Eine Imitation der Reformen

BiH und Dayton - 20 Jahre später

Am 19. November organisierte die Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin eine öffentliche Debatte anlässlich des 20. Jahrestages des Friedensabkommens von Dayton, an der eine Gruppe Intellektueller aus Bosnien-Herzegowina teilnahm. Der Fokus der Debatte lag auf der Einschätzung der Lage im Land rund zwei Jahrzehnte nach Kriegsende, auf dem Verhältnis der Zivilgesellschaft zu den aktuellen Ereignissen in BiH, den Perspektiven einer  Bürger/innengesellschaft und der Rolle der internationalen Gemeinschaft in den aktuellen und zukünftigen Reformprozessen. Diese Debatte ist nur eine von vielen, die zu diesem Anlass in BiH, Europa und den USA veranstaltet wurden. Man kann sich nur schwer dem Eindruck entziehen, dass der Großteil von ihnen auf gewisse Weise einen Prozess darstellt, der im Großen und Ganzen erfolgreich war. Viele bieten auch weiterhin nur bestimmte formelle Ergänzungen im Rahmen des Konzeptes an, das angeblich nicht wesentlich veränderbar ist. Im Hintergrund steht ein möglicher Strukturwandel dieses Konzeptes, der BiH an etwas heranführen würde, was einem normalen europäischen Staat ähneln würde.

Ein Großteil  der Teilnehme/innen an den bisher veranstalteten Konferenzen, Panels, Rundtischgesprächen zu diesem Thema ist dagegen der Meinung, dass die Erwartungen an Dayton nicht erfüllt wurden. Die bosnisch-herzegowinische Realität, die ausschließlich auf ethnischer Teilung basiert, spiegelt sich in vielen Tatsachen wieder: In einem solchen Staat sind die traditionellen Werte der Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert, und der Staat bleibt wirtschaftlich und politisch völlig dysfunktional. Täglich wird eine Reihe von zerstörerischen Folgen produziert. Optimismus gibt es keinen,  dafür umso mehr Gründe für Angst.

Die üble Realität im Dienste der Stabilität

In diesem Zusammenhang gibt es heute keinen Grund, etwas  als Erfolg “auszuzeichnen” – im Gegenteil. 20 Jahre Dayton könnte ein willkommener Anlass für die zermürbende Fortsetzung theoretischer Diskussionen darüber sein, wo Bosnien-Herzegowina sich hinbewegt, um so eventuell die gegenwärtige Lage beizubehalten; steril, aber unter Kontrolle.  Manch einer glaubt tatsächlich, solche Diskussionen würden dabei helfen, dass  das Projekt Staat, definiert durch das berühmte Abkommen von 1995, eine ernsthafte Transformation in ein  funktionierendes System vollzieht.   

Leider scheint es momentan jedoch so, als überwiege das „akademische Konzept“ über die klare Diagnose der tatsächlichen Lage, die Analyse der Gründe für solch einen Zustand und Durchführbarkeit der Mechanismen, die diese quälende Realität ändern könnten. Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass ein wahrhaftiger Wille bei den Akteur/innen im Land und den internationalen Kräften, vor allem der EU und den USA, nach Veränderungen vorhanden ist. Allerdings sind die Zweifel an den zuletzt Genannten leider groß, denn es mehren sich die Hinweise, dass in den dominierenden Kreisen der EU und der USA die Meinung vorherrscht, dass es in einer instabilen und dissonanten politischen Lage in BiH besser wäre, die Dysfunktionalität auf einer Ebene der so genannten  „kontrollierten Krise geringer Intensität“ aufrecht zu erhalten als sich auf das Risiko scharfer Einschnitte einzulassen, die zu einem ungewissen Ausgang führen könnten. Neben den Spannungen in Mazedonien, im Kosovo, Montenegro und Albanien, sowie dem instabilen Verhältnis zwischen Kroatien und Serbien, dem Flüchtlingsproblem usw., könnte eine Instabilität in BiH zu einer gefährlichen Destabilisierung des gesamten Balkans führen.   

Die Erkenntnis über die wirtschaftliche und politische Dysfunktionalität des Staates BiH und die zerstörerischen Tendenzen innerhalb der bosnisch-herzegowinischen Gesellschaft ist nicht neu. Im Laufe der Zeit wurde jedoch seitens der regierenden politischen Strukturen, die durch das Daytoner Konzept entstanden sind, ein völlig neues Interesse artikuliert, den Status Quo in ein einzigartiges Projekt umzuwandeln. Was auch getan wurde. Die Gründe dafür sind offensichtlich: Existenziell gesehen ist die gegenwärtige Lage ausschließlich für die  geteilten Regierungsstrukturen von Vorteil, und jede Veränderung würde sich dramatisch auf ihre persönlichen, parteilichen, familiären, korrupten und nachweisbar kriminellen Interessen auswirken. Die Verursachung von Angst vor den Anderen, von Feindseligkeit, nationalistischer Klaustrophobie und eines gewissen modernen „Tribalismus“ sind Mechanismen zur Machterhaltung, und somit zur Vermeidung der Verantwortungsübernahme für die Zerstörung von Gesellschaft und Staat.

Dem entsprechend ist das vollkommen kontraproduktive Verhalten der Vertreter/innen der internationalen Gemeinschaft, das sich auf verschiedene Weise manifestiert. Mit ihrem gesamten bisherigen Verhalten stärken die ausländischen Akteure die Überzeugung der lokalen Politakteure, sie seinen unberührbar und könnten ihren Weg der Obstruktion des Staates ewig fortsetzen. Seit Dayton bis heute sind nicht etwa die gewählten Parlamentsstrukturen und ihre Organe die exklusiven Partner der internationalen Gemeinschaft, sondern die Leader der nationalistischen Parteien. Staatliche Institutionen wurden durch exklusive Kontakte mit einigen Parteichefs ausgetauscht, mit denen alles besprochen und „ausgehandelt“ wird, in der festen Überzeugung, es handele sich um seriöse politische Parteiführer, denen man „aufs Wort glauben kann“. Den Ausländern wurde die unangebrachte und jeder Grundlage entbehrende Befürchtung aufgedrängt, dass jede schärfere Reaktion auf offene Verstöße gegen die Verfassung in BiH, gegen Gesetze und Absprachen, einschließlich Reaktionen auf notorische und bewiesene Straftaten, die „Massen“, und somit den gesamten Staat destabilisieren würden. Dieses Phänomen im Verhalten der internationalen Vertreter/innen in BiH und der Region hat sich auch im Falle der Verhaftungen von Milošević, Karadžić, Mladić usw. als völlig unbegründet erwiesen und findet seine Fortsetzung leider in eklatanten Fällen von politischen und klassischen  Straftaten vieler aktueller „Leader“.

Ähnlich steht es mit dem Verhältnis zu den Entscheidungen und Anforderungen der internationalen Institutionen, die von denselben Institutionen später nicht respektiert werden. Dies ermuntert das destruktive Verhalten der bosnisch-herzegowinischen Politiker, während bei der Bevölkerung der Respekt gegenüber der Konsequenz und Ernsthaftigkeit der internationalen Institutionen, insbesondere der EU, dramatisch sinkt. In der Bevölkerung wurde die Union zuvor als ein System von Standards, Prozeduren, Gesetzen und Regeln wahrgenommen, und sein Institutionalismus respektiert. Für jeden einigermaßen ernsthaften Bürger BiH´s ist heute jedoch ein defensives Bedürfnis der EU Strukturen erkennbar, durch  diverses „schönen“ von Daten über die Wirtschaftstrends in BiH und einer etwas lächerlichen Mitteilungen über „die Rückkehr auf den Reformkurs“  den hiesigen Leadern das Tor zu einer europäischen Zukunft zu öffnen. Dies ist natürlich sehr günstig für die Regierungsstrukturen, die sich damit selbst ein Alibi für die Fortsetzung ihres destruktiven Verhaltens schaffen. Vom Standpunkt der westlichen Systeme und Jahrhunderte währender Traditionen erscheint es vielleicht logisch, die „Balkan-Mentalität“ nicht zu verstehen, aber ein derartiges Verhalten ist vom Standpunkt eines politischen Pragmatismus heraus vollkommen kontraproduktiv.       

Auf Grundlage der ersten, formell demokratischen Wahlen, in einer Atmosphäre tiefer Spaltungen, als es im Land kein demokratisches Ambiente oder Institutionen gab, wurde diese heutige „Politelite“ ausgebildet.  Unter ihnen, die ihre Macht im Namen des beendeten, aber nicht vollendeten Krieges erhalten haben, geht jetzt die Angst um, dass die Realität, die ausschließlich zu ihrem Vorteil ist, in sich zusammen fällt. Es ist eine Angst vor dem Verlust der Entitäten, denn als solche sind sie von Interesse für die Machthaber, und nicht für das Volk. Außerdem wird befürchtet, dass die nationalistischen Parteien ihre politische Vormachtstellung verlieren. Man hat Angst vor einem Konzept, in dem der Staat erstarkt und sowohl die Organisation als auch die Kapazitäten erlangt, um die Interessen ihres Volkes und der Bürger/innen zu schützen. Am größten ist die Angst vor radikalen Reformen, die die aktuelle Lage ändern würden. Und in alledem fürchtet die internationale Gemeinschaft, bei den möglichen radikalen Reformen zu versagen. Dies demotiviert sowohl die EU, als auch die USA, ernsthafter in die Veränderungsprozesse einzusteigen. Vor allem jetzt, in solch global schweren Zeiten. Daher rührt wahrscheinlich auch die jüngste Aussage des Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft in BiH, in der er seine  Zufriedenheit darüber zum Ausdruck bringt, dass „Bosnien heute kein Syrien ist“.  Zwanzig Jahre nach Dayton ist dies doch eher ein absurder Maßstab des „Erfolges“ der internationalen Gemeinschaft und der bosnisch-herzegowinischen Politiker/innen.

Der trügerische Frieden und echte Probleme

In diesen Tagen, in denen des 20. Jahrestages der Unterzeichnung des Friedensvertrags gedacht wird, lügen wir uns alle gegenseitig heftig an, was unsere Realität angeht. Der jetzige Dayton-Rahmen generiert täglich neue Spaltungen, Feindseligkeiten und Konflikte. Das ist keine Grundlage für einen akzeptablen Frieden. Jahrelang werden leere Versprechen gegeben, dass alles anders wird, doch man tut alles dafür, es nicht dazu kommen zu lassen. In der Verfassung sind alle möglichen Mechanismen zur Obstruktion, jedoch so gut wie kein Mechanismus zur Deblokade der Obstruktionen verankert. Für die große Mehrheit der Bevölkerung wird das Leben immer schwieriger, dafür aber umso besser für die immer kleiner werdende Zahl derer, die es sich meistens nicht durch ihre Arbeit und ihr Wissen verdient haben. Die Plünderung der wirtschaftlichen Substanz des Staates ist enorm und noch nicht vollendet. Die Politik ist eine reine Lüge, doch dies hat eine Schmerzgrenze. Etwas weiter betrachtet bietet die Missachtung der Tatsache, dass Bosnien-Herzegowina auf den letzten Platz auf dem Balkan für einen EU-Beitritt gedrängt wurde, idealen „freien Raum“ für  diverse Appetite von außen, die in direktem Gegensatz zum Konzept und den Interessen der EU stehen. In dieser Art von Geostrategie gibt es keinen „freien Raum“, es kann immer jemand unplanmäßig einspringen. Diese Tatsache hat jetzt schon katastrophale Folgen für BiH und bald auch für die Balkanregion in Gänze.

Nach 20 Jahren kommt man, auch in der bosnisch-herzegowinischen Bevölkerung, immer mehr zu dem paradoxalen Schluss, dass es hier anscheinend erneut zu einer großen Explosion kommen muss, damit alle zur Besinnung kommen. Und um zu begreifen, wie sehr wir uns selbst belügen im Bezug darauf, wo wir leben und was mit uns geschieht. Ähnlich wie in Europa, das schockiert und überfordert ist angesichts des Flüchtlingsdramas, ohne jedoch ein minimales, rationales Bewusstsein darüber zu entwickeln, worum es eigentlich geht. Dabei war man doch eifrig an der Verursachung des Dramas beteiligt. Die Beschäftigung mit den Folgen, und nicht mit den Ursachen ist ein Übel der heutigen Politik. Die Schlussfolgerung ist, dass Konflikte, die wir als ethnisch bezeichnen, lösen sollen, indem wir – ethnisch teilen!  Der Krieg in BiH und der Zerfall Jugoslawiens begannen im Grunde nicht aus ethnischen Gründen. Die Erzeugung von interethnischem Hass und ethnischer Säuberung, genannt „Binnenumsiedlungen“, war nur ein Mechanismus in der Funktion des Ziels.  

Die Bürger/innen Bosnien-Herzegowinas gewöhnen sich scheinbar an alles. Die so genannten bosnisch-herzegowinischen Leader spielen bereits routiniert mit den Vertreter/innen der internationalen Gemeinschaft und dem eigenen Volk. Sie wissen nur zu gut, dass die Internationalen neben den zumeist leeren diplomatischen Phrasen nichts tun werden, um die Lage zu ändern, denn jede andere Variante wäre zu riskant und zu gefährlich. Sie wissen auch, dass die „Völker“ sich erneut der Logik der ethnischen Teilung zuwenden werden, da sie Geiseln der aufgezwungenen Lage sind. Der Großteil der Erwerbstätigen ist im Staatsdienst und somit abhängig von der Regierung. Renten kommen von Internationalen Währungsfonds (IWF). Eine Wirtschaft gibt es praktisch nicht. Junge und gebildete Menschen haben das Land verlassen oder sie planen, es zu verlassen. Was von der Intelligenz übrig ist, ist im Großen und Ganzen korrupt – im Bezug auf Partei, Ideologie und Interessen. Als Wertemaßstab gelten nicht mehr Bildung und Klugheit, sondern Partei, Familie und Beziehungen. Die Wahlergebnisse aus dem letzten Jahr sind fast identisch mit denen von vor 20 Jahren. Die Sieger halten sich fest an den Händen und halten am ausschließlich ethnischen Konzept fest. Wenn einer fällt, fallen alle. Die kriminelle und politische Struktur ist unter der trügerischen Oberfläche der nationalen Interessen sehr wohl multinational, denn es geht um Geld um Macht. Ethnie und Religion dient im Falle der Volksmassen als Basis zur Erhaltung der Angst vor dem Anderen und dem Andersartigen und hält den „Stamm“ als Wählerbasis zur Angsterzeugung zusammen. Das ist die raue Realität, die in den Parteikreisen und ihren ausländischen Beschützern auch Realpolitik genannt wird.         

Ein normaler Staat – das Ziel ohne Mittel

Die Erinnerung an 20 Jahre trügerischen Friedens ist heute für die Schöpfer der Idee einer Teilung am bedeutendsten, um die Gewalt gegenüber Bosnien und ihrer historischen Realität und Substanz als etwas Unvermeidliches zu rechtfertigen. Der zerklüftete Quasi-Staat ohne Identität ist bereits zum idealen Terrain für jene geworden, die weltweit ihre Geostrategien, ihre Träume von Einfluss und Interessen, ihre krankhaften Ambitionen und einen historischen Identitätswahn sowie irgendwelche Rechte realisieren wollen. Ebenso für alle Arten von Terroristen. Bosnien muss zu einem Staat werden, begründet auf nicht mehr und nicht weniger als elementaren staatsbildenden Prinzipien, strukturiert wie jeder normale Staat in Europa. Mit einem Präsidenten, einer Regierung, einem Parlament, Armee und Polizei, einem Gerichtswesen und einer Staatsanwaltschaft, einer einheitlichen territorialen Organisation, mit Institutionen, die jeder andere bürgerliche und säkulare Staat hat, unter der vollen Beachtung der Gleichberechtigung und der Einhaltung aller ethnischen, religiösen und anderen Eigenarten. Bosnien-Herzegowina hat das alles nicht. Wenn ein Bürger sich heute in BiH ethnisch als Bosnier-Herzegowiner bekennt, gilt er als einer der „Anderen“. Vollberechtigte Bürger/innen sind ausschließlich national definiert. Bosnier haben keine ihrer Kandidat/innen auf den Listen für die höchsten Staatsämter, keine Parlamentsvertreter/innen in BiH. Denn sie sind Bosnier-Herzegowiner. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hat vor sechs Jahren verfügt, dass dies korrigiert wird. Seither  ist nichts passiert. Dies ist jedoch nicht die Schande der Oligarchen in BiH. Dies ist eine Schande der EU und des Gerichtshofes in Straßburg, aber auch eine Abbildung der tatsächlichen Zumutungen den Bürger/innen Bosnien-Herzegowinas gegenüber. Und eine Botschaft, dass sie sich diesbezüglich keine Hoffnungen machen sollten. In solch einem Ambiente erwächst ein Gefühl unter den Bürger/innen, dass die europäischen Werte längst nicht mehr vorrangig demokratisch sind. Würde, Gerechtigkeit und Freiheit sind tot. Demokratie und das neue imperiale System des Kapitalismus schließen einander schon lange nicht mehr ein. Der Wille der Bürger/innen und der Wähler/innen zählt nicht mehr, wichtig sind der Wille der Banken und Großunternehmen und deren Interessen.       

Im Zusammenhang mit den Problemen, die Dayton hinterlassen hat, findet Europa sich nicht zurecht und führt wieder Grenzen als wiederentdeckten Wert ein. Amerika ist weit weg und hat kein Interesse daran, sein ausländisches „Ziehkind“, das es in die weite Welt weiterreicht,  zu ändern. Die großen Geostrategien liegen in der Teilung, so regiert man leichter. Der Status Quo indes verlängert der nationalen Regierung den Verbleib an der Macht. Deshalb gibt es hier nach 20 Jahren nichts zu feiern. 

Dafür aber Grund zu großer Sorge.

Übersetzung ins Deutsche: Alma Sukić, Büro Sarajevo der Heinrich-Böll-Stiftung