Anders sein in Bosnien-Herzegowina

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Wenn man Menschen in Deutschland am Neujahrstag nach ihren Erwartungen für das nächste Jahr fragt, fallen die Antworten häufig positiv aus. Es werden Wünsche formuliert, darüber nachgedacht, welche Träume sich realisieren lassen könnten und dass man ja endlich mal die überflüssigen Pfunde verlieren oder das Rauchen einstellen sollte. Anders in Bosnien und Herzegowina. Hier war häufigste gegebene Antwort zum Jahreswechsel: Was solle einem das nächste Jahr schon bringen, das letzte habe dies ja auch nicht getan. Diese Lethargie kann als sinnbildlich verstanden werden für die tiefe allgemeine und wirtschaftliche Depression, in der sich das Land nach nun mehr als 23 Jahren nach offizieller Beendigung des Krieges noch immer befindet.

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Anders sein in Bosnien-Herzegowina

Wenn man Menschen in Deutschland am Neujahrstag nach ihren Erwartungen für das nächste Jahr fragt, fallen die Antworten häufig positiv aus. Es werden Wünsche formuliert, darüber nachgedacht, welche Träume sich realisieren lassen könnten und dass man ja endlich mal die überflüssigen Pfunde verlieren oder das Rauchen einstellen sollte. Anders in Bosnien und Herzegowina. Hier war häufigste gegebene Antwort zum Jahreswechsel: Was solle einem das nächste Jahr schon bringen, das letzte habe dies ja auch nicht getan. Diese Lethargie kann als sinnbildlich verstanden werden für die tiefe allgemeine und wirtschaftliche Depression, in der sich das Land nach nun mehr als 23 Jahren nach offizieller Beendigung des Krieges noch immer befindet.

Ein Krieg, der ethnische Gräben zwischen bosnischen Kroaten, Serben und der bosniakisch-muslimischen Bevölkerung aufgerissen und sich in der Stärke der nationalistischen Parteien, die die Politik seitdem maßgeblich bestimmen, manifestiert hat. Grund hierfür ist das Friedensabkommen von Dayton aus dem Jahr 1995. Hier wurden die drei dominierenden Volksgruppen: Bosniaken, bosnische Serben und bosnische Kroaten per Verfassung als sogenannte „konstituierende Volksgruppen“ festgelegt. Diese damals notwendige Gesetzgebung, man bedenke die Unterzeichner des Friedensabkommens Franjo Tudjman für Kroatien, Slobodan Milosevic für Serbien und Alija Izetbegovic für Bosnien und Herzegowina, hat zum wohl kompliziertesten Staatsaufbau der Welt geführt. Regierungsposten werden nach einem „ethnischen Schlüssel“ verteilt. Legislative und Judikative sind gleichermaßen betroffen. Hinzu kommt, dass der Großteil der bosnisch-herzegowinischen Wirtschaft aus staatlichen Unternehmen besteht, die ebenfalls in den ethnischen Proporz eingebunden sind. Von der Führungsebene bis hin zu den Aushilfskräften wird nach ethnischer Zugehörigkeit verteilt. Ein System, welches dazu führt, dass die nationalistisch ausgerichteten Parteien die knappe Ware Arbeitsplätze an ihre jeweiligen Anhänger/innen verteilen, um sich ihre Stimmen bei den Wahlen zu sichern.

Ein Zustand der Wirtschaft und Bevölkerung lähmt, da die Leistung der Bürger/innen hinter ihre ethnische Zugehörigkeit gestellt wird und somit vorhandene Fähigkeiten der Menschen nicht gefragt sind.

Die vielleicht erschreckendste Konsequenz von Dayton ist aber, nebst der politischen und wirtschaftlichen Krise, eine andere:

Die Bürger/innen müssen sich seit 1995 zu einer der drei konstituierenden Ethnien bekennen. Die nationalistische Ideologie, die nur ein entweder oder zulässt, ist Gesetz geworden. Wer sich dieser Idee nicht unterordnen möchte, beispielsweise einer ethnisch-gemischten Ehe entstammt (in Sarajevo lag deren Anteil in jugoslawischen Zeiten mal bei 30 Prozent), dem ergeht es wie dem serbischstämmigen ehemaligen General Jovan Divjak, der während der Belagerung von Sarajevo im Dienst der bosniakisch dominierten ARBiH (Armee der Republik Bosnien und Herzegowina) stand, die Sarajevo verteidigte. Fragt man ihn nach seiner ethnischen Identität sieht er sich selbst in erster Linie als „Bürger Sarajevos“ und „ehemaliger Bürger Jugoslawiens“. Beim Zensus 2013 gab er an Bosnier zu sein, eine Identität, die in der Verfassung nicht vorgesehen ist und ihn damit der wenig schmeichelhaft benannten Gruppe der „Ostali“ (deutsch: Die Anderen) zurechnet.

Die Gruppe macht laut Volkszählung von 2013 ca. 2,7 % der Gesamtbevölkerung aus. Zu ihr gehören werden alle Minderheiten innerhalb Bosnien und Herzegowinas gerechnet, sowie Menschen die sich nicht zu einer der konstituierenden Volksgruppen bekennen wollen.  Den größten Anteil macht die Gruppe der Roma aus. Laut offiziellen Statistiken liegt ihre Zahl bei 10.000-12.000, inoffizielle Schätzungen gehen von bis zu 40.000 – 80.000 aus.

In ihr wird alles vereint, was bei der vollständigen Konzentration der Verfassung auf die drei konstituierenden Volksgruppen als unwichtig und unerwünscht erachtet wurde. Daher ist es nur folgerichtig, dass sie von der repräsentativen Ebene des politischen Systems ausgeschlossen sind. Sie können weder Mitglied des Oberhauses des Parlaments werden, welches einen Teil der Legislative in Bosnien und Herzegowina ausmacht, noch das höchste Amt im Staat, das des Staatspräsidenten/ der Staatspräsidentin, ausüben.

Bekennt man sich zu keiner der drei dominierenden Ethnien, bleibt einem das passive Wahlrecht verwehrt. Aufmerksam auf dieses Unrecht machte eine 2006 eingereichte Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Geklagt hatten der bosnische Roma, Dervo Sejdic, und der bosnische Jude, Jakob Finci, beide sehen die ihnen verwehrte politische Teilhabe als Verletzung ihrer Menschenrechte an. 2009 erkannten die Richter/innen des EGMR den Klageanspruch an. Sie verwiesen in ihrer Urteilsbegründung auf eine Verletzung von Artikel 14, dem Diskriminierungsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention und forderten den bosnisch-herzegowinischen Staat dazu auf die Gesetzgebung in diesem Sinne zu ändern. "Das Verbot für die Minderheiten, an den Wahlen teilzunehmen, hat keine objektive und vernünftige Rechtfertigung und steht daher im Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention, welche eine Diskriminierung verbietet“ so der EGMR in der Urteilsbegründung. Bosnien und Herzegowina ist als Mitglied des Europarates an das Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebunden.

Geändert hat sich seit 2009 nichts. Im politischen System fehlt schlicht und ergreifend der Wille. Die nationalistischen Parteien sind auf den ethnischen Proporz angewiesen, sichert er ihnen doch ihre Machtstellung und den Zugriff auf die wichtigsten Staatsressourcen. Wer sich nicht zu einer der drei dominierenden Ethnien bekennt, fällt aus diesem Patronage- und Selbstbedienungssystem heraus.

Ausgeschlossen werden aber nicht nur die Anderen, auch die Andersdenkenden, die dieses ethnonationale System beenden und einen modernen Bürgerstaat etablieren wollen, leiden unter einer Politik, welche die ethnische Zugehörigkeit immer an erste Stelle setzt. Konflikte werden anhand ethnischer Linien geführt. Eine spezifische Rentenerhöhung könnte Rentner/innen in bosniakisch dominierten Gebieten bevorteilen, die bosnisch-serbischen und bosnisch-kroatischen Parteien stellen sich quer. Die Erhöhung bevorzugt bosnische Serben? Die bosniakischen und bosnisch-kroatischen Parteien blockieren das Gesetz.

Wie viel Interesse der Bevölkerung an dieser Politik noch besteht, lässt die Wahlbeteiligung erahnen, sie lag bei den letzten Präsidentschaftswahlen bei unter 50 Prozent.

Das System hat sich von großen Teilen der Zivilgesellschaft entkoppelt. Wer zu den abgekoppelten gehört, muss einen eigenen Umgang damit finden, beim Versuch sich selbst zu entfalten und verwirklichen zu können. Die Strategien hierbei können unterschiedlicher nicht sein.

Nermina (34) etwa arbeitet in Mostar für die „Mostar Rock School“. Diese existiert seit 2011 und wurde gegründet von Orhan Maslo, einem ehemaligen Mitglied der wohl bekanntesten, dezidiert politischen Band innerhalb Bosnien und Herzegowinas, „Dubioza Kolektiv“. In der, seit dem Krieg faktisch in eine kroatische Westseite und eine bosniakische Ostseite getrennten 110.000-Einwohner-Stadt, bietet die „Mostar Rock School“ eine Ausnahme. In ihr lernen mittlerweile mehr als 130 Schülerinnen und Schüler aus beiden Teilen der Stadt, sowie aus der gesamten Herzegowina-Region. Durch gemeinsame Auftritte der Schüler/innen findet eine Wiederannäherung von bosniakischen und bosnisch-kroatischen Familien statt.

Für Nermina selbst spielt Nationalität und ethnische Zugehörigkeit keine Rolle. Dies gelte auch für ihr soziales Umfeld, von der Politik hält sie sich möglichst fern, das erschwere das Zusammenleben nur, das im Einzelnen eben funktioniere. Dennoch fühlt sie sich mit ihrer multiethnischen Grundhaltung als eine von wenigen.

Als Außenstehender in der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft fühlte sich auch Nino. Mittlerweile ist er das auch geographisch. Nino lebt seit einem Jahr in Irland, einem neben Deutschland und Österreich sehr beliebtes Auswanderungsziel für junge Bosnier/innen. Bevor er sich entschied, das Land zu verlassen, engagierte er sich für eine regionale LGBT-Organisation. Diese hatte in einer zutiefst homophoben Gesellschaft, ironischerweise eine der wenigen Einstellungen in der sich die widerstreitenden nationalistischen Parteien einig sind, von Beginn an einen schweren Stand. Die Organisation hat mittlerweile ihre Arbeit eingestellt. Den Glauben an eine Veränderung innerhalb des Systems hat er verloren. „Man verschwendet seine Zeit. (…) Das System an sich ist falsch.“  Nino sah nur noch die Möglichkeit, selbst aus dem System auszuwandern. Eine mittlerweile populäre Entscheidung. 2017 lag die Zahl der Auswander/innen bei rund 60.000. Ein schneller Abbruch der Emigrationswelle ist nicht in Sicht.

Aller dystopischen Zukunftsaussichten zum Trotz gibt es aber immer noch Menschen, die in Opposition zu den Regierenden stehen und dabei an die Möglichkeit von Veränderungen glauben.  Vernes (41) ist Projektkoordinator beim „Nansen-Dialogue-Centre“ in Mostar, ein Ableger der unabhängigen norwegischen Stiftung „Fridtjof Nansen Institute“. Aktuell setzt sich das NDC insbesondere dafür ein, Kinder aus den verschiedenen Ethnien in den segregierten Schulen („Zwei Schulen unter einem Dach“) der Region, zwischen den jeweiligen Unterrichtszeiten zusammenzubringen. Ein notwendiger Austausch, im regulären Schulsystem besteht die Möglichkeit des Austausches nicht. Schüler/innen gehen größtenteils in monoethnische Schulen. Wo dies nicht der Fall ist, werden Kinder voneinander getrennt. So ist ein starres Ap Die Kinder lernen mit nationalen Lehrplänen, mit unterschiedlichen Geschichtsinterpretationen, in verschiedenen Räumen, zu verschiedenen Zeiten und verlassen die Schule über unterschiedliche Ausgänge. Hier versucht das NDC ein Gegenangebot zu schaffen, etwas anderes. Dafür, dass Gegenangebote zurzeit ausschließlich aus der Zivilgesellschaft eingebracht werden müssen, macht Vernes die zerrüttete Opposition verantwortlich.  Diese sei mitunter ebenfalls in die staatliche Korruption involviert und könne mit keiner eigenen Strategie aufwarten. Eben jene sei dringend notwendig, um die sogenannte „schweigende Mehrheit“ der Nichtwähler/innen zu mobilisieren und ihnen eine Alternative zu Resignation und Auswanderung bieten zu können.

 

Ohne einen Wandel in der Politik sieht er keine Möglichkeit für einen Wandel im Land. Aufgeben aufgrund der Verhältnisse kommt für ihn nicht in Frage, doch auch er muss zugeben, dass sein Optimismus schon mal größer war.