Unter den Augen des US-amerikanischen Präsidenten Bill Clinton und seiner Amtskollegen aus Russland, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Spanien unterzeichnen im Dezember 1995 in Paris die damaligen Präsidenten von Bosnien-Herzegowina, Serbien und Kroatien, Izetbegovic, Milosevic und Tudjman, das Daytoner Friedensabkommen und setzen einen Schlussstrich unter den blutigen Krieg. Dieses historische Bild hat sich im kollektiven Bewusstsein Bosnien-Herzegowinas eingebrannt und drückt ob seiner Widersprüchlichkeit auch 21 Jahre nach Dayton tief auf die bosnische Psyche.
Der Friedensvertrag und die in ihm enthaltene bosnische Verfassung, garantiert von den Kriegsherren aus den Nachbarstaaten, tausende Kilometer von bosnischen Landesgrenzen entfernt geboren, von niemandem in dieser Form erwünscht – mit Dayton ist wahrlich kein guter Start in die Nachkriegszeit gelungen. Wie die letzten 21 Jahre schmerzlich gezeigt haben, eine aus der Not geborene Verfassung gerät immer wieder in Not und mit ihr unweigerlich stets auch der gesamte Staat.
Der jüngste Konflikt in Bosnien-Herzegowina rund um die angekündigte Abhaltung des Referendums in der Republika Srpska (RS) ist nur eine in der Reihe von vielen Not- und Schieflagen, in denen sich Bosnien-Herzegowina seit dem Ende des Krieges befunden hat. In diesem jüngsten Konflikt spielen die bosnische Verfassung und der Verfassungsgerichtshof in den Hauptrollen. Der bosnische Verfassungsgerichtshof hat nämlich im November 2015 geurteilt, dass die Abhaltung des Feiertags der RS, einem orthodoxen Feiertag, die Nicht-Serben in der RS diskriminiere. Daraufhin setzte das Parlament der RS, dirigiert vom Präsidenten der RS, Milorad Dodik, ein Referendum an. Dieses soll nun am 25. September stattfinden. Eines ist klar und unmissverständlich – das Referendum in der RS ist ein direkter Affront gegen die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs und damit ein Angriff auf die Verfassung Bosniens. Bevor wir zu den politischen Folgen dieser Entscheidung der RS kommen, ist ein kurzer Blick in die Verfassung selbst wichtig.
Wider die Verfassung, wider das Land
Der in Dayton, Ohio erzielte – und von keiner Seite in dieser Form gewollte – Kompromiss schuf mit der Errichtung der beiden mit weitreichenden Kompetenzen ausgestatten Entitäten – der Föderation Bosnien-Herzegowina und der Republika Srpska – ein ungewöhnliches Konzept der staatlichen Ordnung.
Ja, die Verfassung von Dayton ist ungewöhnlich, widersprüchlich, weist Schwächen auf[1] Problematisch ist neben der Staatskonstruktion vor allem auch jener Teil der Präambel, der explizit Bosniaken, Serben und Kroaten als konstitutive Völker nennt. So wurden an die Stelle des Bürgers (Citoyen) als politischen Subjekts im Wesentlichen der ethnonational definierte Mensch und damit indirekt an die Stelle der Bürgergesellschaft die jeweiligen ethnonationalen Kollektive (der Serben, der Kroaten und der Bosniaken) als zentrale politische Subjekte gesetzt. Ein solches explizit ethnisches Konkordanzsystem führt zu vielfältigen Diskriminierungen auf ethnischer Basis, wie sie nicht zuletzt in der Entscheidung des Europäischen Menschengerichtshofes in Strassburg in der Materie Sejdić-Finci bestätigt wurden. Somit ist die Verfassung als Rechtsnorm, die gegen andere Rechtsnormen (Menschenrechtskonventionen) verstößt, bereits in sich äußerst problematisch. Die von der Verfassung ausgehenden realen politischen Gegebenheiten, die man als Verfassungswirklichkeit bezeichnet, sind aber noch problematischer. Der ethnische Proporz auf allen Ebenen des Staates potenzierte den auf ethnischen und nationalen Kriterien basierenden politischen Wettbewerb und läutete die Herrschaft der Ethnopolitik ein, die das Land im Würgegriff hält. Im Kern der Ethnopolitik liegt die andauernde Perpetuierung des krisenhaften Zustandes in Post-Dayton-Bosnien basierend auf einer uneingeschränkte Dominanz des Ethnonationalen als einer erprobten und in Augen ethnonationaler Eliten äußerst effizienten Herrschaftstechnik.
Der Verfassungsgerichtshof in Bosnien als zentrale Institution zur Wahrung der Verfassung stand angesichts der Paradoxien und vor allem der (Ethno)Politisierung der Verfassung von Beginn an auf wackeligen Beinen. Zu seiner Politisierung hat nicht zuletzt auch seine Zusammenfassung beigetragen. Der Verfassungsgerichtshof besteht bis heute aus neun Mitgliedern und ist ähnlich wie andere Staatsorgane nach dem ethnischen Prinzip paritätisch aufgeteilt und mit Vertretern der internationalen Gemeinschaft ergänzt. Vier Mitglieder kommen aus der Föderation (je zwei Bosniaken und zwei Kroaten), zwei aus der RS und drei Mitglieder werden vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ernannt.
Wer die Verfassung in Frage stellt, stellt den Staat in Frage
Trotz all der Schwächen und Widersprüche der Verfassung von Dayton ist es weiterhin das zentrale Rechtsdokument des Staates Bosnien-Herzegowina und ist auf dem Stufenbau der Rechtsordnung ganz oben zu finden. Daher gibt es bei der jüngsten Debatte rund um das Referendum in der RS nicht sehr viel zu deuten, die Gleichung ist einfach: Wenn man mutwillig aus politischen Gründen die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs nicht akzeptiert, akzeptiert man auch die Verfassung selbst nicht. Wenn man die Verfassung in Frage stellt, stellt man den gesamten Staat in Frage. Zugleich stellt man mit der Verfassung aber auch die durch die Verfassung garantierte Existenz der RS in Frage und öffnet womöglich – in diesem Fall bewusst – die Pandorabüchse. Wider die Verfassung, wider das Land.
Zurück zum aktuellen Konflikt. Ja, es stehen im Herbst lokale Wahlen an, die Dodik und seine SNSD mit der verheerenden Bilanz der langjährigen Herrschaft über die RS nie gewinnen würden, gäbe es nicht die ethno-nationale Karte, die man auch diesmal ausspielt. Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs über den Feiertag der RS kam Dodik gelegen und wurde zur Rettungsweste, an die er sich verbissen klammert. Sein politisches Schicksal und das Schicksal jener klientelistischen und korrupten Kreise aus Wirtschaft und Politik, die er in den letzten zehn Jahren zum Paralleluniversum der Macht in der RS aufgebaut hat, hängt am seidenen Faden. Angeschlagen kämpft er umso verbissener und ist bereit, jegliche Form des Konflikts in Kauf zu nehmen.
Internationale als Zuschauer
Wie wir aus all den Jahren nach Dayton wissen, kommt die ethno-politische Eskalation in Bosnien erst richtig in Fahrt, wenn das dämonisierte Gegenüber, in diesem Fall Bosniaken, auf den Zug aufspringt. So wie 2006 im Vorfeld der Wahlen Dodik und Silajdzic die kommunizierenden Gefäße gebildet haben, so sind es heute Dodik und Izetbegovic, die sich mit ihrer Rhetorik gegenseitig befeuern und damit auf Stimmenfang gehen. Während die politischen Artisten die waghalsigen Manöver hoch oben auf dem Seil vollführen, stockt den Zusehern der Atem. Die internationale Gemeinschaft und die EU wurden mittlerweile aus der Verwaltungsfunktion des Zirkus auf die Zuschauerplätze verbannt und sehen ebenfalls wie gelähmt zu. In die Realsprache übersetzt ist es eindeutig, dass die langjährige Passivität und reaktives Verhalten der internationalen Gemeinschaft und der EU die Ethnopolitik als zentrales Mobilisierungs - und damit auch Machtabsicherungsmittel genährt haben. Die neue Geopolitik, mit einer geschwächten EU, den passiven USA und erstarktem Russland und der Türkei mit dem jeweiligen autoritären Roll-Back, macht eine Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf den jüngsten Konflikt nahezu unmöglich. Was bleibt sind Warnungen, Appelle an Vernunft und letztlich die Hoffnung, dass es auch diesmal gut gehen wird. Damit wird aber Bosnien immer mehr zu einem Kollateralschaden der Passivität der internationalen Staatengemeinschaft.
Das ethno-politische Spiel, das so oft seit Dayton und gerade mit dem Referendum gespielt wird, wird leider weiter gehen. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass Dodik in letzter Sekunde einen Rückzieher macht und das Referendum wieder verschiebt. Wenn das Referendum einmal stattgefunden hat, hat man diese Munition vorerst verschossen. Man müsste dann wohl in der Zukunft den Einsatz erhöhen. Dies würde dann bedeuten, dass man den Austritt aus Bosnien-Herzegowina anstrebt und ein weiteres Referendum dazu ausruft. Das wäre die letzte Ebene der Eskalation, die letztlich aber zu riskant wäre. Auch mit Unterstützung Russlands wäre die Front dagegen zu breit. Serbien unter Vucic könnte sich dies keinesfalls erlauben und müsste Dodik wohl endgültig zurückpfeifen.
Feuerspiel mit Folgen
So oder so hat das Feuerspiel mit dem Referendum auch diesmal seinen Zweck erfüllt. Die Mobilisierung vor den lokalen Wahlen ist ein weiteres Mal nach dem rhetorisch-nationalistischen Muster erfolgreich hinter sich gebracht worden. Auch das Pendant auf der anderen Seite, die bosniakische SDA, wird von dieser weiteren Episode der kämpferischen Scharmützel mit Dodik profitieren und die Mehrheit der bosniakischen Stimmen hinter sich versammeln. Die Opfer werden wohl die selben bleiben: Auf der strukturellen Ebene ist der Schaden bereits jetzt deutlich sichtbar – das ohnehin dysfunktionale politische System von Bosnien-Herzegowina erodiert weiter und läuft Gefahr, nahe am absoluten Stillstand zu landen. Und die größten Opfer werden die Menschen von Bosnien-Herzegowina sein, die als Geiseln der Politik gehalten werden und von Tag zu Tag nur verlieren.
Und noch einmal zurück zur Verfassung: So ungewöhnlich und widersprüchlich die bosnische Staatskonstruktion und politische Wirklichkeit seit Dayton sein mag, eine letzte – normative und reale – Frontlinie dieser brüchigen Staatlichkeit muss gefunden werden. Dies kann letztlich nur die Verfassung sein. Sie muss evolvieren, muss sich weiterentwickeln. Gibt man die Verfassung willkürlich auf und hinterlässt die neue geopolitische Konstellation mit einer schwächeren EU und eines immer stärker werdenden Russland und der Türkei Bosnien in einem geopolitischen Vakuum, ist ein Zerfall des Landes nicht mehr ausgeschlossen.
Bosnien nach dem Versagen der 1990er Jahre noch einmal zu vergessen, könnte sich für Europa rächen. Man braucht schnell Strategien zur rhetorischen Entwaffnung. Diese kann nur dann erfolgen, wenn die EU Bosnien und die Probleme im Land ernst nimmt. Die zunehmend sinnentleerte EU-Perspektive muss mit Leben erfüllt werden, Bosnien muss zum Kernstück einer neuen offensiven Erweiterungspolitik am Balkan werden. In Zeiten, in denen man die Türkei offenbar immer mehr als Kandidaten verliert, soll man alle Energien auf den Balkan fokussieren und wenn notwendig härter und konsequenter eingreifen. Nur mit einer offensiven Europäisierung des Landes kann die EU und die internationale Gemeinschaft die selbst geschaffene und so lange stiefmütterlich vernachlässigte Verfassungsordnung in Bosnien retten.
[1] Eine ausgezeichnete und bislang in dieser Dichte und analytischer Präzision nicht vorhandene Analyse der Verfassung aus Dayton findet sich im Opus Magnum des in Leipzig lehrenden bosnischen Verfassungsjuristen Edin Šarčević. (Ustav iz nužde, Sarajevo 2010)