Die gekidnappte Bürgerschaft

Frieden oder Gerechtigkeit: Die Chronik der Auferlegung eines falschen Dilemmas

Spinozas Raffinesse oder Luthers Idealismus waren zu komplex für die Menschen, die unter einer vierjährigen Belagerung litten, ohne elementare Lebensgrundlagen, dafür tagtäglich Tötungen, Verstümmelungen und Massakern ausgesetzt …  Die Folgen des Krieges, das Gefühl der vollkommenen Verlassenheit und der Ungerechtigkeiten haben ihr übriges dazugetan. Franklin überwiegt Spinoza und Luther. 

Spinoza wurde mit einem "großen Anathem" exkommuniziert, verflucht, mit dem Messer attackiert, und am Ende stirbt er an Tuberkulose in der Verbannung. Luther wurde (in einer Zeit, in der seltener der Begriff Terrorismus verwendet wurde) durch ein Scharfschützengewehr getötet. Sein Schicksal, ähnlich wie das vieler Einwohner Sarajevos, macht seine Worte wenig überzeugend. Nebenbei gesagt lebten die Bürgerinnen und Bürger Bosnien-Herzegowinas seit einiger Zeit in Frieden, als es Luthers Familie 2009 in einem Zivilgerichtsverfahren gegen Lloyd Jowers endlich gelungen war zu beweisen, dass er nicht nur das Opfer des Killers J.E. Ray war, sondern auch das Opfer einer großen Verschwörung, in der Jowers die Waffe für das Attentat besorgte und Ray auf Geheiß eines Mafiabosses aus New Orleans anwarb... Und Franklins Zitat über Krieg und Frieden ist weit weniger bekannt als sein allgemein verwendeter Spruch "Zeit ist Geld"!

In anarchischen Zeiten finden sich Manipulanten und Intriganten in der Regel besser zurecht als Gutmenschen.  Die eigentlich simple Geschichte über Bosnien ist heute so dermaßen kompliziert, dass viele schon bei dem Versuch, sich mit ihr zu beschäftigen, entmutigt aufgeben. Um dieses Problem weit weg von Europa zu schieben, erfindet man Märchen über den merkwürdigen, abstrusen Balkan, so als wäre er nicht die Reflexion der Unfähigkeit Europas, sich mit sich selbst auseinander zu setzen. Viele vergessen lieber, um ihr Gewissen rein zu waschen. Sie vergessen, dass sich in Bosnien nicht nur bosnische Muslime verteidigten, die der genozidalen Politik der benachbarten, traditionell nicht wohlgesonnenen Nachbarländer, angeführt von Tuđman und Milošević, ausgesetzt waren, sondern dass damals in Bosnien ein Krieg um die Seele Europas geführt wurde, um die Idee, dass Verschiedenartigkeit ein Segen und keine Strafe ist!

Nach der Unterzeichnung des Daytoner Abkommens schrieb Susan Sontag  1995 in dem im The Nation veröffentlichten Artikel "A Lament for Bosnia": "Niemand kann sich damit herausreden, er habe nichts gewusst von den Verbrechen, die in Bosnien nach Ausbruch des Krieges im April 1992 begangen wurden - Sanski Most, Stupni Do, Omarska und andere Konzentrationslager mit ihren Todeskammern (in denen das Abschlachten von Hand durchgeführt wurde, im Unterschied zu den industrialisierten Massenmorden in den Nazi-Lagern), das Martyrium von Ost-Mostar, Sarajevo, Goražde, das Massaker an mindestens 8.000 gefangenen Männern und Jungen nach dem Fall von Srebrenica, eine ganze Liste an Ehrlosigkeit. Und niemand kann behaupten, dass das bosnische Problem nicht eine europäische Frage sei:  Demokratie, Bürgergesellschaft, Multikulturalismus.  Warum also haben diese Verbrechen - diese Werte - keine stärkere Reaktion hervorgerufen?  Wie kann es sein, dass keine angesehenen und bekannten Intellektuellen gegen den Genozid in Bosnien und für die Verteidigung Bosniens aufgestanden sind? 

Die Fragen, die Sontag stellte, sind bis heute unbeantwortet, und im Daytoner Bosnien empfiehlt es sich auch nicht, sie zu stellen! Sie, die acht Mal ins belagerte Sarajevo kam, war nicht der Meinung, dass der Krieg in Bosnien zu kompliziert ist, um erkennen zu können wer wer ist. Sie hat ihn präzise als serbische und kroatische Aggression  beschrieben, die wesentlich früher, unter minimaler Gewaltanwendung und mit minimalen militärischen und zivilen Opfern hätte verhindert werden können. Ihre Worte:  “Die Europäer wollten den  Konflikt nicht beenden (sowohl das britische Foreign Office als auch Quai d'Orsay sind traditionell pro-serbisch eingestellt), und Amerika, die einzige Großmacht, die bereit war zuzugegeben, dass die Gerechtigkeit auf der Seite der Bosnier ist,  war nicht bereit, sich einzumischen.

Nach mehr als Hunderttausenden Toten, noch mehr Verwundeten und einer Million Vertriebenen wurde das Daytoner Abkommen ausgehandelt. In den Gesprächen, die in der amerikanischen Militärbasis geführt wurden, ging es um vieles, aber nicht um Gerechtigkeit. Zwei der Hauptunterzeichner des Dokuments entgingen nur durch ihren Tod einer Anklage und Verurteilung wegen Kriegsverbrechen.

Wenden wir uns wieder Dayton zu, während wir noch auf Gerechtigkeit warten, die uns immer irgendwie langsam erscheint.  

Das heilige Wort des Abkommens: Selektive Unantastbarkeit

Das Schlimmste am Daytoner Friedensabkommen ist die Tatsache, dass die Menschen zu glauben beginnen, Teile des Inhaltes, so unlogisch sie auch sind, seien nicht zu ändern - dass sie eine dauerhafte Kategorie sind, auch wenn sie die Ursache der größten Probleme der bosnisch-herzegowinischen Gegenwart sind.  

Dayton, dessen wichtigstes Merkmal das Beenden des Tötens ist, hat gleichzeitig perfekte Bedingungen für die Herrschaft der Mediokrität geschaffen. Mit dem Daytoner Abkommen wurden Voraussetzungen dafür geschaffen, dass rückständige und böswillige Kräfte in Bosnien-Herzegowina sehr einfach die Massen innerhalb ihrer eigenen  nationalen Gruppen manipulieren können.

Die meistens fiktive Bedrohung durch die Anderen ist der wichtigste Garant für eine Homogenisierung, wobei die Angst vor dem Anderen zum Hauptmotiv bei der Wahl der eigenen politischen Vertreter wird. Vereinfacht gesagt werden solche Politiker als Nationalisten bezeichnet, auch wenn es sich in den meisten Fällen um gewöhnliche Schurken, Hochstapler und Kriminelle handelt. Das Konzept des Bürgertums wurde gekidnapped, und besagte "Politiker" wurden aufs politische Parkett geholt, von wo aus sie uns seit 20 Jahren höhnisch ins Gesicht grinsen! 

Wirtschaft, Justiz, die Entwicklung der Gesellschaft im Allgemeinen - all dies wird im Angesicht der Angst vor den Anderen zum geringsten Motivationsfaktor der Menschen, wenn sie an den Wahlen teilnehmen. Kultur ist keine Sache der staatlichen Regierungsebene, sie wurde an die Entitäten und kleinere Verwaltungseinheiten übergeben. Die einen sehen eine Gefahr für ihre Politik in ihr,  die anderen verstehen ihre Bedeutung überhaupt nicht.

Die angebliche Unveränderbarkeit des Daytoner Abkommens ist absolut selektiv - so wurde nur einige Jahre nach Kriegsende die Anwendung des Annex 7, der eine Rückkehr aller Vertriebenen in ihre Heimatorte vorsieht, praktisch ignoriert. Für die Menschen, die in ihre Heimat zurückkehren wollten, wurden nicht einmal minimale Bedingungen geschaffen, die ihnen zeigen würden, dass eine Rückkehr möglich ist. Nach einer gewissen Zeit haben die Menschen begonnen, ihr Eigentum zu verkaufen, womit sie die Folgen der ethnischen Säuberung dauerhaft legalisiert haben. Wie auch alles andere hat die internationale Gemeinschaft dies als Realität vor Ort akzeptiert - ihr normaler, heuchlerischer Weg, die Frage der eigenen Verantwortung zu umgehen oder zumindest einen prinzipiellen Standpunkt einzunehmen. Die Folgen dieser Fälle sind sichtbar und manifestieren sich durch das Bild von Bosnien als einem instabilen, unterentwickelten Staat mit einer hohen Korruptions- und Kriminalitätsrate u. a. Die größte Auswirkung des Daytoner Abkommens scheint die Schaffung eines Klimas zu sein, in dem Hoffnungslosigkeit das Hauptmerkmal der Durchschnittsbürgerinnen und - Bürger Bosnien-Herzegowinas ist. Ich glaube, dass die Jugend das größte Opfer dieser Zustände ist. Geburtenrückgang, passive Bürger/innen, Korruption, Kriminalität und ähnliche Probleme sind die Folgen eines ungeordneten Staates und die Ursache für Pessimismus, der allgegenwärtig ist in der Lebenseinstellung der Jugendlichen.  

Die Geisteshaltung wird vom Pessimismus bestimmt. Die verarmte Gesellschaft und fehlendes Interesse für höhere Werte führen dazu, dass junge Menschen von einer Flut an verlogenen Bildern, meistens in Gestalt von schlechten Fernsehprogrammen, ertränkt werden. Die Verdummung der Jugend und das Aufzwängen von Anti-Werten als Lebensideale, in Kombination mit einem schlechten Bildungssystem, könnte langfristig gesehen katastrophalere Folgen als der Krieg selbst für unsere Gesellschaft haben!

Die Atmosphäre, die im Post-Daytoner Bosnien geschaffen wurde, hat dazu geführt, das selbst die Zivilgesellschaft in diese Schlammgrube der rauen Realität der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft abrutscht, so dass außer den impressiven Zahlen an vorhandenen Organisationen der Zivilgesellschaft deren Effekte kaum von den katastrophalen Parametern und Reichweiten der nationalen Politik und Regierung abweichen.

Die Frage der ethnischen Teilungen ist Bestandteil unserer politischen und gesellschaftlichen Realität geworden, und es entsteht der Eindruck, dass - ganz nach dem erprobten Rezept der internationalen Gemeinschaft - alle Verantwortung der  ohnehin unfähigen Regierung zuzuschreiben. Die Aussichten, dass das aktuelle politische Ensemble etwas für die Normalisierung der Lage im Land tut sind ebenso groß wie die Erwartung, dass Bosnien ein Raumfahrtprogramm startet und den ersten Bosnier ins All schickt. Warum dem so ist, muss wieder den Institutionen gestellt werden, die für die Durchführung des Daytoner Abkommens verantwortlich sind.

Kann auf Basis der Legalisierung von Genozid und ethnischer Säuberung der Grundstein für eine Zukunft gelegt werden? Die meisten Vertreter der internationalen Politik glauben auch weiterhin daran! In einem Land, in dem Institutionen wie "zwei Schulen unter einem Dach" Realität sind, sind die Menschen eher geneigt, eine solch offensichtliche Form der Segregation von Kindern anzunehmen, als an Veränderungen zu glauben. Die feste Absicht der internationalen Akteure dies zu ändern, die bisher jedoch ausbleibt, ist der einzige Weg, die Dinge vom toten Punkt weg zu bewegen. 

Träume sind beständiger als Papier

Gerade deswegen ist keine Lösung in Sicht, bis auf die abstrakte Hoffnung, dass irgendetwas geschieht, nicht wissend wann und wie. Eine mögliche Lösung für die  Verbesserung der Lage in Bosnien wäre eine Änderung der Realpolitik in der Welt, vor allem in Europa. Bosnien und das, was nicht nur seit den Neunzigern, sondern eigentlich seit Beginn des letzten Jahrhunderts dort geschieht, ist eine Reflexion der gestörten europäischen Werte, der Entwertung und Aufgabe aller wesentlichen edlen Ideen der Vereinten Nationen und ihrer Dokumente. Die Chartas und Resolutionen sind heute leider keine Wertpapiere mehr! Mit ihnen kann man nichts kaufen!

Wenn Politiker kein Schimpfwort mehr ist, wenn wenigstens ein bisschen Moral in die Politik zurückkehrt, wenn Politiker anstelle von Ökonomen, Juristen und Exekutoren im Dienste der Großunternehmer-Mafia über Politik entscheiden, dann kehr auch Hoffnung für Bosnien, Europa und die Welt zurück. In Bosnien, wo das Leben ohne Logik zur Realität geworden und all das Furchtbare zu einem Teil von uns geworden ist, haben wir das Recht zu glauben, dass das Unmögliche - eigentlich möglich ist!

Bereits vor langer Zeit haben die Bürgerinnen und Bürger Bosniens voller Verachtung die Worte des Unterhändlers und des Teufels Advokaten Lord Owen verworfen, als er auf unsere Forderung nach Militärinterventionen von Flughafen Sarajevo aus ausrichten ließ: “Don't dream dreams“.

Europa und Welt begannen Ende des Millenniums in Bosnien zu sinken. In den neunziger Jahren wurde eine Gelegenheit verpasst und noch eine Schlacht verloren, aber der Krieg dauert noch immer an... Eine solche Welt zu akzeptieren hieße einen Anti-Evolutionsprozess zu akzeptieren, in dem wir uns erneut auf den langen Weg zurück machen würden: vom Menschen zum Affen.

Das einzige, was im heutigen Bosnien, aber auch der Welt real erscheint, ist das Träumen. Ich erinnere mich an die Aufführung von "Die Stadt" in Sarajevo,  1993. Im dunklen Theater im Stadtzentrum ohne Strom, Wasser, Gas... Zu den Geräuschen der Granaten, die in der Nähe einschlugen, sprach der Schauspieler die Worte des polnischen Dichters Zbigniew Herbert, die in Warschau entstanden. An die letzen Zeilen des Gedichtes "Bericht aus der belagerten Stadt" erinnere ich mich noch heute:

 "...wir schauen ins Antlitz des Hungers ins Antlitz des Feuers des Todes
 und ins ärgste Gesicht von allen - in das des Verrats

 und nur unsere Träume sind nicht gedemütigt worden".

 

Übersetzung ins Deutsche: Alma Sukić, Büro Sarajevo der Heinrich-Böll-Stiftung