Multinationale Struktur als historischer Bestimmungsfaktor Bosnien-Herzegowinas

Die Krise der politischen Führung Bosnien-Herzegowinas dauert ebenso lange wie die Post-Daytoner politische Entwicklung des Landes. Diese Krise äußert sich in permanenten politischen Partei-Konflikten. Die Konflikte finden jedoch nicht zwischen den regierenden und den oppositionellen Parteien statt, wie es in anderen Staaten mit parlamentarischen Demokratien der Fall ist. Die politischen Differenzen äußern und erneuern sich innerhalb der regierenden Parteien. Es geht um Differenzen, die sich um die Entwicklung des Staates Bosnien-Herzegowina als Einheit drehen

Multinationale Struktur als historischer Bestimmungsfaktor Bosnien-Herzegowinas

Historischer Kontext zum Fortbestand des multinationalen Wesens Bosnien-Herzegowinas  

Seit dem Verlust seiner mittelalterlichen staatlichen Unabhängigkeit im Jahre 1463 existierte Bosnien vier Jahrhunderte lang unter der Verwaltung des Ottomanischen Reiches. Zu dieser Zeit hatte Bosnien den Status einer Provinz. Es war eine einzelne territoriale - und Verwaltungseinheit im mittelalterlichen Bosnien, in der sich die religiöse Struktur der Bevölkerung gerade änderte. Im 16. und 17. Jahrhundert konvertierte ein Großteil der Bevölkerung zum Islam. So hatte Bosnien-Herzegowina nun Katholiken, Orthodoxe und Muslime in seiner religiösen Struktur. Da in seiner historischen Entwicklung die Religion zur kulturellen Basis für die Bildung der ethnischen Gruppen wurde, hat Bosnien-Herzegowina (BiH) im Laufe seiner historischen Existenz seine multireligiöse, multikulturelle und multiethnische Struktur bewahrt. Es ist zum Paradigma einer multiethnischen Gesellschaft auf dem Balkan und Europa geworden.

Mit Beschluss des Berliner Kongresses 1878 haben die damaligen Großmächte die Herrschaft über Bosnien an das mächtige österreichisch-ungarische Reich übergeben. Bei diesem Kongress erhielt Bosnien seine neue offizielle Bezeichnung: Bosnien-Herzegowina.

Als entwickelter mitteleuropäischer Staat führt Österreich-Ungarn mit seinen Maßnahmen die Industrialisierung und Marktwirtschaft ein. Einen besonderen Beitrag zur Entwicklung Bosnien-Herzegowinas leistet die österreichisch-ungarische Monarchie mit dem Bau eines  Eisenbahn- und Straßenverkehrsnetzes. Auf diese Weise verbindet sich der bosnisch-herzegowinische Markt mit den Staaten innerhalb des österreichisch-ungarischen Reichs. Bedeutende Fortschritte in den Bereichen Bildung, Kultur und Urbanisierung der Stadtzentren werden erzielt. Infolge des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs 1914 kommen die bisherigen Entwicklungsprozesse zum erliegen.

Nach dem Ersten Weltkrieg existierte BiH ab 1918 im Rahmen des Königreichs Jugoslawien. Aufgrund ihrer Zerspaltung in neun Regionen (Banschaften) verliert BiH zu dieser Zeit ihren Sonderstatus und ihre territoriale Einheit. Mit dem Cvetković-Maček-Abkommen wurde  BiH 1939 bilateral zwischen der großserbischen und der großkroatischen Elite aufgeteilt. Wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs kam es jedoch nicht zur Realisierung des Cvetković-Maček-Abkommens.

Im Zweiten Weltkrieg 1941-1945 wurde BiH von deutschen und italienischen faschistischen Truppen besetzt. Fast das komplette Territorium BiH´s wurde von Hitler-Deutschland in die Verwaltungsobhut des Unabhängigen Staates Kroatien (USK) übergeben. Zu dieser Zeit entstanden historische Umstände, in denen die faschistischen und nationalistischen Mächte die Völker BiH´s ausrotten wollten. Der USK bringt die serbische Bevölkerung in Todeslager, mit dem Ziel der Ausrottung in Bosnien-Herzegowina.

Tschetnik-Truppen unter dem Kommando von Draža Mihailović haben die muslimische und kroatische Bevölkerung vertrieben und massenweise getötet. In der Geschichte sind massenhafte Ermordungen der Muslime im Drina-Tal verzeichnet. Bosnien-Herzegowina ist durch den Einfluss von außen zu einem Land geworden, in dem ein Bruderkrieg tobt. Derartige historische Ereignisse haben die Volksbefreiungs- und antifaschistischen Bewegungen der Völker in Jugoslawien und BiH, mit Josip Broz Tito an der Spitze, aufgehalten. Der Großteil der Partisanen mit ihrem Generalstab war während des ganzen Zweiten Weltkriegs auf dem Gebiet Bosnien-Herzegowinas und kämpfte für die Befreiung des Landes. Durch die große Beteiligung der Bevölkerung in der Antifaschisten- und Volksbefreiungsbewegung in BiH entstanden große freie Territorien. Innerhalb dieser antifaschistischen Bewegung als zivilisatorischer Errungenschaft weltweit entwickelte sich die politische Philosophie der Brüderlichkeit zwischen den Völkern. Vom  Bruderkrieg umgeben, den die faschistische Okkupation aufgezwungen hat, fand der Freiheitskampf unter der Parole der Brüderlichkeit und Einigkeit statt. So wurde die antifaschistische Bewegung der Ausgangspunkt für den Sieg von Titos Politik der Brüderlichkeit und Einigkeit unter der Bevölkerung BiH´s und Jugoslawiens. Der Antifaschismus war wiederum der Ausgangspunkt für die Entwicklung des demokratischen Potenzials der Völker mit der Gründung von Volksbefreiungskomitees in den Dörfern und Städten des freien Territoriums. Durch das Netzwerk des Volksbefreiungs-Komitees fand 1943 in Mrkonjić Grad die Gründung und das erste Treffen des Antifaschistischen Befreiungs-Komitees (ZAVNO BiH) statt. Durch den Willen der Mitglieder des ZAVNOBiH-Komitees, die aus allen Regionen, allen sozialen Schichten und allen Völkern zusammenkamen, wurde die Staatlichkeit Bosnien-Herzegowinas erneuert. BiH erhielt den Status einer föderalen staatlichen Einheit, gleichberechtigt mit Serbien, Kroatien, Slowenien, Mazedonien und Montenegro. Innerhalb des demokratischen föderativen Jugoslawien wurde BiH durch Beschluss des ersten ZAVNOBiH-Treffens zur verbrüderten Gemeinschaft ihrer gleichberechtigten Bürger/innen und Völker. Dies war ein epochales historisches Ereignis, denn BiH hat seine staatliche Identität und Subjektivität erlangt. Auf diese Weise trat BiH aus der Jahrhunderte andauernden Unterwerfung aus. Gleichzeitig entledigte es sich auch der Prätentionen großserbischer und großkroatischer nationalistischer Kräfte, die BiH unter sich aufteilen wollten, um ihre eigenen, großen nationalen Staaten zu gründen.

Im Laufe der sozialistischen Entwicklung 1945 bis 1990 hat BiH Fortschritte im Bereich der sozialen, ökonomischen und kulturellen Entwicklung gemacht. Auch diese Entwicklung vollzog sich auf einer Grundlage der Brüderlichkeit und Einigkeit zwischen Serben, Kroaten und Bosniaken. Die auf Gemeinschaft und Toleranz begründete Einigkeit ermöglichte eine Entwicklung jedes einzelnen, aber auch aller Völker zusammen. Tito hat als Beispiel für eine erfolgreiche soziale Entwicklung und die Schaffung der Brüderlichkeit und Einigkeit unter den Völkern meistens BiH genannt. Im Sozialismus hatte BiH über 4 Mio. Einwohner/innen und 1 Mio. Erwerbstätige in Wirtschaft und Verwaltung.

Laut Volkszählung aus dem Jahr 1991 hatte BiH 4.377,033 Einwohner/innen. Die Einwohnerstruktur sah wie folg aus: 31,3% Serben, 43,71% Muslime (Bosniaken), 17,3% Kroaten und 7,7% Jugoslawen und andere.  

Der weltweite Zusammenbruch des Sozialismus und die historische Wende in der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung Bosnien-Herzegowinas  

Als 1989 die Berliner Mauer fiel, zerbrach auch das System der Aufteilung in Blöcke. Der Warschauer Pakt verschwand schnell, die Sowjetunion gab es nicht mehr. Die sozialistischen Staaten ließen das Einparteiensystem hinter sich und traten ein in die postsozialistische Transition.

Anfang der 90-er Jahre zerbrach das sozialistische System auch in der jugoslawischen sozialistischen Föderation. Die jugoslawischen Republiken, die die Föderation gebildet hatten, begannen 1989 und 1990 mit der Einführung des Mehrparteiensystems.

Der Prozess der politischen Pluralisierung in BiH fand in der zweiten Hälfte des Jahres 1990 statt. Es war das Jahr, in dem die kriegerischen Auseinandersetzungen in Kroatien zwischen den aufständischen Serben und der jugoslawischen Volksarmee auf der einen, und den Polizeieinheiten der Republik Kroatien auf der anderen Seite begannen. Gleichzeitig hat Milosevics Regime ein Ambiente der Unsicherheit und der Angst geschaffen, als er ankündigte, dass alle Serben in einem Staat vereint leben sollten. Dies waren  äußerst ungünstige historische Umstände im Prozess der Bildung von politischen Parteien in Bosnien-Herzegowina im Jahr 1990. Das Volk (Demos) fürchtete um den Frieden und um die Zukunft Bosnien-Herzegowinas. Und diese Angst als psychologisches Moment wird die dominierende Basis für die Homogenisierung der bosnisch-herzegowinischen Völker: Dem bosniakischen, serbischen und kroatischen. Aus diesem geänderten gesellschaftlich-historischen Umstand entstehen neue, ethnische (nationale) Parteien.     

Im Mai, Juni und August 1990 werden die Partei für Demokratische Aktion (SDA) der Bosniaken, die Serbische Demokratische Partei (SDS) der Serben und die Kroatische Demokratische Union (HDZ) der Kroaten gegründet.

Diese drei ethnischen Parteien haben den absoluten Sieg bei den ersten Mehrparteienwahlen im November 1990 davongetragen. Insgesamt haben sie 84% der Sitze im Parlament BiH erlangt, da sie in einer Koalition gegen die damals regierende sozialistische Regierung angetreten sind. Im ersten Jahr des Mehrparteiensystems konnten sich die Parteien nicht über die Frage des staatsrechtlichen Status Bosnien-Herzegowinas im Prozess der Dissolution der Jugoslawischen Sozialistischen Föderation einigen. Die SDS verließ demonstrativ die Parlamentssitzung,  nachdem die Bürgerinnen und Bürger BiH´s sich in einem Referendum am 28. Februar und 1. März 1992 für die Souveränität und Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas entschieden hatten. Im April 1992 folgte die militärische Besetzung Sarajevos seitens der Jugoslawischen Volksarmee (JNA), Milosevics Regime und der SDS, die, ebenso wie der Krieg, bis zum Daytoner Friedensabkommen 1995 andauerte. Nach Unterzeichnung des Daytoner Friedensabkommens 1995 folgten das Peacebuilding sowie die wirtschaftliche und infrastrukturelle Erneuerung des Landes.    

Ethnischer Pluralismus als Hindernis für einen Parteienkonsens bei der Staatsführung  

Bei den ersten demokratischen Wahlen nach dem Krieg, die im September 1996 stattfanden, gewannen erneut die drei nationalen Parteien HDZ BiH, SDA und SDS und erhielten  86% der Sitze im Parlament BiH.

Über die Verabschiedung von Gesetzen und Durchführung von Reformen herrschte kein Konsens unter den regierenden Parteien. Die nationalen Parteien gewannen sechs Mal in acht Wahlzyklen die Mehrheit der Stimmen, konnten sich in der Post-Daytoner Zeit jedoch in Bezug auf die wichtigsten zu verabschiedenden Gesetze nicht einig werden. Den fehlenden Konsens machte der Hohe Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft wieder wett, indem er durch Anwendung der Bonn-Powers die Verabschiedung von Gesetzen entschied und hochrangige Politiker ihres Amtes enthob, wenn diese die Durchführung des Daytoner Friedensabkommens behinderten. Bis 2009 hatte der Hohe Repräsentant 800 Entscheidungen angeordnet und 145 Gesetze vorübergehend verabschiedet. Diese Gesetze ermöglichten erst die Durchsetzung von Reformen. Unter den wichtigsten Reformen sind jene, die die Einführung einer Behörde für Grenzschutz, ein einheitliches Militär, die Gründung der Behörde für indirekte Besteuerung sowie des Gerichtshofes BiH und der Direktion für EU Integrationen ermöglichten. Eine ebenso wichtige Reform wurde in der Erweiterung und Stärkung der Kapazitäten des Ministerrates durchgeführt. Die Struktur des Ministerrates wurde von drei Ministerien im Jahr 1997 auf sechs und später auf neun Ministerien ausgebaut.        

Die Verabschiedung von Gesetzen und Durchsetzung von Reformen kamen vom 2008 bis 2015 zum Stillstand. 2015 wurde die deutsch-britische Reforminitiative für einen neuen Weg der Integration Bosnien-Herzegowinas in die Europäische Union vorgestellt. Mit der deutsch-britischen Initiative entwarf man einen neuen Ansatz zum Integrationsprozess Bosnien-Herzegowinas und nahm Abstand von einer Politik der Bedingungen bei Fragen, bei denen es unter den nationalen Parteien zu keinem Konsens kommen kann. So wurde beispielsweise die Verabschiedung von Amendements zur Verfassung, die eine Durchsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall “Sejdić-Finci” verlangt, vorläufig aufgehoben.

Die Reformagenda behandelte vorrangig sozio-ökonomische und Fragen der Beschäftigung und Verbesserung des Lebensstandards der Bürgerinnen und Bürger. Diesen neuen Ansatz akzeptierten Anfang 2015 sowohl Regierung als auch  Opposition. Aber diese Einigkeit der demokratischen Kräfte bei der Durchführung der Reformen war nicht von langer Dauer. In der zweiten Hälfte 2016 kommt es zu politischen Konflikten wegen der Weigerung der regierenden, aber auch der Oppositionsparteien in der Republika Srpska (RS), das Urteil des Verfassungsgerichts BiH über die Verfassungswidrigkeit des 9. Januar als dem Tag der RS anzuerkennen. Wegen der politischen Konflikte zwischen den Parteien entfernt sich BiH Anfang 2017 von der  Reformagenda und den Fortschritten bei der Erfüllung der Voraussetzungen für den Kandidatenstatus für einen EU-Beitritt BiH´s. Zusätzlich wird der Reformprozess durch die Forderungen der HDZ nach einer Änderung der Verfassung BiH, bzw. der Gründung einer föderalen Einheit mit kroatischer Mehrheit behindert. Auch zwischen den Präsidiumsmitgliedern BiH ist es zum Konflikt gekommen, als die bosniakische SDA Antrag auf Revision des Urteils des Kriegsverbrechertribunals aus dem Jahr 2007 in der Sache BiH gegen Serbien und Montenegro wegen Kriegsverbrechen und Genozids in Bosnien-Herzegowina stellen wollte. All diese politischen Konflikte führen Bosnien-Herzegowina in eine neue politische Instabilität. Sobald aber eine politische Instabilität erreicht ist, kommen alle Reformprozesse zum Stillstand.          

Wie können zwei permanente Krisen in der politischen Post-Daytoner Entwicklung Bosnien-Herzegowinas überwunden werden?

Die Post-Daytoner Zeit wird von zwei Krisen dominiert. Die erste ist sozioökonomischer Art, die zweite bezieht sich auf die politische Staatsführung.

Die Post-Daytoner Zeit ist gleichzeitig die Zeit, in der eine postsozialistische Transition stattfand und in der die Eigentumsverhältnisse geändert wurden. Ehemals staatliche Unternehmen wurden privatisiert. Die durchgeführte Privatisierung konnte die Produktionsentwicklung und den Erhalt der Arbeitsplätze nicht sichern. Zehntausende Arbeiter aus den Vorkriegs-Produktionsstätten verloren ihre Existenzgrundlage und leben nun in völliger Armut. Die Bildung einer neuen marktwirtschaftlichen Struktur durch die Gründung von mittelständischen und kleinen Unternehmen vollzieht sich sehr langsam. Die politischen Eliten befassen sich nicht mit einer wirtschaftlichen Entwicklung. Die Arbeitslosigkeit wächst konstant. Die Arbeitslosenrate in Bosnien-Herzegowina beträgt 40%, davon 60% junge gebildete Menschen. Die Lösung dieses Problems suchen junge Menschen im wirtschaftlich entwickelten Europa und verlassen BiH. Mehr als 30% der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Zwei Drittel der Rentner/innen, und derzeit sind es etwa 500.000, lebt von ihren Renten in Höhe von 350 KM (etwa 170 Euro) monatlich. Die Frage nach einer schnellen Lösung für die wirtschaftliche Entwicklung drängt sich einem hier automatisch auf.  

Da die Struktur des politischen Systems in BiH sehr kompliziert ist und es keine einheitliche Politik zur wirtschaftlichen Entwicklung gibt, bleiben makroökonomische Maßnahmen auf staatlicher Ebene aus. Die Etats der Entitäten, aber auch der Kantone in der Föderation, sind auf die Finanzierung von Verwaltung, Sozialem und der Rückzahlung der Schulden beim International Monetary Fund (IMF) ausgerichtet.

Eine mögliche Wiederbelebung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes könnte im Bereich der lokalen Wirtschafts- und Infrastrukturentwicklung liegen. Die Führung und der Unternehmergeist der Gemeindevorsteher/innen und Bürgermeister/innen haben eine erneute Entwicklung der meisten Gemeinden und Städte in BiH ermöglicht, Spitzenreiter sind Gračanica, Gradačac, Doboj, Goražde, Laktaši, Tešanj, Grude, Tuzla, Ljubuški, Derventa, Bijeljina und Brčko. Die Entwicklung des Unternehmertums bei jungen Menschen führt zu Existenzgründung. Voraussetzung dafür ist eine Entwicklung der kommunalen Infrastruktur.

Die Krise der politischen Führung Bosnien-Herzegowinas dauert ebenso lange wie die Post-Daytoner politische Entwicklung des Landes.

Diese Krise äußert sich in permanenten politischen Partei-Konflikten. Die Konflikte finden jedoch nicht zwischen den regierenden und den oppositionellen Parteien statt, wie es in anderen Staaten mit parlamentarischen Demokratien der Fall ist. Die politischen Differenzen äußern und erneuern sich innerhalb der regierenden Parteien. Es geht um Differenzen, die sich um die Entwicklung des Staates BiH als Einheit drehen. Bis 2006 machte die Serbische Demokratische Partei (SDS) ihre destruktive Einstellung zu BiH deutlich. Diese destruktive Einstellung gegenüber den staatlichen Institutionen BiH´s setzte nach 2006 Milorad Dodik mit dem Bündnis unabhängiger Sozialdemokraten (SNSD) als regierender Partei in der RS fort. Es entwickelt sich eine politische Philosophie, in der die Entität RS in allem Vorrang hat und die Institutionen des Staates Bosnien-Herzegowina oft vernachlässigt und blockiert werden.

Wo liegt der Ursprung einer solchen politischen Philosophie der regierenden Parteien in der RS? Zu allererst in der Politik – der Daytoner Verfassung, die den Entitäten weitreichende, den gesamtstaatlichen Institutionen jedoch eingeschränkte verfassungsmäßige Befugnisse erteilt. Neben diesen verfassungsrechtlichen Einschränkungen der institutionellen Befugnisse des Staates BiH gibt es auch Bemühungen, das Erbe Radovan Karadzics und seiner Serbischen Demokratischen Partei aufrecht zu erhalten. Das Wesentliche dieser Politik ist die Trennung des serbischen von den anderen beiden Völkern in BiH. Im Einklang mit einer solchen Politik strebt die Entität des serbischen Volkes eine Sezession vom Staat BiH an. Milorad Dodiks Bündnis unabhängiger Sozialdemokraten spricht sich öffentlich für eine Sezession der RS von BiH in den kommenden Jahren aus.

Außer der destruktiven Einstellung der regierenden Parteien in der RS gegenüber BiH und dem Funktionieren ihrer Institutionen ist da noch eine in ihrem Kern historische Einschränkung in der Struktur des politischen Pluralismus. Es geht um die Unfähigkeit der nationalen Parteien, zu einem Konsens in Bezug auf die wichtigsten Fragen der Entwicklung BiH´s in der Post-Daytoner Zeit zu kommen. Seit den ersten Wahlen nach dem Krieg 1996 erhalten nationalistische Parteien die Mehrheit der Stimmen. Nur im Zeitraum 2010-2014, als multiethnische bürgerliche Parteien die Parlamentsmehrheit gewannen, hatten sie diese Macht nicht. Die Siegerparteien im Parlament BiH sind nicht in der Lage, eine Regierung nach demokratischen Standards, also auf der Grundlage eines öffentlich proklamierten politischen Programms und einer Koalitionsvereinbarung für die Mehrheit im Parlament zu bilden.

Mathematische statt politische Koalitionen



Regierungen, die aufgrund von Partnerschaften zwecks Aufteilung der Macht gebildet werden, haben keine politische Macht, um selbstständig und aufgrund politisch-programmatischer Koalitionen Gesetze vorzulegen, zu verabschieden und diese durchzuführen. Solche Parlamentsmehrheiten sind die Ursache der politischen Instabilität in BiH. Bei vielen Fragen kommt man zu keinem Konsens, was Ursache für eine fortwährende politische Krise in BiH ist. Nationalistische Parteien artikulieren ihre Interessen auf kollektiver Basis. Sie nehmen sich das Recht heraus, ganze Völker zu vertreten. Deshalb ist das Parlament zu einer Arena der Konflikte der nationalen Parteien, und über sie auch der ethnischen Gruppen in BiH geworden. Diese Parteien sind die Träger der Ethno-Politiken, deren Kern das Misstrauen gegenüber den Anderen, ethnische Exklusivität und Nationalismus ist, was dazu führt, dass größtenteils nur die Interessen der eigenen Volksgruppe vertreten werden. Dies blockiert einen möglichen Konsens über die allgemeinen Interessen des Staates. Solange die nationalen Parteien bei den Parlamentswahlen die größte Macht erlangen, bleibt der Konsens aus und die Staatsführung bleibt instabil, mit gelegentlichen kleineren und größeren Krisen. Und in Krisenzeiten wachsen normalerweise auch die Spannungen und das gegenseitige Misstrauen.            

Ein Ausbrechen aus diesem Teufelskreis der Nationalpolitik würde die Stärkung der bürgerlichen und multiethnischen Parteien bedeuten, die damit mehr Vertrauen bei den Parlamentswahlen bekommen könnten.

Einer der Wege für die Schwächung des dominanten Einflusses der nationalen Parteien könnte die Einführung des Modells einer großen Koalition für einen europäischen Rechtsstaat Bosnien-Herzegowina sein. Es geht um ein Modell, bei dem alle Parteien, die jeweils mehr als 10% der Wählerstimmen erhalten, eine große Koalition im Parlament BiH bilden würden.

Die soziale Grundlage für eine große Koalition für ein europäisches Bosnien-Herzegowina liegt in der Orientierung von 78% der Bürger/innen für einen EU-Beitritt BiH´s (laut einer Meinungsumfrage der Direktion für EU-Integration 2016). Die gesellschaftlich-historische Grundlage für die Idee einer großen Koalition der Parteien für ein europäisches BiH liegt im allgemeinen Konsens der Bürger/innen BiH´s und im Willen der EU-Mitgliederstaaten, so schnell wie möglich Reformen in BiH durchzuführen, die Voraussetzungen für eine EU-Mitgliedschaft erfüllen und mit der Übernahme des Aquis Communautaire einen demokratischen Rechtsstaat aufzubauen. Wenn BiH EU-Mitglied wird, übernimmt es auch die europäischen Standards in Wirtschaft, Recht, Politik und Kultur. Die Bürger/innen bekommen mehr Sicherheit und Möglichkeiten für einen wirtschaftlichen Fortschritt. Die jetzige ethno-politische Volksvertretung wird durch eine interessenpolitische Volksvertretung ersetzt.

Die politischen Parteien würden ihre auf Kollektivität basierenden Parteiinteressen dann nicht auf eine Volksgruppe, sondern auf alle Bürgerinnen und Bürger in ihren lokalen Gemeinden und Interessengemeinschaften ausrichten. Die interethnischen Beziehungen würden sich in einem positiven sozialen und politischen Ambiente entwickeln. Politische Stabilität und Fortschritt in der gesellschaftlichen Entwicklung sind der Rahmen für die Erhaltung guter Beziehungen zwischen den Volksgruppen in BiH.       

Schlusswort

Bosnien-Herzegowina als multiethnische Gesellschaft und Staat begründet seine politische Entwicklung in der Post-Daytoner Zeit auf Friedensbildung und demokratischen Institutionen, mit dem Engagement von Friedenstruppen und zivilen Einheiten der Internationalen Gemeinschaft und der EU.

Die wichtigsten Gesetze, die Reformen und diverse Integrationsprojekte BiH´s in die EU ermöglicht haben, wurden verabschiedet durch vorübergehende Beschlüsse des Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft, der 145 Gesetze im Zeitraum 1997 bis 2009 oktroyiert hat.

Die vom Hohen Repräsentanten erlassenen Gesetze haben den fehlenden Konsens in der Regierung BiH ersetzt. Die größte Macht im Parlament BiH und den Entitäts-Parlamenten haben Parteien, die auf einer Ethnie basieren. Neben ihrem Unvermögen zum Konsens über die Entwicklung des Gesamtstaates Bosnien-Herzegowina produzieren sie aufgrund ihrer Ethno-Politik auch ständig politische Konflikte. Diese Konflikte werden auf die Bürgerinnen und Bürger und Zugehörige ethnischer Gruppen übertragen. Aus diesem Grund entwickeln sich harmonische Beziehungen unter den Volksgruppen im Geiste einer Jahrhunderte alten interethnischen Toleranz unter den Völkern BiH´s nur schleppend.

Ethno-nationale Parteien befördern von ihrem Wesen her eine Desintegration der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft, was durch die territoriale Markierung der Gebiete mit ethnischen Mehrheiten und der Bildung eines Verhaltensmusters im Sinne eines Rückzugs der Bürger/innen in ihre ethnische Gruppe bestätigt wird.

Die „Zwei Schulen unter einem Dach“ sind Teil dieses Musters.    

Die Überwindung der Auswirkungen solcher Ethno-Politiken ist durch eine Beschleunigung der EU-Integrationsprozesse BiH´s möglich, und zwar durch das Engagement des EU-Sonderbeauftragten und Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft. 

Das Projekt der beschleunigten EU-Integration BiH´s könnte durch bosnisch-herzegowinische demokratische Kräfte neuen Aufwind erhalten, wenn man mit Einwirkung der EU zur Bildung einer großen Koalition für einen europäischen Rechtsstaat BiH schreiten würde. In dieser Koalition würden all jene Parteien ihren Platz finden, die mehr als 10% der Wählerstimmen für sich verbuchen würden.

Eine große Koalition für einen europäischen Rechtsstaat BiH würde an einer umfassenden und einzigartigen Reformagenda arbeiten, die BiH ermöglichen würde, schnellstmöglich das europäische Aquis Communautaire in seine Gesetze zu integrieren.

Diese Reformagenda wäre ein gemeinsames Projekt des Parlaments BiH und des EU-Sonderbeauftragten in BiH. Zusätzlich sollte eine verstärkte Mediation der Institutionen der EU gewährleistet werden, um die Reformen so schnell wie möglich und erfolgreich auf den Weg zu bringen. Denn ein weiteres Hinauszögern des EU-Integrationsprozesses BiH´s könnte zu weiteren Konflikten und ethnischen Teilungen innerhalb BiH´s führen. Dies wiederum würde zu neuen geopolitischen Einflüssen, insbesondere der Russischen Föderation und der Türkei, in Bosnien-Herzegowina führen.       

Ins Deutsche übersetzt von Alma Sukić, hbs Büro Sarajevo