Die dritte Entität – eine Fiktion?

Bericht

Während Bosnien und Herzegowina schon durch zwei Entitäten dysfunktional ist, strebt der kroatische Vertreter im Staatspräsidium, Dragan Čović, eine dritte Entität an. Anlehnungen findet das Projekt an dem Para-Staat "Herceg-Bosna", der im Bosnienkrieg ethnische Säuberungen durchführen ließ.  Čović versucht in einem ersten Schritt, die Funktionsfähigkeit der Föderation in Bosnien und Herzegowina durch eine Wahlrechtsreform zu unterminieren.

Langsam wurde es am 3. Oktober 2017 in dem fast gefüllten kleinen Vortragsraum im Kulturzentrum Kosača in Mostar ruhig. Gespannt blickten die ungefähr 100 Anwesenden auf das Podium, wo gerade Miroslav Tuđman, der Sohn des ersten Präsidenten der Republik Kroatien Platz nahm, um sein neues, 2017 in Zagreb erschienenes Buch, vorzustellen. Der seinem Vater Franjo Tuđman sehr ähnlich sehende ehemalige Chef der kroatischen Geheimdienste musste sich jedoch noch etwas gedulden. Denn, wie in dieser Region üblich, preisen erst einmal mehrere Redner den Autor als großartigen Analytiker und großen Patrioten der Kroaten an.

In der Tat gibt die Denkweise von Miroslav Tuđman Aufschlüsse über die Position des kroatischen Nationalismus in Kroatien und in Bosnien und Herzegowina. Sein Buch „Druga strana rubikona- politička strategija Alije Izetbegovića“ will eine Abrechnung mit dem ehemaligen Präsidenten des im Frühjahr 1992 von Jugoslawien unabhängig gewordenen Staates Bosnien und Herzegowina sein. Aber nicht nur das: Es  beinhaltet eine grundsätzliche  Positionierung des kroatischen Nationalismus und ergibt den Hintergrund für die aktuelle Politik der Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina (HDZ-BiH).

Dass Izetbegović schon vor dem Krieg für eine freie Bürgergesellschaft westeuropäischen Zuschnitts als Vorbild für Bosnien und Herzegowina eingetreten ist, ist für Tuđman die große Herausforderung. Er sieht diese Position jedoch nicht als fundamental europäisch, sondern grundsätzlich als äußerst gefährlich für die Interessen der Volksgruppen der Kroaten und Serben in Bosnien und Herzegowina an.

Izetbegović negiere die Interessen der konstitutiven Völker, betonte er. Denn er habe als Führer der muslimischen Nationalpartei seit 1990 die Forderungen der kroatischen und serbischen  Volksgruppen (narod) über die Anerkennung der „nationalen Identität und Souveränität“ nicht akzeptiert und so auch die legitimen Interessen seiner eigenen Volksgruppe negiert.

Hätte Izetbegović, so Tuđmans Gedankengang, vor dem Krieg einer „friedlichen Aufteilung“ des Landes zugestimmt und nicht gegen die territoriale Aufteilung des Landes unter ethnischen Kriterien polemisiert, wäre es gar nicht erst zum Krieg gekommen. Doch sein Beharren auf einem einheitlichen, demokratischen und nicht teilbaren Bürgerstaat habe schon den Cutilliero-Plan[1], auf den sich auch die internationale Gemeinschaft geeinigt hatte, zu Fall gebracht.

Dreiteilung gegen Bürgerstaat

Die territoriale Aufteilung Bosnien und Herzegowinas unter den drei konstitutiven Völkern wäre für Tuđman der richtige Weg gewesen. Tuđman kann den Begriff der Konstitutionalität – also die schon im Sozialismus festgeschriebene Existenz von drei konstitutiven Völkern in Bosnien und Herzegowina – nur im Zusammenhang mit „Souveränität“ definieren, das heißt, erst wenn die drei konstitutiven Völker auch territorial „souverän“ sind, seien die Völker auch frei. Das Individuum kann in diesem Konzept nur als Teil des nationalen Kollektivs gedacht werden, die Freiheit des nationalen Kollektivs wiederum ist erst verwirklicht, wenn es über eine territoriale Souveränität verfügt.
Wäre die muslimische Partei SDA also bereit gewesen, einen Deal mit den Parteien der Serben und Kroaten über die Re-Definierung der bosnischen Verfassung zu machen, wäre der Krieg vermieden worden, meint Tuđman[2]. Demgegenüber habe der Kampf Izetbegovićs für eine multinationale Gesellschaft gestanden. „Anstatt die Gleichberechtigung der Völker anzustreben“, sei Izetbegović für einen Bürgerstaat im europäischen Sinne eingetreten und reduzierte damit die nationale Identität auf die bosnisch-herzegowinische  Staatsbürgerschaft, betonte Miroslav Tuđman bei seinem Vortrag in Mostar.

Es mutet befremdlich an: Da steht ein Vertreter der HDZ, der Regierungspartei in Kroatien, dem jüngsten EU-Mitgliedsstaat, und wirft einem anderen Politiker allen Ernstes vor, Werte wie einen Bürgerstaat zu vertreten. Es scheint, als habe der rechte Flügel der HDZ nicht verstanden, worauf sich die Europäische Union samt ihrer demokratischen Orientierung gründet.

Dass Izetbegović in seiner Argumentation weiten Teilen der Vorkriegsgesellschaft über die nationalen Grenzen hinweg aus der Seele sprach, das damalige multinationale Selbstverständnis ausdrückte und die multinationale Tradition des Landes hervorhob, wird von Tuđman zurückgewiesen. Dessen „Mantra“ über die Kontinuität von Jahrhunderten währenden gemeinsamen Lebens und den langen staatlichen Traditionen Bosnien und Herzegowinas habe in den Krieg von 1992 geführt[3].  Alija Izetbegović trage der Meinung Miroslav Tuđmans also die Schuld am Kriege in Bosnien und Herzegowina, weil er für eine multinationale Bürgergesellschaft eingetreten ist.

Die Anerkennung der nationalen Selbstbestimmung ist für Tuđman und seine HDZ bis heute das Schlüsselproblem in Bosnien und Herzegowina. Da in Dayton die Serben ihre nationalen Interessen durchgesetzt haben, müssten nun die Kroaten folgerichtig um die Anerkennung ihrer nationalen Selbstbestimmung im Rahmen der Föderation Bosnien und Herzegowina kämpfen. Die Argumentation Tuđmans in seinem Buch untermauert die Forderung der kroatischen Nationalisten unter Führung des an diesem Tag nicht anwesenden Dragan Čović, dem Vorsitzenden der HDZ-BiH und dem kroatischen Mitglied im Staatspräsidium, nach einer „Dritten Entität“ in Bosnien und Herzegowina.  Schon einmal, während des Krieges, hatte die dritte Entität in Gestalt des Para-Staates Herceg-Bosna bestanden.

Das Treffen von Karađorđevo

Es ist nicht verwegen zu behaupten, dass die doch sehr befremdlich wirkende These, Izetbegović sei schuld am Krieg in Bosnien und Herzegowina gewesen, von der Diskussion über die kroatische Verantwortung am Kriege in Bosnien und Herzegowina ablenken soll. Zudem berücksichtigt diese These die Dynamik der serbischen Kriegspolitik in keiner Weise. Ob sich Milošević und die serbischen Radikalen überhaupt auf eine „friedliche territoriale Aufteilung“ des Landes eingelassen hätten, ist äußerst fraglich.

Dennoch: Die Diskussion über Karađorđevo erschüttert die Grundfesten der kroatisch- nationalistischen Position und muss vor allem in der kroatischen Öffentlichkeit heftig bekämpft werden. Der Protagonist der These in Kroatien ist Stjepan (Stipe) Mesić, ab dem Jahre 2000 der Nachfolger Franjo Tuđmans als Präsident des Landes. Der ehemalige Parteigänger und Mitbegründer der HDZ war 1994 aus der Partei ausgetreten und hat diesen Schritt vor allem mit der kroatischen Kriegspolitik in Bosnien und Herzegowina begründet. Mesić ist deshalb zum Feind der nationalistischen Rechten in Kroatien geworden. Der kroatischen Öffentlichkeit ist es ja schwer plausibel zu machen, dass man einerseits den Heimatkrieg gegen die „serbischen Aggressoren“ geführt und andererseits in Bosnien mit ihnen kollaboriert hat. 

Mesić behauptet, Franjo Tuđman habe schon vor der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens im Sommer 1991 mit dem serbischen Präsidenten Slobodan Milošević über die territoriale Aufteilung Bosnien und Herzegowinas zwischen beiden Staaten verhandelt. Am 25. März 1991 seien die beiden Präsidenten in Karađorđevo zusammengetroffen und hätten in einem Vieraugengespräch mündlich die Grundlinien dieser Politik festgelegt.

Stipe Mesić, der damals Präsident des Präsidentschaftsrates Jugoslawiens und damit faktisch der letzte Präsident Jugoslawiens war, war selbst in Karađorđevo anwesend. Er muss zwar wie der damalige Premierminister Jugoslawiens, Ante Marković, einräumen, er sei an diesem Gespräch nicht persönlich beteiligt gewesen[4].  Tuđman hätte aber nach dem Gespräch mit Milošević zu ihm gesagt, Kroatien werde bald so groß sein wie niemals zuvor in seiner Geschichte.

Slobodan Milošević konnte sich bei seinem Prozess in Den Haag an diese Absprache in Karađorđevo angeblich nicht erinnern. Doch viele Veröffentlichungen – auch Biographien von ehemaligen Generälen und Politikern - in Serbien erhärten die These, dass in Karađorđevo die Weichen für die territoriale Aufteilung Bosnien und Herzegowina gestellt worden sind. Noch bevor sich die beiden Kontrahenten in Kroatien selbst bekriegt haben, waren sich die Nationalisten Serbiens und Kroatiens - so die Schlussfolgerung - „im Prinzip“ einig, was die Zukunft Bosnien und Herzegowinas betraf. Für Stipe Mesić wurde diese These durch  die nachfolgende Kriegspolitik beider Seiten bewiesen. „Man muss einfach betrachten, was faktisch geschehen ist.“

Kooperation von Bosniaken und Kroaten

Zu  Beginn der Demokratisierung spielten die nationalen Konflikte in Bosnien und Herzegowina nur eine untergeordnete Rolle. Zu den Wahlen 1990 bildeten sich Nationalparteien, die Serbische Demokratische Partei SDS, die Kroatische Demokratische Gemeinschaft HDZ und die muslimische Partei für Demokratische Aktion SDA, die sich gegen die aus dem Kommunistischen Bund hervorgehenden Parteien des linken und liberalen Spektrums, der Sozialdemokratischen Partei und der Reformpartei des Ante Marković, verbündeten. In verschiedenen Städten bildeten sie Koalitionen gegen diese explizit nichtnationalistischen linksliberalen Parteien. Bezeichnend das Foto von 1990, auf dem Radovan Karadžić, Alija Izetbegović und Stjepan Klujić ihre Hände ineinander legen.

Die Bevölkerung in Bosnien und Herzegowina glaubte mit großer Mehrheit - selbst als schon der Krieg in Kroatien im Juni 1991 begonnen hatte - dass es in Bosnien niemals zu einem Krieg kommen könnte. Die Volksgruppen waren vermischt, es gab kaum Gebiete, in denen eine Volksgruppe über die absolute Mehrheit verfügte. Wer das Leopardenfell auseinanderreißen wollte, wer also die „territoriale Souveränität einer Volksgruppe“ anstrebte, musste zwangsläufig die Verbrechen der ethnischen Säuberungen anwenden.

Anders ausgedrückt: Um die nationalistischen Ziele zu erreichen, also die Herrschaft über bestimmte Territorien durchzusetzen, musste von vornherein mit Propaganda, mit (militärischen) Erfolgen, aber auch mit Repression gegenüber der „anderen” und der „eigenen“ Bevölkerung vorgegangen werden – wer nicht mitmachte, wurde zu einem „Volksverräter“ abgestempelt und  bestraft.

Milošević und den serbischen Extremisten gelang es mit dem Projekt Großserbien ein für große Teile der serbischen Bevölkerung attraktives Modell anzubieten. Mit schnellen militärischen Erfolgen – die Serben eroberten ja in kurzer Zeit 1992 fast 70 Prozent des Landes – konnten Loyalitäten geschaffen werden, Nachrichten über die Zehntausende von ermordeten und von den über 2 Millionen aus ihrer Heimat vertriebenen Menschen wurden in der serbischen Öffentlichkeit als Lüge  bezeichnet.

Die kroatischen Nationalisten waren in einer weit schwierigeren Lage. In den ersten Monaten des Krieges kämpften vor allem in den Kroaten-Gebieten der Westherzegowina und in Zentralbosnien (Travnik, Jajce), aber auch in Mostar, Kroaten noch gemeinsam mit Muslimen gegen die serbische Aggression, um die  kroatisch bewohnten Gebiete militärisch abzusichern. In Mostar gelang es den gemeinsam operierenden Verbänden, die serbisch-jugoslawischen Streitkräfte aus der Stadt zu werfen. Immerhin konnten im Winter 1992/93 die Verteidigungspositionen des HVO ( Hrvatsko vijeće obrane - Kroatischer Verteidigungsrat) und der Bosnischen Armee in diesen Gebieten konsolidiert werden.

Der kroatische Turnaround

Die ersten Zeichen von Spannungen zwischen Kroaten und der muslimischen  Bevölkerung zeigten sich jedoch schon im Herbst 1992. In Prozor kam es zu ersten Kämpfen, mit der Aufgabe Jajces durch die HVO kamen die zentralbosnischen Regionen im November 1992 in große Gefahr, von den Serben erobert zu werden. Mit der Ermordung des Kommandeurs der mit der HVO konkurrierenden HOS (Hrvatske obrambene snage – Kroatische Verteidigungskräfte) Blaž Kraljević wurde am 9. August 1992 der Strategiewechsel deutlich. Kraljević trat für einen gemeinsamen Kampf von Kroaten und Muslimen gegen die serbische Aggression ein und hatte sich dem Oberkommando der Armija BiH unter Präsident Izetbegović unterstellt.

 Anfang September 1992 wurde die „Kroatische Gemeinschaft Herceg-Bosna“ ausgerufen, Anfang Oktober wurde der mit der bosnischen Regierung kooperierende Vorsitzende der HDZ, Stjepan Klujić, abgesetzt und durch den radikalen Nationalisten Mate Boban ersetzt. Die Auflösung der HOS, die Machtübernahme durch Boban und die Abkoppelung der HVO vom gemeinsamen Oberkommando mit der Armija BiH waren die ersten Zeichen dafür, was dann im Mai/Juni 1993 geschehen sollte: Kroatische Truppen griffen in Zentralbosnien und in der Herzegowina die verbündeten bosnischen Truppen und die muslimische Zivilbevölkerung an. Artillerieangriffe auf Mostar symbolisieren den Anspruch der Führung unter Mate Boban, Mostar zur Hauptstadt eines dreigeteilten Bosnien und Herzegowinas zu machen (Sarajevo für Muslime, Banja Luka für Serben, Mostar für Kroaten).

Am 20. August 1993 rief Mate Boban die kroatische „Republik Herceg-Bosna“ aus und erklärte ausdrücklich, das Ziel seiner Politik sei die Vereinigung von Herceg-Bosna mit Kroatien. Die Gebiete unter kroatischer Kontrolle wurden „ethnisch gesäubert“, so die Region um Stolac, die Stadt Čapljina, die Lager Heliodrom, Dretelj und Gabela füllten sich mit muslimischen Ex-Soldaten der HVO und muslimischen und serbischen Zivilisten. Die Zerstörung und Ermordung der muslimischen  Bewohner von Ahmići nahe Vitez und der Überfall auf das Dorf Stupni Do bei Vareš gehört zu den großen Kriegsverbrechen der Kroaten und symbolisiert den Willen der Nationalisten, die ethnische Trennung in den von Kroaten kontrollierten Gebieten auch in Zentralbosnien mit Gewalt durchzusetzen.

Die Konturen Karađorđevos wurden in diesen Monaten sichtbar. Mate Boban hatte Radovan  Karadžić schon am 5. Mai 1992 in der österreichischen Stadt Graz getroffen. Was die beiden konkret vereinbart haben, ist niemals veröffentlicht worden. Zumindest die kroatischen Forderungen sind aber bekannt geworden. Die Grenze zwischen beiden Seiten sollte die sogenannte Banovina-Grenze von 1939 sein, die im serbischen Königreich Jugoslawien den Kroaten zugestanden worden war. Es handelt sich um die Linie Jajce-Sarajevo entlang den Höhen des Lašva- und Bosna-Tales, alle westlich gelegenen Gebiete bis hin zur Küste sollten das kroatische Gebiet umfassen.[5] Der Rest Bosnien und Herzegowinas gehörte demgemäß zum serbischen Gebiet, auch die größten Teile der vornehmlich von Kroaten und Muslimen bewohnten, an der Sava gelegenen Posavina-Region, was viele Kroaten der Region übrigens Tuđman nie verziehen haben.

 Man konnte schon seit Herbst 1992 am Verlauf des Krieges ablesen, dass beide Seiten weitere Konfrontationen in Bosnien und Herzegowina vermeiden wollten. Die Ereignisse in Jajce und die direkte Zusammenarbeit in den zentralbosnischen Gemeinden Zavidovići  zwischen HVO und den serbischen Truppen deuten auf sogar direkte militärische Kooperationen hin. Der Plan der Dreiteilung Bosniens (oder Zweiteilung bei Eliminierung der Muslime) hätte aufgehen können, wenn es nicht zu überraschenden Wendungen gekommen wäre.

Neue Wende im Krieg

Erstens gelang es den bosnischen Truppen im Herbst 1993, ein Drittel der von Kroaten kontrollierten Gebiete - also Herceg-Bosnas, zwischen dem Lašva-Tal und der eigentlichen West-Herzegowina - militärisch zurückzugewinnen, Busovača und Vitez wurden von der Bosnischen Armee eingeschlossen. Die HVO musste empfindliche Niederlagen einstecken. Die Armija BiH konnte auch 1993/1994 gegenüber den Serben militärische Erfolge feiern. Sowohl der Berg Vlašić bei Travnik wie auch der Kuprespass wurden von bosnischen Truppen eingenommen, was ihre strategische Position erheblich verbesserte.

Und zweitens versuchten sowohl die USA wie auch Deutschland auf Kroatien einzuwirken, um die in Karađorđevo getroffenen Vereinbarungen und deren Umsetzung zu beenden. Schon im Herbst 1993 begannen die ersten Gespräche über die Beendigung der Kämpfe. Im Dezember 1993 wurde Mate Boban auf Druck Zagrebs hin abgesetzt und verschwand von der  Bildfläche. Im  März 1994 wurde der „Krieg im Kriege“ zwischen HVO und der Armija BiH offiziell beendet und im „Washingtoner Abkommen“ die Region neu geordnet.

 Mit den Washingtoner Abkommen im März 1994 wurde Herceg-Bosna aufgelöst und gemeinsam mit den von der Regierung noch kontrollierten Gebieten in die Föderation Bosnien-Herzegowina eingegliedert. Die Föderation wurde in 10 Kantone unterteilt. Danach verblieben den Kroaten noch drei Kantone mit klarer kroatischer Mehrheit. Einen eigenen Staat hatten sie nicht mehr. Auch die HVO und die Armija BiH waren nun aufgefordert, wieder zu kooperieren.

Im Gegenzug versprachen die Amerikaner massive Militärhilfe für Kroatien mit dem Ziel, die kroatische Armee (HV)  in die Lage zu versetzen, die serbischen Truppen aus Kroatien zu werfen. Nachdem die kroatischen Truppen HV Anfang August 1995 in einer nur 72 Stunden dauernden Offensive die serbischen Truppen vernichtend geschlagen und zum Rückzug aus Kroatien gezwungen hatten (Operation Sturmwind-Oluja), begannen die Vorbereitungen für eine gemeinsame militärische Aktion in Bosnien und Herzegowina. Im September 1995 gelang es den nun wieder verbündeten Truppen, die serbischen Streitkräfte im Rahmen der Offensive „Maestral“ (Westwind) in  Bosnien und Herzegowina zu schlagen und große Teile des Landes zurückzuerobern. Eine Liebesheirat jedoch war das nicht. Es kam sogar wie bei der Rückeroberung Jajces im September 1995 zu Schießereien zwischen der Armija BiH und der HVO.

Der Präsident Kroatiens Franjo Tuđman hatte, zum Entsetzen der kroatischen Extremisten in Mostar, die bisherige Strategie durchkreuzt. Zähneknirschend mussten die kroatischen Extremisten in BiH den letztlich zwischen den USA und Kroatien vereinbarten Kompromiss akzeptieren. Aber schon damals war klar, dass sie ihre Position mit Zähnen und Klauen verteidigen wollten. Und es gelang ihnen in „ihrer“ Bevölkerung durch Kontrolle der Medien und das Schüren der Angst vor den anderen das Bewusstsein zu verankern, die HDZ und die HVO hätten die Kroaten in Bosnien und Herzegowina vor Vernichtung durch Serben und Bosniaken gerettet.

Weiterhin Grenzen in Mostar

Im Unterschied zu den Nachkriegszeiten, als bei einem Besuch Franjo Tuđmans Tausende von Menschen kamen, war das Interesse an dem Vortrag von Miroslav Tuđman Anfang Oktober 2017 in Mostar gering. Unter den etwas mehr als 100 Zuhörern war zwar die Creme des kroatischen Nationalismus  anzutreffen, doch die Massen mobilisieren konnte der Sohn des „Vaters der Nation“  nicht. Die nationalistischen Leidenschaften haben sich - nach außen hin zumindest - gelegt. Auch die Kroaten in Westmostar haben andere Sorgen, als ständig mit der Flagge Herceg-Bosnas herumzulaufen, sie gehen ihren alltäglichen Geschäften oder  Besorgungen nach, treffen sich mit Freunden in einem der zahlreichen Restaurants oder Cafés.

Mostar ist nach dem Wiederaufbau heute wieder eine schöne Stadt.  Die Leute sind freundlich gegenüber Fremden, Touristen aus aller Welt strömen zur Hauptattraktion, der wiederaufgebauten Alten Brücke - Stari Most. Im November 1993 wurde das von der Unesco schon damals zum Weltkulturerbe erhobene Bauwerk von kroatischen Panzern gezielt zerstört, aber nach dem Krieg, vor allem auf Betreiben des deutschen Ex-Bürgermeisters von Bremen, dem 1994 von Brüssel als EU Administrator eingesetzten Hans Koschnick, originalgetreu aufgebaut und 2004 wieder eröffnet.

Von einer aufgeheizten nationalistischen Stimmung, wie sie kurz nach dem Krieg noch bestanden hatte, ist an der Oberfläche heute nichts zu spüren. Aber unterhalb gärt es immer noch. Auf Seiten der Bosniaken hat der Krieg doch zu tiefe Wunden geschlagen. Im Bombenhagel der Kroaten wurden 1993/94 mehr als 3000 Menschen getötet, die im Ostteil der Stadt gelegene historische Altstadt wurde fast völlig zerstört. Als sich die Menschen im Frühjahr 1994 wieder aus den Kellern an die Oberfläche wagten, sahen sie sich von Ruinen umgeben.

 Mehr noch als die Granaten hat hier der als „Verrat“ empfundene Positionswechsel der kroatischen Extremisten unter Mate Boban die Gräben vertieft. Der Angriff der „Christen“ 1993/94 hat bei den Bosniaken angesichts der Verbrechen der ethnischen Säuberungen in Zentralbosnien, in Stolac, dem Neretva-Tal, in Ljubuški und dem Aufbau der Konzentrationslager um Mostar herum insgesamt, vor allem auch in Ost-Mostar, zur Ausbildung einer eigenen national-religiösen Identität geführt. Anders ausgedrückt: In Ost-Mostar hat die SDA das Sagen.

Zwar wurde die Stadt auf Drängen des Hohen Repräsentanten Paddy Ashdown 2004 formal wiedervereinigt. Die Stadt wurde in sechs Distrikte aufgeteilt, doch bis heute kann man sich nicht auf eine gemeinsame Verwaltungsstruktur einigen. Seit 2008 gab es in der Stadt Mostar keine Gemeindewahlen mehr, kommissarisch wird die Stadt durch den Bürgermeister Ljubo Bešlić regiert, einem Kroaten und einem Mitglied der HDZ-BiH. Doch eine gemeinsame, durch demokratisch gewählte Repräsentanten kontrollierte Administration, gibt es nicht. Dieser Fall ist einzigartig in Europa.

Dafür gibt es zwei Universitäten, zwei Fußballvereine, zwei Administrationen, zwei Schulsysteme. In der Stadt existieren Parallelwelten, in der es zwar da und dort Überlappungen gibt. Immerhin gibt es ein paar Tausend Bosniaken, die ihr Eigentum im Westteil wieder in Besitz nehmen konnten und zurückgekehrt sind. Es ist kein Tabu mehr, den anderen Stadtteil zu besuchen und, wie bei Journalisten und Professoren üblich, sogar professionelle Kontakte zu schließen. Man kann zwar höflich miteinander umgehen, doch an den unterschiedlichen, inzwischen in den Menschen verankerten Denkweisen, ändert das nichts.

Zwar taten sich bei den Unruhen im Frühjahr 2014 einige Hundert Leute zusammen, um gemeinsam die Büros der nationalistischen Parteien beider Seiten zu stürmen – sowohl das Hauptquartier der muslimischen SDA wie das der kroatischen HDZ. Doch nach dem Abflauen der Protestwelle gegen den Nationalismus, die aus Tuzla und Sarajevo nach Mostar geschwappt war, fiel diese Bewegung wieder auseinander. Die Politiker der herrschenden Nationalparteien kleben jetzt selbstsicher wie eh und je an ihren Sesseln und treffen sich in den abgeschirmten Luxusrestaurants zu Gesprächen außerhalb der Stadt – fern von den Normalbürgern – bei Meeresfrüchten und Weißwein.

Herrschaftsmodell ohne Wahlen

Es ist ein Herrschaftssystem entstanden, das ohne Wahlen auskommt. Bürgermeister Ljubo Bešlić wird auch von den Autoritäten in Ostmostar stillschweigend geduldet - man hat sich eingerichtet. Die Wege für die Korruption sind bekannt, jeder aus den herrschenden Schichten beider Stadtteile bekommt seinen Teil vom Kuchen ab. Ginge es nach diesen Herren, bräuchte man den Unsicherheitsfaktor der Wahlen nicht mehr. „Das Mostarer Modell“, sagt Faruk Kajtaz,  bekannter Journalist und politischer Analytiker, der das Internetportal „Starmo“ betreibt, könnte nach den „Wünschen der Herrschenden sogar auf die gesamte Föderation ausgeweitet werden.“ Denn auf diese Weise hätten es die Herrschenden nicht einmal mehr nötig, „ihre“ jeweiligen Massen bei Wahlen für ihre Interessen zu instrumentalisieren.

Und das kann funktionieren, weil es keine wirkliche Opposition gibt oder weil jegliche Opposition zerschlagen wurde. Es gibt zwar oppositionelle Parteien, doch sie führen ein Schattendasein. Sie können ihren Anhängern keine Perspektiven bieten. Wer auf der kroatischen wie auf der bosniakischen Seite einen Job haben will, muss sich mit der HDZ oder der SDA arrangieren. Der in privaten Gesprächen durchaus aufblitzende kritische Geist bricht sich immer wieder an der Realität. „Ich musste bei den Wahlen für das gesamtstaatliche und das Föderationsparlament für die HDZ-Kandidaten stimmen, meine Eltern würden sonst ihren Job verlieren“, erklärte eine Studentin in Westmostar und spricht damit ein Problem an, das in allen Teilen Bosnien gilt[6]

Demokratietheoretisch wirft dieser Umstand einige Fragen auf, auch für die ja immer noch in Gestalt der EU-Mission und des Office of  High Representative OHR präsenten internationalen Gemeinschaft im Lande. Wie diese Realität mit den europäischen Werten übereinstimmt, ist nur eine der Fragen an die internationalen Institutionen. Auf eine konsistente Politik beider Institutionen diesem Problem gegenüber warten die meisten Menschen in diesem Lande schon seit Jahrzehnten vergeblich.

Auch von der katholischen Kirche ist kein zivilisatorischer und demokratischer Impuls zu erwarten. Der Bischof von Mostar, Ratko Perić, der zum erzkonservativen Flügel des kroatischen Katholizismus gehört, und die weit rechts stehenden herzegowinischen Franziskaner (anders die Franziskaner Zentralbosniens) weigerten sich, 2004 zur Wiedereröffnung der alten Brücke zu erscheinen. Angesichts der anwesenden weltweiten Prominenz ein deutliches Zeichen dafür, dass die katholische Kirche die Brücken zwischen  beiden Seiten weiterhin zerstört haben wollte.

Schwerer noch wiegt, dass es seit 1945 innerhalb der katholischen Kirche keine selbstkritische Vergangenheitsbewältigung gegeben hat. Die Nähe des Klerus der Herzegowina zum Ustascha-Regime des II. Weltkrieges wird von vielen Priestern und den Franziskanern nicht einmal geleugnet. Dass herzegowinische Franziskaner zeitweise das berüchtigte Konzentrationslager Jasenovac, wo über 80 000 Menschen ermordet worden sind, im II. Weltkrieg geleitet haben, hat offenbar keine selbstkritischen Diskussionen nach sich gezogen. Dagegen werden die Todesurteile der Partisanen nach 1945 an katholischen Priestern, die aktiv das Ustascha-Regime unterstützt hatten, als Kriegsverbrechen gebrandmarkt.

Die Oppositionspartei HDZ-1990 spaltete sich von der Mutterpartei Anfang des Jahrtausends ab und konnte zunächst die HDZ zum Teil auf Augenhöhe herausfordern. Die katholische Kirche unterstützte diese Partei zunächst massiv, weil sich Konflikte mit der Führung der HDZ ergeben hatten. Danach folgte ein ständiger Rückgang in der Wählergunst.

Die heutige HDZ-1990 scheint sich von der Kirche etwas freigeschwommen zu haben. „Nächstes Jahr bei den Wahlen in ganz Bosnien und Herzegowina haben wir die letzte Chance, das Ruder noch einmal herumzureißen,“ sagte der Parteivorsitzende Ilija Cvitanović, ein moderater Mittdreißiger, der Kompromisse zwischen den Volksgruppen einfordert, um doch noch auf den Zug der Europäischen Integration springen zu können. „Wir brauchen eine grundsätzliche Wende in Bosnien und Herzegowina. Wie sollen wir aber die notwendigen Reformen mit den alten Politikern wie Dragan Čović durchsetzen?“

Doch um tatsächlich erfolgreich zu sein, müsste die Partei den Menschen Perspektiven - sprich Jobs - bieten können. Das kann nicht einmal mit Hilfe der Kirche erreicht werden. Andere Parteigründungen scheiterten nach anfänglichen Erfolgen. Die Kroatische Bauernpartei hat noch einige Anhänger in den Kroaten-Enklaven Zentralbosniens, die Sozialdemokraten haben kaum noch Chancen, zumal sie auch in Zagreb die Macht verloren haben.

Die Machtsäulen der HDZ

Die HDZ hat in den letzten 20 Jahren mit Erfolg versucht, das Leben der Kroaten in Bosnien und Herzegowina zu strukturieren und Loyalitäten zu schaffen. Aus der Niederlage von Herceg-Bosna zog man die Konsequenz, trotz des Verlustes staatlicher Institutionen in allen Bereichen des Lebens präsent zu sein, in den Gemeinden, den Schulen, Krankenhäusern, den Universitäten, in den Medien, den Verbänden – so im Veteranenverband, natürlich den Kantonen. Die sozialistischen Betriebe wurden „privatisiert“, das heißt unter den Günstlingen und Führern der Partei verteilt. Die unter dem Hohen Repräsentanten Wolfgang Petritsch legalisierte Dreiteilung des Mobiltelefonsystems ergab für die Partei wesentliche Einkünfte.

Die erheblichen Geldzuflüsse aus Kroatien, Zuschüsse für das Schulsystem, für die Krankenhäuser und die Kriegsveteranen der HVO unterstützten den Ausbau dieser Struktur. Sogar noch, als ruchbar wurde, dass viele Gelder in die Taschen der Politiker wanderten, konnte sie ihre Position erhalten. Trotz des zeitweiligen Drucks auf das Bankensystem – die Hercegovačka Banka wurde unter dem Hohen Repräsentanten Paddy Ashdown vorübergehend unter internationale Kontrolle gestellt - gelang es der Partei, die Geldflüsse umzuleiten. Mit der Wahl Stipe Mesićs zum Präsidenten Kroatiens  und der Machtübernahme der Sozialdemokraten Anfang des Jahrtausends wurden die Zuwendungen für die Herzegowina zwar reduziert, aber die finanzielle Unterstützung durch Kroatien konnte nach dem Wahlsieg der HDZ in Kroatien 2004 wieder fortgesetzt werden.

Als großen „Erfolg“ kann die Partei für sich verbuchen, dass die OSZE 2003 dem Drängen der HDZ nachgab und das Schulsystem in der Föderation ummodelte. Kroatische Schüler lernten fortan mit kroatischen Schulbüchern, kroatische Gelder kamen nur noch kroatischen Schülern zu Gute, in den gemischten Kantonen wurden die Schüler unter religiös-nationalistischen Kriterien getrennt, es entstanden die Schulen mit zwei Eingängen – in den gleichen Schulgebäuden wurden die Schüler fortan mit unterschiedlichen Curricula unterrichtet. Zeugnisse auf kroatischer Seite werden teilweise sogar mit dem Emblem der Flagge „Herceg-Bosna“ verziert.

Proteste gegen diese Praktiken wurden von Seiten der HDZ Kommunalpolitiker unterdrückt. Wirkungsvoll:  Jeder weiß ja, wer die Jobs in diesem Land vergeben kann. Wer will schon vor allem auf dem Land und in den Kleinstädten als Verräter gebrandmarkt werden?

An dieser Grundkonstellation änderte auch der Aufstand einiger Schüler in der gemischten einstigen Königsstadt des Mittelalters Jajce nichts. Schüler der Sekundarstufe forderten im Frühsommer 2017, gemeinsam unterrichtet zu werden und die Schulen der zwei Ausgänge abzuschaffen. Der Vorgang erregte großes Aufsehen, meldete sich damit ja so etwas wie das traditionelle bosnische Bewusstsein des Zusammenlebens zurück, doch nach Aussagen von Aktivisten der Zivilgesellschaft wurden die Eltern dieser Schüler unter Druck gesetzt.

Dies konnte auch geschehen, weil die muslimische Nationalpartei SDA in den letzten Jahren Schritt für Schritt selbst das Konzept der religiös-nationalistischen Trennungen übernommen hat. Erst Anfang November 2017 verteilten die Schulbehörden in Sarajevo, auf Geheiß des von der SDA beherrschten Kantons, Befragungsbögen, in welchen die Schüler entscheiden sollen, in welchen der drei  Sprachen, serbisch, bosnisch oder kroatisch, sie unterrichtet werden wollen, was natürlich auch unterschiedliche Curricula nach sich zieht.

Wiederholung der Geschichte als Farce

Der Architekt und starke Mann der bosnischen Kroaten ist der 61-jährige Vorsitzende der Partei und das kroatische Mitglied im Staatspräsidium des Gesamtstaates Bosnien und Herzegowina, Dragan Čović. Der in Mostar 1996 promovierte Ingenieur sicherte sich schon 1992 bis 1998 den Posten des Direktors beim ehemals jugoslawischen Flugzeughersteller SOKO. Von 1998 bis 2001 war er Vizepremier und Finanzminister der Föderation Bosnien und Herzegowina. 2002 wurde er erstmals als kroatischer Vertreter in das Staatspräsidiums von Bosnien und Herzegowina gewählt.

Schon damals konnte er den Geruch von Korruption und Günstlingswirtschaft nicht ablegen und wurde mit Prozessen überzogen. Im Mai 2005 musste er (auch auf Betreiben des damaligen Hohen Repräsentanten Paddy Ashdown) von seiner Position zurücktreten. Doch er nutzte sein Amt als HDZ-Vorsitzender zur Festigung seiner Position in Mostar und wurde 2014 erneut als kroatisches Mitglied in das Staatspräsidium von Bosnien und Herzegowina gewählt.

In seiner Person wird die Mentalität des kroatischen Nationalismus in Bosnien und Herzegowina tatsächlich repräsentiert. Als der aus ähnlichem Holz geschnitzte Präsident der serbischen Teilrepublik, Republika Srpska (RS), Milorad Dodik, nach den letzten Wahlen 2014 damit zu drohen begann, „seinen“ Landesteil von dem Gesamtstaat loszulösen, sah Dragan Čović die Gelegenheit gekommen, die von der HDZ definierten ”Interessen” der Kroaten in diesem Land wieder ins Spiel zu bringen.

Aufsehen erregten seine Besuche in Banja Luka und das Zusammenwirken mit Dodik in der Abwehr von Verfassungsänderungen, die nach dem Urteil Sejdić/Finci vom Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg 2009 gefordert worden waren. Die Stärkung des Gesamtstaates, die sich nach der Forderung nach Wahl eines Präsidenten ergeben hätte, wollen bis heute beide Seiten verhindern. Und auch die im Urteil festgestellte Benachteiligung von Bürgern des Landes, die keinem der konstitutiven Völker angehören, ist für sie kein Problem.

Um einen Bürgerstaat zu verhindern, hatten ja die Nationalismen beider Seiten den Krieg geführt. Leider hat die EU ihre Forderung, die europäische Perspektive, das heißt die Assoziierung des Landes und die Aufnahme von Gesprächen über einen Kandidatenstatus, von der Erfüllung des Straßburger Urteils in Sachen Sejdić/Finci abhängig zu machen, fallengelassen. Diese Schwäche der europäischen Politik eröffnete Spielräume für beide Seiten.

Die Annäherung von Čović und Dodik erinnert an das Abkommen von Karađorđevo und die Treffen von Karadžić und Boban während des Krieges. Folgerichtig begann Dragan Čović die nie aufgegebene Forderung nach der Gründung einer ( territorial gar nicht definierten ) Dritten Entität wieder ins Zentrum seiner Politik zu stellen. Und auch damit - unter dem Beifall aus Banja Luka - einen Konflikt innerhalb der Föderation Bosnien und Herzegowina vom Zaun zu brechen.

Neues Wahlgesetz und Dritte Entität

Ausgangspunkt war das Urteil des Bosnischen Verfassungsgerichts 2014 in Sachen Božo Ljubić. Der Politiker von HDZ-1990 hatte sich über die mangelnde Repräsentanz von Kroaten in den Zweiten Kammern der Parlamente beklagt. In manchen Kantonen, so die Klage, könne die kroatische Minderheit mangels Bevölkerung gar nicht die ihr zustehenden Sitze in den jeweiligen Völkerkammern und damit auch nicht jene in den übergeordneten Parlamenten besetzen. Das Gericht forderte von den Gesetzgebern, vor allem von dem Parlament der Föderation, eine Lösung für dieses Problem zu finden. Die Kroaten möchten jene Sitze, die mangels kroatischer Bevölkerung wie in Goražde gar nicht besetzt werden können, zumindest auf der höheren Ebene der Föderation angerechnet bekommen.

Das  Urteil des Verfassungsgerichts nutzte Čović, um ein weiteres Konfliktfeld zu eröffnen. Für die Führungsriege der HDZ waren die Wahlen für das kroatische Mitglied der Präsidentschaft 2006 und 2010 ein Schockerlebnis gewesen. Der in Sarajevo lebende nichtnationalistische Sozialdemokrat Željko Komšić wurde mit dem Programm gewählt, nicht nur kroatische Interessen, sondern die aller Bürger zu vertreten. Aufgrund des Wahlgesetzes in der Föderation konnte er auch viele bosniakische  Stimmen für sich gewinnen. Seither versuchen Čović und die HDZ, das Wahlgesetz zu ändern, um “richtige” Kroaten an die Macht zu bringen.

Bei der Wahl für den kroatischen Vertreter in der Präsidentschaft möchte er erreichen, dass die antretenden Kandidaten vor allem in den kroatischen Mehrheitsgebieten gewählt werden sollen. Die Wahlbezirke sollen nach ethnischen Kriterien in A, B, und C unterteilt werden. Ein  A- Bezirk definiert sich darüber, dass über 66 Prozent der Bevölkerung Kroaten sind, ein B-Bezirk 66 Prozent Bosniaken, die C-Bezirke sind gemischt. Nach seinem Modell sollen die Kandidaten die Mehrheiten in den A-Bezirken erreichen, um gewählt zu werden. Faktisch können nach gegebenen Verhältnissen damit nur Kandidaten der HDZ gewählt werden.  Experten halten das für kaum vereinbar mit europäischen Grundideen – es würde zu einer Zementierung der Macht der HDZ führen.

Eine derartige Neudefinition der Wahlbezirke ergibt übrigens auch ein Bild über die territoriale Aufteilung der Föderation und könnte vielleicht auch die Grenzen der bisher nicht definierten Dritten Entität darstellen. HDZ-1990 Chef Ilija Cvitanović spottet zwar, die Dritte Entität würde wohl nur Široki Brijeg, Grude und Ljubuški umfassen. Doch Čovićs Rhetorik erinnert an die Philosophie von Miroslav Tuđman. Die Kroaten würden durchs Wahlsystem benachteiligt und ihnen würde der Status eines konstitutiven Volkes (narod) verwehrt. Die Schlussfolgerung wäre, erst mit der Kontrolle über das beanspruchte Territorium könnte die Freiheit der Kroaten sichergestellt werden. Das aber erzeugt einen neuen und gefährlichen Konflikt mit den Bosniaken, vor allem in den gemischten Kantonen. Eine neue ethnische Säuberung zu provozieren, wird angesichts der internationalen Kräfteverhältnisse und der Präsenz der internationalen Institutionen ohnehin nicht mehr möglich sein.

Ob das Wahlgesetz im Sinne der HDZ überhaupt realisiert wird, ist auch eher unwahrscheinlich. Nach Informationen aus diplomatischen Kreisen könnte die Diskussion über das Wahlgesetz jedoch zu einer Blockade der Wahlen in der Föderation führen. Das würde bedeuten, dass die Befürchtung von Faruk Kajtaz, das Modell Mostar könnte auf die Föderation übertragen werden, nicht ganz unrealistisch ist. Eine Totalblockade der Politik aber wäre kaum im Sinne der Bürger BiH´s – schon jetzt liegt die Arbeitslosenquote bei 50 Prozent, die soziale Lage in Bosnien treibt Hunderttausende aus dem Land, ebenso der nicht endend wollende Nationalismus der relevanten politischen Akteure, die die eigenen Interessen und die der regierenden Parteien vor die Interessen des Gemeinwohles stellen. 

Das Urteil des UN-Tribunals für Kriegsverbrechen in Den Haag

Am 29. November 2017 entschied das UN-Tribunal für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien (ICTY) in letzter Instanz über die Strafen für die der Kriegsverbrechen Angeklagten um den ehemaligen Premierminister von Herceg-Bosna, Jadranko Prlić, Bruno Stojić, Slobodan Praljak, Milivoj Petković, Valentin Čorić and Berislav Pusić. Mitten in der Urteilsverkündung und völlig unbehelligt von den Sicherheitsbeamten oder Gerichtsdienern zog einer der kroatischen Angeklagten ein Fläschchen aus der Tasche und rief  „Slobodan Praljak ist kein Kriegsverbrecher. Ich weise Ihr Urteil zurück“ und trank das Fläschchen aus. Darin war Gift. Ein paar Stunden später war er tot.

Slobodan Praljak, einstmals Theaterregisseur und dann im Krieg militärischer Chef der „Kroatischen Verteidigungskräfte“ HVO, hatte mit der 20 Jahre Haft-Strafe, die er schon im ersten Verfahren erhalten hatte, rechnen müssen. Denn alle Spekulationen in der kroatischen Öffentlichkeit, die Urteile würden im Revisionsverfahren milder als in erster Instanz ausfallen, erwiesen sich als falsch. Jadranko Prlić, der damalige Premierminister von Herceg-Bosna, musste mit unbewegter Miene hinnehmen, dass es auch für ihn beim alten Urteil von 25 Jahren blieb.

Mit einem solchen Urteil hatte man in Kroatien und in Mostar überhaupt nicht gerechnet. Vor der Verhandlung glaubten die meisten kroatischen Experten, Politiker und auch der größte Teil der kroatischen Öffentlichkeit in beiden Staaten, die Angeklagten würden freigesprochen. Vor allem aber mussten die Kroaten hinnehmen, dass das Gericht die Angeklagten als „joint criminal enterprise“ (Gemeinsames kriminelles Unternehmen) charakterisiert hat. Beim Urteil ging es nicht mehr nur um die Angeklagten, um Jadranko Prlić, sondern um die gesamte Staatsführung Kroatiens während des Krieges. Der damalige Präsident Franjo Tuđman, sein Verteidigungsminister Gojko Šušak und der Generalstabschef Janko Bobetko, die alle verstorben sind, standen ganz oben auf der Liste des Anklägers.

Nach Meinung des Gerichts war die gesamte kroatische politische und militärische Führung Kroatiens tief in die Verbrechen gegen die nicht kroatische, vor allem die bosniakische Zivilbevölkerung in Bosnien und Herzegowina verstrickt. Das Gericht wies nach, dass ein Teil der Angeklagten sowohl in den militärischen Strukturen in Zagreb, dann wieder in Mostar eingebunden waren, also die militärischen Strukturen eng verknüpft waren.

Damit hat das Gericht den Erwartungen des Anklägers Serge Brammertz aber auch vor allem der Opfer des Krieges entsprochen. Entsprechend erleichtert waren die Reaktionen in Sarajevo. Doch die kroatische Öffentlichkeit in der Herzegowina und in Kroatien reagierte betroffen. Noch in der Nacht wurden in vielen Städten Solidaritätsveranstaltungen mit den verurteilten Kriegsverbrechern durchgeführt. Brennende Kerzen sollten an den Freitod von Slobodan Praljak erinnern.

Die bosnischen Kroaten hätten keine Kriegsverbrechen begangen, sondern lediglich die Kroatengebiete in Bosnien und Herzegowina gegen die serbische Aggression verteidigt, war die Meinung der meisten Professoren, Journalisten und Politiker in Zagreb. Staatspräsidentin Kolinda Grabar-Kitarović erklärte „Kroatien war nicht der Aggressor, sondern hat das meiste für das Überleben Bosnien-Herzegowinas als Staat getan“. In einer gemeinsamen Erklärung kritisierten die Parteien das Urteil als ungerecht und inakzeptabel. Es ignoriere „historische Fakten und Beweise“. Der Suizid Praljaks sei ein Symbol für die Ungerechtigkeit des Urteils.

Weder die Präsidentin noch das Parlament zeigten eine Geste des Bedauerns gegenüber den Opfern der kroatischen Aggression in Bosnien und Herzegowina. Auch die sozialdemokratische Opposition stimmte in den Chor der über das UN-Tribunal in Den Haag Entrüsteten. Kritiker der Politik Tuđmans gegenüber Bosnien und Herzegowina wurden sogleich verantwortlich für das Urteil gemacht. So erklärte Vladimir Šeks, während des Krieges Justizminister:  Schuld  am Urteil in Den Haag seien der Nachfolger Tuđmans als Präsident Kroaitens, Stipe Mesić und die frühere Außenministerin des Landes, Vesna Pusić.

Das konservativ-nationalistische Lager in Kroatien tut sich seit jeher mit der Aufarbeitung der kroatischen Geschichte schwer.  Bis heute gibt es in der HDZ – gelinde gesagt - unklare Positionen gegenüber dem Ustascha-Staat des Zweiten Weltkrieges. Auch die Kirche stimmte in den Chor der nationalen Entrüstung ein. Sie verwies darauf, dass die Volksgruppe der Kroaten in Bosnien und Herzegowina jetzt bedroht sein würde[7].

Zwar hatten sich zentralbosnische Franziskaner schon vor Jahren darüber beschwert, dass „Kriegsverbrecher in den ersten Reihen der Kirchen“ sitzen, doch ihre Stimme blieb in der katholischen Kirche der Herzegowina und Kroatiens die Ausnahme[8].

Rückwirkung auf Bosnien und Herzegowina

Noch lassen sich die Rückwirkungen des Urteils auf die Entwicklung in Bosnien und Herzegowina nicht abschätzen. Mit dem Urteil des UN-Tribunals wurde jedoch die Position der kroatischen Nationalisten geschwächt. Dragan Čović und die führenden Politiker der HDZ-BiH befanden sich nach dem Urteil einige Tage in einer Art Schockstarre. Dann reagierte Čović mit der Aussage, sollte es bei dem Urteil bleiben, werde die Integration Bosnien und Herzegowinas in die Europäische Union von seiner Seite in Frage gestellt. Da die Kroaten Bosniens privilegiert sind und automatisch das Recht haben, Pässe in der Republik Kroatien zu beantragen und sich damit frei in der EU bewegen können, wird diese Aussage vor allem von bosniakischer Seite als Drohung empfunden[9].

In der weiteren bosnischen Öffentlichkeit, vor allem in Sarajevo und Ostmostar, wurde bedauert, dass in den Medien weltweit der Selbstmord Praljaks eine größere Bedeutung hatte als das Urteil selbst. Doch man rechnet damit, dass es nur kurzzeitig gelingen kann, mit dem Praljak-Selbstmord vom Urteil abzulenken. Denn an diesem Urteil sei ja nicht mehr zu rütteln.

Die bosniakischen Reaktionen waren insgesamt besonnen. Vor allem die Opfer der Konzentrationslager drückten in Fernsehinterviews in Kroatien und in Bosnien und Herzegowina ihre Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben aller Volksgruppen aus. Der Hohe Repräsentant Valentin Inzko erklärte, das Urteil eröffne die Möglichkeit, in einen Versöhnungsprozess einzutreten. Eine produktive Diskussion über die jüngste Geschichte Kroatiens - so die Hoffnung - könne in dem EU-Land Kroatien auf Dauer kaum unterdrückt werden.

Angesichts aller Erfahrungen in Bosnien und Herzegowina wäre es hilfreich, wenn Brüssel und Berlin die kroatische Seite dazu auffordern und dabei unterstützen würden.

 

[1]     Anm. d. Verf.: erster internationaler Aufteilungsplan BiHs im Februar 1992, später folgten dann der Vance-Plan, der Vance-Owen-Plan bis hin zum Aufteilungsplan der Kontaktgruppe 1995, der dem Abkommen von Dayton Konturen gab

[2]     Anm. d. Verf.: Tatsächlich gab es 1993 eine Diskussion in der SDA über die Gründung von „Bošnjačka“, einem muslimischen Teilstaat, doch Izetbegović war strikt dagegen

[3]     Vergleiche Tuđman Buch S. 45

[4]     Siehe Interview mit Stipe Mesic in: Bethke/Rathfelder, Bosnien im Fokus, Berlin 2010)

[5]     Die Banovina Grenze wurde damals in den kroatischen Medien breit diskutiert. Deshalb unterstützte Zagreb den Vance-Owen-Plan, in dem die Banovina-Grenze enthalten ist. Mate Boban bestätigte im Juni und September 1993 mehrmals diese Position gegen über dem Verfasser.

[6]     Dass die Wähler tatsächlich den Kandidaten der herrschenden Parteien gewählt haben, können die Wähler beweisen, indem sie den ausgefüllten Wahlzettel mit dem Smartphone fotografieren und den jeweiligen Autoritäten nach Aufforderung vorzeigen

[7] Anmerkung d. Verfassers: Um diese These zu untermauern wird die andauernde Abwanderung von Kroaten aus BiH genannt. Doch auch aus den anderen Volksgruppen wandern vergleichsweise ebenso viele junge Menschen ab.

[8] Anmerkung: Aussage Fra Ante Marković in Rathfelder, Schnittpunkt Sarajevo, Berlin 2006)

 

[9] Anmerkung d. Verfassers: „Moramo naše ljude hrabriti i moramo im reći da smo i mi vlast i da naše zalaganje za evropski put ima svoju cijenu. Mi ćemo jasno kazati – ako treba da čeka evropski put, neka dugo čeka. Mi ćemo se prije izboriti za svakog časnog predstavnika HVO-a i hrvatskog naroda u Bosni i Hercegovini", kazao je Čović.