajce Press umgewandelt wurde, ist ein großer Erfolg.

Die Lokalpolitik, in der sich kroatische und bosniakische Nationalisten die Posten aufteilen, beäugt die Versöhnungsarbeit des Zentrums mit Widerwillen. Agić betont, dass das Zusammenleben im Alltag inzwischen ohne gröbere Probleme ablaufe und sich Konflikte hauptsächlich auf der institutionellen Ebene abspielen würden.

Aufstand gegen Bildungs-Apartheid

Wieviel das COD seit seinem Bestehen zur Entwicklung eines Gemeinschaftsgefühls und zur Normalisierung des täglichen Umgangs in Jajce und seinem Umland beigetragen hat, zeigt unter anderem der Aktivismus von Schülerinnen und Schülern 2016 gegen die weitere ethnische Trennung durch Errichtung einer neuen bosniakischen höheren Schule. Bis dahin wurden alle Kinder nach der Grundschule gemeinsam nach kroatischem Curriculum unterrichtet. Die Proteste bewirkten das Einlenken der Politik, statt vollkommener Segregation erhalten die Kinder seitdem nur in den sogenannten „nationalen Fächern“ – Kroatisch bzw. Bosnisch und Geschichte – getrennten Unterricht.

Initiativen gegen die Trennung gab es in keiner anderen Gemeinde mit separaten Schulen. Der Erfolg beruhte auf dem von COD mitgeschaffenen positiven Klima und der Tatsache, dass gemeinsamer Unterricht für die Kinder die Normalität darstellte. Der Fall zeigt aber auch, wie schwer sich festgefahrene Strukturen bewegen lassen. Es brauchte anhaltenden Druck von unten und Unterstützung des OSCE und der Medien, um den Neubau abzuwenden. In Gemeinden, in denen seit Kriegsende wenig Kontakte mit der anderen Gruppe bestehen, nehmen die Schüler/innen die Segregation als normal an und hinterfragen sie nicht.

Eine der zwei höheren Schulen

Eine OSCE-Studie von 2018[1] kommt zum Schluss, dass die „Zwei Schulen unter einem Dach“ finanziell ineffizient sind und dem maroden bosnischen Bildungssystem vor allem durch die zusätzlich angestellten Lehrkräfte wichtige Ressourcen für Qualitätsverbesserungen abgraben. Viel schwerer wiege allerdings die Erziehung neuer Generationen, die ethnische Identitäten als fundamental und unveränderlich ansehen.

Der Fokus auf nationalistisches Geplänkel und ethnischen Proporz in allen Bereichen verhindert derweil effektive Lösungen für das größte Problem Bosniens: Arbeits- und Perspektivenlosigkeit der Jugend und dadurch bedingte Abwanderung. Auch hier ließ das Zentrum für Bildung und Geselligkeit die fatalistische Grundstimmung nicht auf sich beruhen und stellte Gegenmaßnahmen auf die Beine.  

Know-How und Unternehmergeist

Zusätzlich zum Projekt „Visit Jajce“, das die Stadt und ihr Umland seit 2009 als Tourismusziel bewirbt und Unterstützung bei der Entwicklung von Geschäftsmodellen wie Souvenierverkauf, Ausflugsleitung oder Airbnb bietet, hob das COD 2016 das „Jajce Business Center“ aus der Taufe.  

Unter diesem Namen vermitteln Agić und sein Team offene Stellen in den Betrieben der Region, bieten Um- und Nachschulungen an und leisten Hilfe bei der Firmengründung. Seit Bestehen des Business Centers haben sich bereits über 30 junge Einheimische selbstständig gemacht.

Den Wert dieser Arbeit hat mittlerweile nicht nur die Bezirksvertretung Jajce erkannt, die das Projekt mitfinanziert, sondern auch die nächstgrößeren Verwaltungseinheiten – der Kanton Zentralbosnien und die Föderation. Das kantonale Wirtschaftsministerium möchte das Know-How des COD nutzen und auch in anderen Bezirken derartige Business Center etablieren.  

Das Problem der Abwanderung treibt die Politik vor sich her und zwingt sie, erfolgreiche zivile Initiativen ernst zu nehmen und zu unterstützen, auch wenn sie die nationalistischen Ideologien untergraben. Nach offiziellen Zahlen hat der rund 250.800 Einwohner zählende Kanton Zentralbosnien von 2014 bis 2018 etwa 3000 Menschen verloren.[2] Ein Großteil davon sind junge Erwachsene, die Dunkelziffer liegt wohl höher. Auch das COD selbst wurde Opfer dieser Entwicklung, innerhalb eines Jahres wanderten 7 von Agićs 10 Mitarbeiter/innen aus. Heute zählt das Zentrum wieder 6 Vollzeitangestellte.

Bogenschießen auf der Festung Jajce

Trotz der mittlerweile passablen Zusammenarbeit mit der Politik und der guten Reputation im Bezirk betont Agić, wie vorsichtig das Zentrum abwägen muss, von wem es sich unterstützen lässt, um seine ethnische Neutralität zu wahren. Die sensible, suggestive Vorgehensweise und der Fokus auf die täglichen Bedürfnisse junger Menschen wurde mit nachhaltigem Erfolg belohnt, der über die Grenzen des Kantons hinaus einzigartig ist.

Andere unabhängige Institutionen wie das Zentrum für Jugendbildung (CEM) im Zentralbosnischen Verwaltungssitz Travnik gehen einen ähnlichen Weg wie das COD, bieten jedoch kein solches Spektrum an Aktivitäten an. Viele größere bosnische Städte besitzen dagegen gar kein Jugendzentrum und wenig Möglichkeiten für kreative außerschulische Aktivitäten. Ohne ausländische Finanzierung liegt der Schlüssel für das Aufbrechen ethnonationaler Verhaltensmuster also in weiten Teilen Bosniens bei den staatlichen Institutionen, die sich darauf gründen.

Hintergrund zum getrennten Schulsystem:

Infobox: Hintergrund zum getrennten Schulsystem