Geteilte Demokratie: Seit 25 Jahren arbeitet die Heinrich-Böll-Stiftung mit Memorial zusammen, der wohl bekanntesten russische NGO. Im Laufe der Jahre hat sich eine ”politische Freundschaft” entwickelt, die Grundlage für viele gemeinsame Projekte ist.
Memorial ist eine bekannte, große, ein wenig komplizierte und sehr erfolgreiche Organisation. Im Jahr 1988 – noch zu Sowjetzeiten – aus einer Bürgerbewegung entstanden, ist Memorial heute ein Netzwerk, eine Konföderation von mehr als 80 Mitgliedsorganisationen, die meisten von ihnen in Russland, aber z.B. auch in der Ukraine, in Deutschland, Belarus und Italien.
Memorial steht auf drei Säulen: der Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit der Sowjetunion und der Verbrechen des Staates gegen seine eigene Bevölkerung, dem Einsatz gegen Menschenrechtsverletzungen heute und der sozialen Fürsorge für die Opfer politischer Repression. Nicht alle Memorial Mitgliedsorganisationen machen alles, viele haben sich spezialisiert. Die meisten Memorial-Mitglieder sind regionale Organisationen wie Memorial Perm, Memorial Komi oder Memorial Rjasan. Daneben gibt es thematische Mitgliedsorganisationen. Die wichtigsten sind das Menschenrechtszentrum Memorial, das Wissenschaftlich-Historische Forschungs- und Aufklärungszentrum Memorial (NIPC) und das Museum Perm-36. Dazu gehört aber auch die „Bürgerbeteiligung“, die ein landesweites Netzwerk von Beratungsstellen für Flüchtlinge und Umsiedler/innen unterhält.
Das alles, diese ganze in über 25 Jahren teils wild gewachsene, teils bewusst geschaffene Struktur, die ganz Arbeit hat Memorial zur wohl bekanntesten russischen NGO gemacht. Seit 25 Jahren arbeiten die Heinrich-Böll-Stiftung und Memorial zusammen. Angefangen hat alles damals, im fernen 1990, mit einem Projekt zur Hilfe für ehemalige sogenannte „Ostarbeiter/innen“, also Menschen, die im Zweiten Weltkrieg aus von der Wehrmacht besetzten Gebieten der Sowjetunion zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht wurden. Das waren rund acht Millionen Menschen, von denen nach dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland nur zwei Millionen lebend in die Sowjetunion zurückkehrten.
Doch die Rückkehrer/innen erwartete in der Heimat ein schweres Los. Die Männer wurden meist als „Verräter“ (weil sie überlebt hatten!) ins Lager geschickt. Die Frauen mussten lebenslang Diskriminierungen ertragen, durften nicht in Großstädten leben und keine höhere Bildung erhalten. Daraus entstand das gemeinsame Projekt „Opfer zweier Diktaturen“, das Memorial und die Heinrich-Böll-Stiftung bis heute verbindet.
Viele andere Projekte von einem gemeinsamen Stipendienprogramm für junge Historiker/innen und Soziolog/innen über den Schülergeschichtswettbewerb „Der Mensch in der Geschichte – Russland im XX. Jahrhundert“ bis zum „Polnischen Projekt“ zur Unterstützung polnischer Opfer sowjetischer staatlicher Repression folgten.
Mit der Zeit wuchs die Zusammenarbeit zwischen Memorial und der Heinrich-Böll-Stiftung zu einer veritablen, man kann schon so sagen, „politischen Freundschaft“. Gemeinsam organisieren Memorial und die Heinrich-Böll-Stiftung ein regelmäßiges „Grünes Russlandforum“ in Berlin und Moskau und veranstalten seit einigen Jahren jeden Herbst das „Europäische Geschichtsforum“ in Berlin.
Es gibt aber noch etwas Besonderes an Memorial – und das ist die innere Demokratie. Wie kaum eine andere russische NGO werden die demokratischen Regeln nicht nur nach außen und für die Gesellschaft gefordert, sondern auch nach innen gelebt. Wie überall gibt es natürlich auch bei Memorial Führungspersönlichkeiten, deren Wort in der Diskussion etwas mehr Gewicht hat als das von anderen, dem alle ein wenig aufmerksamer zuhören. Aber letztendlich wird demokratisch im alle zwei Jahre gewählten, 27 Personen umfassenden Vorstand abgestimmt, oft nach langen und kontroversen Diskussionen.
All das, die verzweigte Struktur, die Verankerung in vielen Regionen eben nicht mit Filialen, sondern eigenständig, aus der jeweiligen Region heraus entstandenen Mitgliedsorganisationen, vor allem aber die unbestreitbare Kompetenz in allen Fragen der totalitären und repressiven Seiten der sowjetischen Geschichte haben aus Memorial eine Institution gemacht. Das ist nicht einfach so daher gesagt. Es ist ein Ruf, der Memorial auch heute, in erneut stürmischen Zeiten für NGOs in Russland, zumindest ein wenig schützt.
Zwar baut die seit einigen Jahren wieder sehr aktive staatliche Geschichtspolitik vor allem auf die Verherrlichung des sowjetischen Sieges unter Stalins Führung im Zweiten Weltkrieg und trägt so zu einer gewissen Stalin-Renaissance bei, obwohl der Kreml das so direkt wohl gar nicht will. Die Geschichtspolitik ist eklektisch. Denn auf der anderen Seite werden die Millionen Opfer politischer Verfolgung (vor allem natürlich unter Stalin, aber nicht nur) nicht vergessen. Seit einigen Jahren gibt es Planungen für eine zentrale, staatliche Gedenkstätte in Moskau. Und Memorial wird an den Planungen beteiligt.
Das liegt am populistischen Charakter des Putinschen Staates. Er bezieht seine Legitimation einerseits daraus, ökonomisch erfolgreich zu sein und, jedenfalls in seiner Selbstdarstellungen, aber auch in den Augen vieler Menschen, das Land wieder zu internationalem Ansehen gebracht zu haben (wobei es eher mit Zufriedenheit hingenommen wird, dass dieses Ansehen zu nicht unerheblichen Teilen aus Angst vor Russland besteht). Aber andererseits kann er es sich nicht leisten (oder glaubt es sich nicht leisten zu können) zu ignorieren, dass es praktisch in jeder Familie Erinnerung an verfolgte Vorfahren und Verwandte gibt. Und hier kommt Memorial ins Spiel: Ohne die Zustimmung von Memorial müsste jede Gedenkstätte mit dem Makel leben, nicht wirklich echt, nicht wirklich das „Richtige“ zu sein.
Noch einmal: Das schützt Memorial ein wenig, macht diese Partner/innen etwas stabiler als viele andere NGOs, die dieser Tage zu „Agenten“ erklärt werden (wie auch einige Memorial-Mitgliedsorganisationen oder das Zentrum für Gender-Forschung in Samara). Es ist dennoch nicht einfach, sich weiter für eine differenzierte Sicht auf die Geschichte einzusetzen, für die Einhaltung von Menschenrechten zu kämpfen und sich damit gegen den eigenen, ziemlich mächtigen Staat zu stellen. Es ist ein Balanceakt.
Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers "Für Demokratie - Vom Engagement der Heinrich-Böll-Stiftung in der Welt" und wurde im Rahmen der gleichnamigen Publikation erstellt.