Europa und die Abschaffung der Menschlichkeit

Kommentar

In Bosnien und Herzegowina zeigen sich die brutalen Auswirkungen der EU-Flüchtlingspolitik jenseits der „Außengrenze“. Dass die Abschottung Europas die angebliche Krise gelöst habe, ist eine naive Vorstellung. 

Hungarian-Serbian border barrier

Man könne sich nicht von Not und Leid einfach abkoppeln, erklärte die deutsche Kanzlerin kürzlich bei einem Besuch des ungarischen Premiers Victor Orban, der bereits 2015 mit seinen rigorosen Maßnahmen demonstriert hat, dass er vom Prinzip der Menschlichkeit im Umgang mit Migrant/innen nicht besonders viel hält. Komplette Abschottung sei für sie keine Lösung, insistierte Merkel: „Die Seele von Europa ist Humanität.“

Man mag glauben, dass die Worte ernst gemeint sind, dass sie das Fähnlein des Anstandes trotz widrigster Umstände hochhalten will. Warum anders hätte sie die Zerreißprobe mit dem amoklaufenden Horst Seehofer und dessen nach rechts außen driftender Regionalpartei auf sich nehmen sollen? Warum hätte sie sonst bis zuletzt im Kreise der EU-Mitgliedstaaten immer wieder für eine angemessene Haltung in der Flüchtlingsfrage eintreten sollen, nahezu allein auf weiter Flur?

Derweil versuchten die CSU und andere Rechtsparteien eine Flüchtlingskrise herbeizureden, wo keine war. Im Vergleich zu den tatsächlichen Aufnahmeländern der weltweiten Flüchtlingsströme mutet die Situation in Deutschland eher entspannt an. Die Zahlen sind verglichen mit den Jahren zuvor rückläufig.

Die nun seitens der EU formulierte Abschottungspolitik führt indes dazu, dass das eigentliche Problem keinesfalls gelöst, wohl aber weiter nach Süden verlagert wird - in die europäische Peripherie, die ohnehin politisch äußerst fragil ist. Die Balkanroute, die der österreichische Rechtsaußenkanzler Sebastian Kurz angeblich erfolgreich geschlossen hatte, war de facto nie dicht. Neuerdings kommt es jedoch auf dieser Balkanroute zu regionalen Verschiebungen, die Europa alarmieren sollten.

Geflüchtete werden politisch instrumentalisiert

Seit Monaten stranden immer mehr Flüchtlinge in Bosnien und Herzegowina, dem nach wie vor instabilsten Gebilde in der Region. Das Nachkriegsland besticht durch ein hohes Maß an Dysfunktionalität, die nationalistischen Kräfte radikalisieren sich immer wieder gegenseitig, sie halten das Land seit Ende des Krieges 1995 in einem permanenten Ausnahmezustand.

In diesem ohnehin aufgeheizten politischen Kontext kommen nun Flüchtlinge aus Iran, Syrien und Afghanistan hinzu. Statt Hilfe anzubieten nutzen die bosnischen Politiker die Migrantensituation indes für innerpolitische Schaukämpfe und die Verbreitung von xenophober Hetze: Politikvertreter weisen auf die Gefahren durch die Flüchtlinge hin, andere offizielle Vertreter sehen den Tourismus in Gefahr, die von der Politik gelenkten Medien leisten bei den Negativ-Kampagnen unreflektiert Hilfestellung.

All dies stellt ein gefährliches Gebräu in einem Land dar, in dem ein Großteil der Bevölkerung in Armut lebt, in dem Tausende von Waffen nach wie vor unkontrolliert im Umlauf sind. Schon warnte die EU davor, die Flüchtlingssituation politisch zu instrumentalisieren.

Die Flüchtlinge – mutmaßlich sind es zwischen 4000 und 6000 – treffen vor Ort auf eine Mischung aus Ignoranz und Unvermögen, mit den neuen Gegebenheiten umzugehen. Nur wenige bosnische Politiker sind bereit, Verantwortung zu übernehmen. Vor wenigen Monaten sammelten sich die Flüchtlinge zu Hunderten in Parks in der Innenstadt der bosnischen Hauptstadt. Familien mit Kindern und Säuglingen sowie Alleinreisende aus Kriegsregionen waren dort über Wochen auf sich selber gestellt, von den lokalen oder staatlichen Stellen wurde keinerlei Hilfe organisiert. Nicht einmal mobile Toiletten wurden installiert, um wenigstens Frauen und Kindern den Aufenthalt erträglicher zu gestalten. Tagelang harrten die Betroffenen bei unwetterartigen Regengüssen im Freien aus. Einzig Freiwillige und Mitarbeiter des Roten Kreuzes organisierten spontan Essens- und Kleiderausgaben und besorgten Zelte.

Not wird vorsätzlich ignoriert

Als der türkische Präsident Erdogan zu seinem umstrittenen Wahlkampfauftritt nach Sarajevo kam, wurden die Flüchtlinge aus der bosnischen Hauptstadt zu einem Auffanglager in der Nähe von Mostar gebracht. Der Zwischenfall, der sich dann ereignete, belegt, wie die Flüchtlingssituation von den politischen Akteuren in Bosnien für Propagandazwecke genutzt wird. So verweigerten die politisch Verantwortlichen des Kantons Mostar den Bussen die „Einreise“, die Flüchtlinge, darunter zahlreiche Familien mit kleinen Kindern, mussten bei frühsommerlicher Hitze stundenlang in den Bussen ausharren – ein reueloser Coup der Kroatenpartei HDZ auf Kosten der Flüchtlinge.

In Salakovac nahe Mostar wurden die Ankömmlinge in eine Flüchtlingsunterkunft gebracht, das Rote Kreuz mahnte allerdings mehrfach öffentlich Hilfe an, es fehle an Geldern, um die Flüchtlinge adäquat mit Essen zu versorgen. Derartige Hilferufe kommen auch aus Bihac, einer Stadt im Nordwesten Bosniens. Hierhin zieht es einen Großteil der Flüchtlinge, von hier wollen sie über die Grenze nach Kroatien und weiter in andere Länder der EU.

Bihacs Bürgermeister bemüht sich, in einem schwierigen Umfeld und mit begrenzten finanziellen Mitteln Lösungen für die Flüchtlinge anzubieten – er ist einer der wenigen Politiker im Lande, der sich seiner Aufgabe nicht verweigert. Bereits vor Monaten kontaktierte er staatliche Stellen und bat um Unterstützung, vergebens: Angeschriebene Ministerien antworteten nicht einmal. So wird in Bosnien Politik gemacht. Politiker ignorieren ganz einfach den Handlungsbedarf – dabei ist es noch gar nicht allzu lange her, dass auch bosnische Kriegsflüchtlinge in Deutschland Zuflucht suchten und fanden.

Auf Kosten der Glaubwürdigkeit Europas

Ist es das, was Europa will? Dass die Verantwortung für Flüchtlinge jenen Staaten zufällt, die – wie Bosnien und Herzegowina – ganz offensichtlich nicht in der Lage oder willens sind, weder das eigene Gemeinwesen noch ankommende Flüchtlinge zu organisieren, geschweige denn eine einfache, aber menschenwürdige Versorgung und Unterbringung sicherzustellen? 

Ist es das, was Europa will, dass zwar nicht mehr – wie durch ungarische Sicherheitskräfte 2015 – mit Gummigeschossen auf Flüchtlinge geschossen wird, dass sie nun aber in staatlichen Kontexten umherirren, in denen ihnen nicht einmal ein Minimum an organisierter Hilfe zukommt?

Ist es das, was Europa will, dass Flüchtlinge – statt in menschenwürdigen Unterkünften verpflegt zu werden, statt Kindern eine Möglichkeit zum Kindergarten- und Schulbesuch zu geben – in Ruinen ohne Fenster und Türen schlafen müssen? Dass Frauen dort anlanden, wo ihnen keinerlei Privatsphäre gewährt wird, weil es keine ordnende Hand gibt, die diesen dringend benötigten Schutzraum schaffen würde?

Die Grenzen um jeden Preis dichtmachen, ist das ein angemessener Erfolg für Europa? Die Mittelmeerroute zu schließen, "um die illegale Migration nach Europa auch auf diesem Weg zu beenden", wie Österreichs Kanzler Kurz es formuliert.

Ist es das, was Europa will? Auch um den Preis, dass weiter Tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken? Seit Jahresbeginn 2018 waren es allein 1400, die hier den Tod fanden.

Ist dies das Europa, das den Friedensnobelpreis erhielt?

Ist es dies Europa, dass sich, wie Kanzlerin Merkel anführt, eigentlich der Zivilisation und der Menschlichkeit rühmt?

Ist dieses Europa noch unseres?

An der desolaten Lage der Flüchtlinge in Bosnien und Herzegowina wird deutlich, wie verlogen das europäische Abschottungsparadigma ist: Schotten dicht und alles ist gut - die angebliche Flüchtlingskrise gelöst. Eine naive Vorstellung, die mit den Realitäten nichts zu tun hat.

Tatsache ist: Die Schotten-dicht-Politik geht einseitig auf Kosten der Flüchtenden und auf Kosten der Glaubwürdigkeit des vermeintlich so überlegenen und zivilisierten Abendlandes. Die traurigen Zustände an den Außengrenzen Europas zeigen: Die von Angela Merkel beschriebene Humanität ist längst abgeschafft.


Weitere Zahlen, Informationen und Hintergründe zur aktuellen Flüchtlingssituation.