Das Ende des Arabischen Frühlings: Was ist von den Revolutionen geblieben?

Der Tahrir-Platz in Kairo im Juli 2011
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Der Tahrir-Platz in Kairo im Juli 2011

Fünf Jahre nach dem Beginn des Arabischen Frühlings ist die Aufbruchsstimmung der Ernüchterung gewichen. Angesichts der nicht enden wollenden Gewalt, der Wiederkehr autoritärer Herrschaftsformen oder gar des Staatszerfalls gilt die „Arabellion“ als gescheitert. Ein solch pauschales Urteil greift jedoch zu kurz.

In Tunesien ist die Demokratisierung relativ weit fortgeschritten, in Marokko sind – wenn es auch an der Umsetzung hapert - politische Reformprozesse angestoßen worden. In anderen Ländern wurde der Protest gewaltsam unterdrückt (z.B. Bahrain) oder entwickelte sich zu einem Bürgerkrieg (Syrien). Auch die Gesellschaften in Libyen und im Jemen sind von bewaffneten Konflikten und Prozessen des Staatszerfalls gekennzeichnet. In Ägypten, wo die Demokratiebewegung zunächst beachtliche Erfolge feierte, wurde die Transformation durch einen Putsch rückgängig gemacht. Und schließlich haben es die Herrscherhäuser in den Golfstaaten vermocht, die Proteste der Bevölkerung durch eine Mischung aus politischer Repression und finanziellen Zuwendungen einzudämmen. Anhand der Beispiele Tunesien, Ägypten und Syrien werden im Folgenden drei sehr unterschiedliche Ergebnisse der Massenproteste gegen die alten Eliten, der Forderungen nach politischer Freiheit und sozialer Gerechtigkeit skizziert, die später als „Arabischer Frühling“ in die Geschichte eingingen.

Tunesien

Tunesien gilt vielen noch immer als Hoffnungsträger der arabischen Demokratiebewegung. Hier hatte 2011 der Arabische Frühling begonnen, ausgelöst durch die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid im Dezember 2010. Eine Verzweiflungstat, die auf die schlechten Lebensbedingungen der Mehrheit der tunesischen Bevölkerung aufmerksam machte. Sie löste eine Schockwelle im ganzen Land aus, Massenproteste führten innerhalb weniger Wochen zum Rücktritt der Regierung, Staatspräsident Ben Ali floh ins Exil nach Saudi-Arabien. Es folgte ein langwieriger politischer Übergang, der 2014 mit der Verabschiedung einer neuen, demokratischen Verfassung und freien Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zu Ende ging. Er war überschattet worden von einer immer stärkeren gesellschaftlichen Polarisierung in ein konservativ-islamistisches und ein säkular-westliches Lager, die sich weiter zuspitzte, nachdem mit Mohamed Brahmi und Chokri Belaid zwei prominente Abgeordnete aus dem linken Spektrum ermordet worden waren. Auf Druck der Zivilgesellschaft und durch die Vermittlung des Gewerkschaftsdachverbandes Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT) konnte schließlich ein Konsens erzielt werden. Aktivistinnen der tunesischen Frauenbewegung, Blogger/innen, Vertreter/innen von Menschenrechtsorganisationen und Intellektuelle hatten die Arbeit der Verfassungsgebenden Versammlung kritisch begleitet und mögliche Einschränkungen von Freiheitsrechten regelmäßig angeprangert. Eine weitere Voraussetzung für den Verfassungskompromiss war die pragmatische Haltung der moderat-islamistischen Ennahda-Bewegung, der stärksten Partei der Verfassungsgebenden Versammlung, die schließlich zusätzliche islamische Bezüge aus dem Verfassungsentwurf zurücknahm.

Dass die demokratische Transformation Tunesiens bisher recht erfolgreich verlief, geht auf verschiedene Faktoren zurück. Der vergleichsweise hohe Bildungsgrad der Bevölkerung und die relativ liberale Tradition des Landes haben eine starke Zivilgesellschaft hervorgebracht. Günstig ausgewirkt hat sich zudem, dass die tunesische Gesellschaft ethnisch und religiös weniger stark fragmentiert ist als die vieler anderer Staaten der Region. Religiöse Reformbewegungen haben es Zivilgesellschaft und Oppositionsparteien sogar erleichtert, sich gegen die theokratischen Ambitionen der Ennahda durchzusetzen.

Die erste wichtige Bewährungsprobe hat die junge Demokratie Tunesien mit den Parlaments- und Präsidentschaftsahlen Ende 2014 bestanden. Die Wahlen sind nicht nur frei und fair verlaufen, das Ergebnis – neue Mehrheitsverhältnisse mit dem säkular-nationalistischen Wahlsieger „Nidaa-Tounes“ – wurde auch von allen Parteien akzeptiert.

Bei allen Erfolgen sind die Herausforderungen, die das Land auf dem Weg zu einer konsolidierten Demokratie bewältigen muss, weiterhin immens. Gravierende sozio-ökonomische Probleme wie die hohe Jugendarbeitslosigkeit sind nach wie vor ungelöst. Ende Januar 2016 gingen erneut Tausende gegen die Arbeits- und Perspektivlosigkeit auf die Straße. Die größte Bedrohung für den Fortbestand der jungen Demokratie sind jedoch die schlechte Sicherheitslage und die Schwäche des verkrusteten tunesischen Sicherheitssystems. In den letzten Monaten wurde das Land wiederholt von schweren Gewaltanschlägen erschüttert, zuletzt Anfang März 2016, als bei einem Angriff islamistischer Kämpfer aus Libyen in einer tunesischen Grenzstadt 45 Menschen ums Leben kamen. Nach den verheerenden Terroranschlägen auf die Präsidentengarde (November 2015), auf das Bardo Museum in Tunis sowie ein Hotel in Sousse (März und Juni 2015) mit zahlreichen Toten, hatte es bereits viel Kritik an den tunesischen Sicherheitskräften gegeben, die auf viele unkoordiniert und unvorbereitet wirkten. Die Bedrohung durch Gewaltakte und der inadäquate Umgang der tunesischen Behörden stellen aber nicht nur eine Gefahr für die Sicherheit und Stabilität des Landes dar. Auch die demokratischen Errungenschaften Tunesiens sind durch die Terrorbekämpfung bedroht. Wenn ein nicht reformierter, intransparent agierender Sicherheitsapparat immer mehr Befugnisse erhält, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass rechtsstaatliche Verfahren ausgesetzt werden – für kritische Beobachter/innen aus der Zivilgesellschaft ein „Deja Vu“ von Methoden aus der Zeit des Polizeistaates unter Ben Ali.

Ägypten

Ägypten hat seit der Revolution vom Januar 2011, die das Mubarak-Regime wegfegte, zwei radikale politische Wechsel erlebt. Anfang 2011 protestierten säkulare Kräfte und verschiedene islamische Organisationen gegen die verkrustete Politikerkaste, für bessere soziale Verhältnisse und Demokratie. Viele und vor allem junge Aktivistinnen und Aktivisten beteiligten sich mit neuen, innovativen Formen des politischen Protests an der Revolution – sei es in den sozialen Netzwerken oder auf der Straße. Bereits nach wenigen Wochen gelang es, Hosni Mubarak zu stürzen. Dies machte den Tahrir-Platz in Kairo, dem Zentrum der Protestbewegung, zum Symbol des demokratischen Aufbruchs in der arabischen Welt. Die Muslimbrüder, die als einzige Organisation auch auf dem Land gut aufgestellt waren, konnten die Januar-Revolution für sich nutzen. Ihre Partei gewann 2012 die weitgehend freien Wahlen und stellte mit Muhammed Mursi den neuen Präsidenten des Landes. Das liberale und linke Spektrum war organisatorisch nicht in der Lage, eine echte Alternative zu den Muslimbrüdern anzubieten – unter anderem, weil die Parteien stark zerstritten waren und keine gemeinsame Strategie entwickelt hatten.
Die Muslimbrüder vermochten es nach ihrer Machtübernahme jedoch nicht, einen gesellschaftlichen Konsens über wichtige Zukunftsfragen herzustellen. Nach Meinung der ägyptischen Schriftstellerin Mansura Eseddin agierten sie weiter im Stile einer Untergrundorganisation.  Das islamistische Verfassungsprojekt, das der religiösen und kulturellen Vielfalt Ägyptens nicht entsprach, wurde gegen den Willen der urbanen Mittelschichten durchgepeitscht. Brennende soziale und ökonomische Fragen und der Aufbau neuer demokratischer Institutionen wurden dagegen vernachlässigt. Erneut kam es zu Massenprotesten, diesmal gegen einen Staatschef, der erst wenige Monate im Amt war.

Als das Militär im Juli 2013 putschte und eine Übergangsregierung einsetzte, jubelten tausende Menschen auf dem Tahrir-Platz. Viele Ägypterinnen und Ägypter sahen in dem Militärputsch die Chance auf die Vollendung der Revolution, eine Fortsetzung der Demokratisierung – wenn das Militär erst einmal Ordnung und Sicherheit wiederhergestellt hätte. Das sollte sich jedoch als Illusion herausstellen. Schon nach dem Massaker an protestierenden Mursi-Anhängern, bei dem Sicherheitskräfte in August 2013 über 800 Menschen töteten, wurde deutlich, dass das Militär das Land zurück in die Autokratie führen würde. Die demokratische Öffnung Ägyptens wurde rückgängig gemacht, jegliche Opposition – ob islamistisch oder säkular – unterdrückt, Versammlungs- und Meinungsfreiheit stark eingeschränkt. 45.000 Menschen sind ins Gefängnis gesteckt worden, es gibt Schau- und Scheinprozesse. Der neue starke Mann Ägyptens, General Abdel Fatah al-Sisi, baute nach seiner Wahl zum Präsidenten die staatliche Repression massiv aus. Das wirkt sich auch auf die ägyptische Zivilgesellschaft aus, die kaum noch handlungsfähig ist. Mit dieser Strategie haben die neuen Machthaber Ägyptens, finanziell gestützt von den Golfstaaten, vorerst für Ruhe im Land gesorgt – nicht jedoch für langfristige Stabilität.

Syrien

Auch in Syrien protestierten in den ersten Monaten des Jahres 2011 Bürgerinnen und Bürger gegen das herrschende Regime, gegen Korruption und Vetternwirtschaft, gegen Polizeigewalt und für mehr Bürgerrechte. In umgedichteten Volksliedern, mit Graffitis und in den sozialen Medien wurden die Absetzung von Präsident Assad und ein freies, geeintes Syrien gefordert. Als Ausgangspunkt der Revolution wird der Ort Daraa im Süden des Landes betrachtet, an dem im März 2011 15 Teenager wegen regimekritischer Slogans verhaftet und gefoltert worden waren. Die Demonstrationen für die Freilassung der Jugendlichen wurden vom Regime mit brutaler Gewalt unterbunden; es ließ Scharfschützen auf unbewaffnete Demonstranten feuern. Dies löste eine Welle von Protesten aus, die sich über das ganze Land ausbreiteten. Das Assad-Regime, das schon vor dem Arabischen Frühling eines der repressivsten in der Region war, war von Beginn an entschlossen, keine substantiellen politischen Zugeständnisse zu machen. Die Regierung versuchte die Protestbewegung mit aller Gewalt niederzuschlagen. Bereits in den ersten Monaten wurden mehr als tausend Demonstranten von Assads Sicherheitskräften erschossen, es gab Massenverhaftungen und Folter, unzählige Regimegegner „verschwanden“ spurlos.

Als Reaktion auf die Brutalität des Regimes wandelte sich die anfangs weitgehend friedliche Protestbewegung zu einem bewaffneten Aufstand. Deserteure des syrischen Militärs gründeten im Juli 2011 die sogenannte „Freie Syrische Armee“ (FSA) als Dachorganisation verschiedener Widerstandsgruppen. Sie konzentrierte sich zunächst darauf, die Bevölkerung in den Oppositionshochburgen vor der Armee des Assad-Regimes zu beschützen. Spätestens seit 2012 gingen die Rebellen jedoch auch offensiv gegen die syrischen Streitkräfte vor und eroberten wichtige Gebiete und Stadtteile. Es folgte eine Eskalation der Gewalt, die den syrischen Bürgerkrieg zu einem der brutalsten Konflikte nach Ende des Zweiten Weltkriegs machte und die Flucht von Millionen Menschen zur Folge hatte. Weil die Freie Syrische Armee es nicht vermochte, die Bevölkerung vor der Gewalt des Regimes zu schützen, wandten sich viele Gruppen von der FSA ab und schlossen sich islamistischen oder dschihadistischen Kampfeinheiten an, die durch externe Sponsoren, vor allem aus den Golfstaaten, erheblich besser ausgerüstet waren. Immer mehr Rebellengruppen kämpften nun gegen das Regime und zunehmend auch gegeneinander, weder die Führung der FSA noch die syrische Exilopposition hatten Einfluss oder gar Kontrolle über sie. Seit 2013 kämpften auch  zwei Ableger von al-Qaida in Syrien: die schlagkräftige al-Nusra-Front und der Islamische Staat im Irak und Syrien (ISIS). Die Zivilbevölkerung leidet nun auch unter dem Terror der ISIS (heute IS) und ihrer Verbündeten.

Nach fünf Jahren liegt Syrien in weiten Teilen in Trümmern, die Hälfte der Bevölkerung ist auf der Flucht, über 250.000 Menschen sind getötet worden. Mit dem militärischen Eingreifen Russlands im September 2015 hat der Krieg eine neue Eskalationsstufe erreicht. Die Angriffe auf moderate Oppositionsgruppen und zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser haben zugenommen, was neue Fluchtbewegungen ausgelöst hat. Trotz dieser extrem schwierigen Umstände gibt es immer noch unzählige Aktivistinnen und Aktivisten in- und außerhalb des Landes, die zivilen Widerstand leisten und am Ziel eines demokratischen Syriens festhalten. Sie dokumentieren Menschenrechtsverletzungen und schmuggeln Informationen außer Landes, sie betreiben Medienplattformen, um der Kriegspropaganda des Regimes zu begegnen, sie organisieren Kampagnen gegen die Bombardierungen oder das Aushungern der belagerten Städte und Dörfer. Aktivistinnen und Aktivisten geben eigene Zeitungen heraus oder organisieren Workshops, in denen es um das friedliche Miteinander verschiedener Religionsgruppen und die demokratische Zukunft Syriens geht. Vor allem aber leisten sie humanitäre Hilfe an Orten, die von keiner der internationalen Hilfsorganisationen erreicht werden können. Ob die Feuerpause, die Ende Februar 2016 in Kraft getreten ist, der Beginn eines Übergangs zu einer dauerhaften Waffenruhe oder gar eines ernstzunehmenden Friedensprozesses ist, bleibt abzuwarten. Fest steht, dass in einen solchen Prozess eben diese Akteure des zivilen Widerstands gegen die Diktatur eingebunden werden müssen, wenn Syrien eine Chance auf einen politischen Neuanfang haben soll.

Hinweis: Dieser Beitrag erschien in leicht gekürzter Form in der Publikation „Für Demokratie. Vom Engagement der Heinrich-Böll-Stiftung in der Welt“.