Über Schäfer und bosnisch-herzegowinische Herden mit wahlbedingten Zäunen
„Der Mensch ist dazu verurteilt, frei zu sein. Gleichzeitig ist dies das größte Geschenk, das der Mensch erhalten hat. Das Geschenk ist groß, dafür jedoch schwerwiegend, ja sogar gefährlich“ J.P. Sartre, 1947.
Sind wir wirklich so gut, wie wir glauben? Schlummert etwa ein Held oder eine Heldin in uns, oder doch eher eine apathische kleine Seele, die mit Gleichgültigkeit durchtränkt ist? Tief in uns drinnen haben wir uns mit allem abgefunden, was uns serviert wird, egal, wie schlecht es ist oder wann die Frist abgelaufen ist. Unser Überlebensinstinkt ist größer als die Qualität dessen, was wir zu uns nehmen. Wir könnten uns auch als eine Herde ausgeben – aber eine Herde ist eine organisierte Gruppe von Tieren, zwar mit bescheidenen geistigen Fähigkeiten, dafür aber mit einem guten und tüchtigen Führer, dem so genannten Schäfer. Wir sind Konformisten, aber noch mehr als der Konformismus hat uns die Apathie bereits angegriffen und breitet sich immer mehr aus. Nur scheint uns das nicht zu kümmern. Uns kümmert auch nicht, was wir denken, oder was all die anderen Menschen tun oder über uns denken.
Mehr als 20 Jahre sind seit dem Kriegsende in Bosnien-Herzegowina vergangen, zumindest scheinbar. Scheinbar, weil der einzige Unterschied zwischen dem Krieg und des heutigen Friedens das Ausbleiben der Schüsse, der Granateinschläge ist. Dafür fehlt es aber nicht an Angst, Unsicherheit, nationalen Spannungen und Existenzkampf. Darauf konnten wir wohl nicht so leicht verzichten. Kompasse und Richtlinien sind für uns abstrakte und große Worte, die wir in den Medien zu hören bekommen, wenn große und bedeutende EU-Akteure die bosnisch-herzegowinische politische Bühne betreten. Alles, was übrigbleibt, sind Scheinwerfer, und auch die gehen aus. Applaus gibt es schon lange keinen mehr, denn auf dieser Bühne sehen wir keinen adäquaten Akteur, der entschlossen seinen Finger heben und zeigen kann: „Hier entlang, Leute!“ – dabei ist das alles, worauf die bosnisch-herzegowinische Volksherde wartet.
Die Herde ist nicht besonders beunruhigt darüber, dass die Gesamtverschuldung BiH´s 11,9 Mrd. KM beträgt und die Verschuldung mehr als 3.000 KM pro Kopf beträgt, und zwar steigend. Zugegeben, auch wir sind in einigen Bereichen führend, wir sind das am geringsten verschuldete Land in der Region, dafür aber das einzige Land, das sich verschuldet, um seinen Staatsbeamten die Gehälter auszuzahlen. Und was machen wir? Nichts. Haben wir eine Exit-Strategie? Nicht so richtig. Wir lassen eine weitere intransparente Verschuldung zu uns unbekannten Zwecken zu, denn das Antragsschreiben können wir nicht einsehen. Sie sagen, es gäbe darin nichts zu lesen, wenn wir überhaupt dazu in der Lage wären.
Wir wissen nicht einmal, wie viele wir sind. Auch wissen wir nichts über das sozio-demografische Bild der Bevölkerung, denn der Zensus ist für uns eine Frage der Politik und nicht der Wissenschaft. Die Bürger/innen Bosnien-Herzegowinas haben für die Volkszählung 20 Millionen KM gezahlt, aber anscheinend reicht das noch nicht, um die Fakten klarzustellen. Wir gewähren ihnen ihre Politikspielchen vor unseren Augen. Vor genau diesen Scheinwerfern. Dann gibt es auch so etwas wie Applaus, denn es wird von Geld gesprochen. Aber, alle Bemühungen sind umsonst, liebe Wählerinnen und Wähler …
Bürger/innen nach Maß
Die regierenden Parteien wollen das Volk weiterhin in der gewohnten Formation halten, denn sie sind daran gewöhnt. So sind wir genau nach Maß der Politiker. Ein klügeres Volk verlangt und wählt klügere Herrscher, verlangt Taten und Ergebnisse. Fragen wir uns je, ob wir geeignet und zu all dem bereit sind, ob wir als Bürger/innen eines Staates die erwähnten Prozesse einfach ihren Lauf nehmen lassen …? Nach Antworten sollten wir auch bei Expert/innen suchen.
Psychologen haben einen passenden Begriff, mit dem man diesen Zustand, in dem wir uns befinden, beschreiben könnte: die Kontrollüberzeugung. Die Kontrollüberzeugung ist eine perzipierte Verortung der Faktoren, die eine Person als Ursprung der Steuerung ihres eigenen Verhaltens und als Ursache all dessen, was ihr wiederfährt erlebt, einschließlich ihrer Erfolge und Misserfolge (Petz, 1992). Es gibt Menschen, die glauben, dass alles, was ihnen wiederfährt ihr eigenes Verdienst, bzw. das Resultat ihres Handelns sei. Dann gibt es noch jene, die die Ursache für alles, was ihnen passiert, unabhängig von ihrem eigenen Verhalten finden. Man geht davon aus, dass Erstere eine internale und Letztere eine externale Kontrollüberzeugung haben.
Die externale Kontrollüberzeugung beruht auf der Prämisse, dass wir nicht für unser Leben – ob wir glücklich oder unglücklich, erfolgreich oder Versager, enthusiastisch oder depressiv - verantwortlich sind. Aus dieser Position heraus ist es einfach, anderen Personen oder der gesellschaftlichen Lage, der Sternenkonstellation, der biometeorologischen Vorhersage, der Verfassung oder einer höheren Macht die Schuld zu geben.
Das ist der einfache Teil, schwer jedoch ist – die Lage zu verändern. Wenn wir der Auffassung sind, dass wir keine Kontrolle über unser Leben haben, dann nörgeln, kritisieren, jammern, sorgen, drohen, beschuldigen wir (aus der eigenen Verantwortungslosigkeit oder einer Ohnmacht heraus) alles und jeden. Unser Unbehagen und unsere Verbitterung projizieren wir nach außen hin. Der Fehler liegt bei den anderen, bei der ganzen Welt – so ist halt das Leben. Die Frage aller Fragen ist: Wollen wir diese Situation ändern?
Ertrage es schweigend
Wir müssen aber nicht weit von Zuhause fort, um nach Antworten zu suchen. Es reicht schon, bei den Nachbarn zu linsen. 80.000 Kroatinnen und Kroaten sind auf die Straße gegangen, um eine ganzheitliche curriculare Reform im Bildungsbereich zu unterstützen, der ein Schulreformstopp wegen des politischen Drucks droht. „Kroatien kann das besser“ hieß die Parole mit der klar gemacht wurde, dass man Fachkompetenz statt Politik fordert. In Serbien versammelten sich die Bürger/innen um die Initiative „Wir geben Belgrad nicht her“ und protestierten jeden Tag, um die Degradierung und Plünderung Belgrads im Namen „megalomanischer urbanistischer und architektonischer Projekte, vor allem „Belgrad auf dem Wasser““ zu verhindern. Sie ließen verlauten, dass Belgrad ihre Heimat ist und das sie die Bürger/innen und somit verantwortlich für jeden seiner Teile, der Prozesse und Probleme sind; für die Gegenwart und das, was für die Zukunft hinterlassen werden soll. Seit zwei Monaten protestieren die Bürger/innen Mazedoniens als Teil der „bunten Revolution“ auf den Straßen. Die Büregr/innen fordern den Rücktritt von Präsident Ivanov wegen seiner Entscheidung über die Abolition der Politiker/innen, die in Korruption und Lauschangriffe verwickelt sind.
In Sarajevo haben gestern um 11 Uhr rund 40.00 Bürger/innen ihr Heim verlassen, haben sich in den umliegenden Cafés niedergelassen und statt Espresso Milchkaffee bestellt! Das ist eine Haltung, das sind wir. Und hier liegt leider auch die Schönheit der Ironie. Zurzeit tun wir mit Sicherheit nichts, um unsere Unzufriedenheit zu mindern, und das ist die einzige bosnisch-herzegowinische Wahrheit. In diesem Jahrhundert hatten wir ganze zweieinhalb Proteste und einige Versuche, unsere Unzufriedenheit auszudrücken. Jeden Tag wird es schwieriger und schlimmer, aber weiterhin gilt die Parole „ertrage es und schweig“. Wir haben mehr als 20 Jahre gewartet, um über die Gräuel und die schrecklichen Folgen des Krieges zu erzählen, aber irgendwo unterwegs haben wir vor lauter Erzählen vergessen, warum es überhaupt Krieg gegeben hat. Für die Bürger/innen BiHs ist es schwer sich einzugestehen, dass wir eine Volksherde sind, die es mittlerweile aufgegeben hat, über Zäune zu springen, ob mit oder ohne ihre Schäfer. Schon seit Jahren laufen wir um unsere Schäfer herum, sagen hier und da unsere Meinung (nur nicht selbstbewusst genug), und nach Bedarf geben wir unsere Wolle, unsere Milch und Käse ab – wann immer es die Unseren von uns verlangen. Trotz der Tatsache, dass wir sie umstellt und durchschaut haben. Das macht nichts, denn wir sind faire und ehrliche Arbeiterinnen und Arbeiter. Liefert die Ware, und um das Entgelt bettelt. Die Zeit vergeht, so ist das. Und sie wird auch weiterhin vergehen, egal, ob man von uns hört oder nicht. Das Problem ist, dass auch die Kinder parallel mit der Zeit wachsen, aber wie und warum auf so schlechte Art und Weise?! Diese Frage stellen wir uns zwar, aber nicht entschlossen genug, um die Massen zu mobilisieren und nach bestimmten Veränderungen zu verlangen.
Es obliegt uns, Verantwortung bei den nächsten Wahlen zu zeigen
Ist es dann nicht an der Zeit, dies zu verändern? Die Bürgerinnen und Bürger Bosnien-Herzegowinas MÜSSEN sich bestimmte Dinge erst selbst bewusst machen! Sie müssen wissen, dass die Würfel ewig geworfen werden können, aber dass die Spielfigur erst ind Häuschen kommt, wenn wir es mit der Hand bewegen. Alles hängt von uns ab. Und wir brauchen keine Morde, Diebstähle, Wahlmanipulationen und defekte Tore auf Bolzplätzen. Wir brauchen uns selbst – VERANTWORTUNGSBEWUSST, TRANSPARENT und BESTIMMT. Die Kontrollüberzeugung ist uns in all den Jahren abhanden gekommen und wir müssen sie wieder in ihre Ausgangsposition bringen! Wir allein sind verantwortlich für unser Leben und das, was uns wiederfährt. Also sind wir auch selbst schuld an der gegenwärtigen Lage. An den 80.000 jungen Menschen, die im vergangenen Jahr das Land verlassen haben, am Nepotismus im öffentlichen Sektor, an der Korruption und Plünderung des Staates, an all dem sind wir selbst schuld, denn wir haben uns selbst aufgegeben!
Die Gelegenheit dazu bekommen wir im Oktober 2016, wenn wir uns wieder entscheiden müssen, wem wir das Privileg zuteilwerden lassen, die lokale Gemeinde zu verwalten. Lasst nicht zu, dass andere für uns bestimmen und die Kreuze hinter die Namen auf den Wahllisten setzen. Kreuzt sie SELBST an. Denkt gut nach und entscheidet dann, wer das Privileg und das Recht bekommt, euch zu vertreten und in eurem und im Namen eurer Kinder und der künftigen Generationen die Hand zu heben bei Sitzungen, Räten und Versammlungen. Aber die Wahlen sind noch nicht das Ende der Geschichte. Wir sind erst am Anfang mit einer ernsthaften Verpflichtung und Verantwortung, die Ereignisse nach den Wahlen zu beobachten und zu verfolgen. Kein Gemeindevorsteher oder Gemeindevorsteherin weiß besser als die Bürger/innen, wo Bedarf besteht und welche Bank oder Rutsche unsicher für ihr Kind ist! Sie können nichts, was DICH betrifft, in DEINEM Namen entscheiden. DU lebst in dieser Gemeinde und DU musst dich aktiv an allen Prozessen in deiner lokalen Gemeinde beteiligen, von öffentlichen Debatten bis hin zu Ratsversammlungen.
Wenn du unzufrieden bist, dann zeig es laut und deutlich! Jeden Tag, bei jeder Gelegenheit! Zeig, dass dir dein und der Wohlstand unserer Kinder wichtig ist. Dass dir ein guter Lebensstandard für jeden Bürger Bosnien-Herzegowinas wichtig ist. Dass für alle gleiche Chancen gelten sollten, ungeachtet desse, wo sie geboren wurden oder wie sie heißen. Wir wollen keine Schafe mehr sein, denn wir haben keine Zeit mehr, den Kopf zu senken, leise zu blöken und ab und zu Töne der Glöckchen um unseren Hals von uns zu geben.
Du sagst, es geht dir gut? Na, wenn das so ist … achte auf den Zaun!