Skandalöses Urteil: Reality Show für Kriegsverbrecher

Das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag hat Vojislav Šešelj am 31. März 2016 in allen neun Anklagepunkten wegen Verbrechen, die in BiH, Kroatien und der Vojvodina verübt wurden, freigesprochen. Die Mehrheit des Tribunals, ausgenommen einer Richterin, war der Meinung, dass die Anklage den Tatbestand des gemeinschaftlichen Verbrechens nicht beweisen konnte und dass Šešelj der Vertreibungen, Deportationen, Folter, mutwilliger Zerstörungen und Plünderungen im  Zeitraum von August 1991 bis September 1993 nicht schuldig ist. Chefankläger des ICTY Serge Brammertz erklärte,  das Urteil gegen Šešelj habe „seine gerichtliche Funktion im Wesentlichen nicht erfüllt“, da die Mehrheit im Tribunal „ohne Begründung  zugelassen hat, dass kriminelle Handlungen als rechtmäßige  Unterstützung des Kriegszustandes gelten, trotz zahlreicher Beweise, die dies widerlegen“.

Eine Sache der Absprache

Florence Hartmann, die unmittelbar vor dem Karadžić-Urteil vor dem Gebäude des Tribunals wegen  der  Veröffentlichung vertraulicher Dokumente über Absprachen zwischen dem Tribunal und der serbischen Regierung im Bezug auf die Beteiligung Serbiens am Genozid in Srebrenica verhaftet wurde,  war noch präziser in der Erläuterung des Šešelj-Urteils. Sie sagte: „Das Tribunal hat weder die Arbeit getan, für die es gegründet wurde, noch hat es sein Mandat gerechtfertigt. Mit diesem Urteil hat das Gericht Šešeljs Gift und seinen Faschismus legalisiert, was furchtbar ist. Dadurch wurde die Gerechtigkeit gekidnappt. Ich weiß nicht warum, aus welchen Gründen, aber ich weiß, dass die Absprachen aus dem 20. Jahrhundert keine Gültigkeit mehr haben. Und das bezieht sich nicht nur auf das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag oder meinen Fall“.

Die Freilassung von Verbrechern und Schuldigen für den verübten Genozid beschreibt Hartmann als „Crescendo der Barbarei“, der die Welt nun beherrscht.

In einer Welt zu leben, in der Journalist/innen verhaftet und Šešeljs freigelassen werden, ist absolut besorgniserregend! In einer Welt, in der die Gerechtigkeit kein Ideal mehr darstellt, haben wir alle offensichtlich guten Grund, uns Sorgen um unsere Zukunft zu machen.  Dieses Urteil wird die dunklen Mächte nur noch weiter ermutigen, bei der Verfolgung ihrer Ziele vor nichts, nicht einmal vor Genozid zurückzuschrecken.  Das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag, beziehungsweise Richter wie diese, die einen Vojislav Šešelj freigesprochen haben, werden ihren Teil der Verantwortung für eine solche mögliche Entwicklung übernehmen müssen.

So schockierend der Freispruch von Vojislav Šešelj auch ist, so sind die Urteile im Fall Radovan Karadžić oder etwa Serbien, das keine Verantwortung für die Aggression gegen Bosnien- Herzegowina übernehmen musste, nicht minder schockierend.

Als ich noch zu Zeiten der Belagerung Sarajevos das Buch „Victims, perpetrators and bystanders“ von Raul Hilberg gelesen habe, entwickelte ich eine tiefe Abneigung vorrangig gegen Letztere. Denn Verbrechen wären ohne jene „Bystander“ (Zuschauer) gar nicht möglich. Ohne jene, die gleichgültig und  stumm beim Abtransport ihrer Nachbarn in Lager und ihrer Ermordung zuschauten und froh waren, dass dies nicht ihnen selbst passiert.

Meiner Meinung nach ist Šešelj schuldig und hätte dementsprechend verurteilt werden müssen. Meiner Meinung nach ist Genozid in ganz BiH und eine Aggression auf mein Heimatland verübt worden.

Aufgrund der Erfahrung, dass man nur wegen seines Namens vier Jahre lang zur Zielscheibe für Scharfschützen und Artilleriegeschosse wird, bin ich verrückte Dinge gewohnt, aber die Abwesenheit von Gerechtigkeit ist definitiv ein Zeichen für die verrückte Zeit, in der wir leben.

Vertreibung zur Prime-Time

Die Tatsache, dass die ganze Welt live im Fernsehen bei der Vertreibung der bosnischen Muslime zugeschaut hat, wie in einer TV-Show, hat mich gelehrt, dass die Welt in der wir leben nicht normal ist, und dass die Logik, mit der wir Dinge deuten, vor allem eine persönliche ist.

Als ein Freund aus Belgrad mir erklären wollte, wie man die größten verborgenen Chauvinisten in Serbien erkennt, sagte er, es seien jene, die Šešeljs Äußerungen vor dem Tribunal als geistreichen Schwank wiedergeben!

Vor einigen Jahren habe ich in Belgrad an einer Anti-Kriegs-Performance teilgenommen  und war entsetzt darüber, dass das gesamte Publikum (überwiegend junge Menschen) sich krümmte vor Lachen, als Šešelj in Gegenwart von Richter Nice den Angehörigen des Tribunal-Sekretariats ausrichten ließ, sie könnten ihm „einen blasen“. Den Rechtsberatern ließ er ausrichten, sie sollten „Scheiße fressen“. In diesem Moment hatten anscheinend alle die Opfer der chauvinistischen groß-serbischen Politik, die Šešelj vertrat, vergessen.

Gefährliche Rhetorik

Bei den Versammlungen vor und während des Krieges wurde Šešelj als Politiker, aber auch als Intellektueller empfangen, wobei wahrscheinlich niemand der Anwesenden seine Werke wie etwa „Das marxistische Konzept des bewaffneten Volkes“ oder „Das politische Wesen des Militarismus und des Faschismus“  gelesen hat. Sie haben einfach nur seine billige Rhetorik genossen, und er als überdurchschnittlich intelligenter Mann, wie er gerne über sich selbst sagt, muss gewusst haben, welche Auswirkungen seine Worte haben würden.

„Jeden, der behauptet, dass dies nicht serbisches Land ist, sollte man töten wie einen räudigen Hund“, sagte er zum Beispiel bei einer Versammlung im ostslawonischen Baranja.

Was seine Beteiligung an den Gräueltaten zu Zeiten der Aggression gegen Bosnien und Kroatien angeht, so gewann man im Laufe der Verhandlung den Eindruck, als sei er sich dieser Tatsachen bewusster und betone sie mehr als die Mitglieder des Tribunals! Daher konnte  Šešelj nur überrascht, oder sogar enttäuscht sein von dem Freispruch!

Den Haag als Reality Show?

Das größte Problem lag ohnehin darin, dass einer solchen Person solch große Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Während seiner Verhandlung ist Šešelj zum Superstar der serbischen Nationalisten geworden und verwandelte das Kriegsverbrechertribunal in eine billige Reality Show in Jerry-Springer-Manier. Eine zivilisatorische Demütigung stellt definitiv der Moment dar, als Šešelj einen Vortrag über seine  moralische und intellektuelle Überlegenheit gegenüber dem Tribunal hielt und seinen Auftritt mit folgenden Worten beschrieb: „Ich vernichte das Tribunal in Den Haag vollständig“.

An dieser ganzen Geschichte ist für mich am tragischsten, dass zu keiner Zeit ein psychiatrisches Gutachten dieses Mannes zumindest beantragt wurde, bei dem man (da bin ich ziemlich sicher) hätte erkennen können, dass es sich um eine Person handelt, die anstatt eines Gerichtssaals eher die Behandlung einer psychiatrischen Einrichtung hätte bekommen sollen.  So wuchs seine Popularität in Serbien während des gesamten Gerichtsverfahrens, und praktisch alle Auftritte Šešeljs bleiben seinen Anhängern und  künftigen Generationen als wertvolles Material für das Kreieren neuer Mythen und Legenden erhalten. YouTube ist voll von „Gags“ und „Narrenweisheiten“, mit denen nicht nur das Tribunal, sondern auch indirekt die Opfer des Kriegs verhöhnt werden! Dieser Unterhalter der Massen, der sich selbst als Tschetnik und Tschetnik-Führer bezeichnet, wurde in eine Art neuserbischen Adelsstand erhoben, im Sinne eines Adelsstandes wie ihn der verstorbene Bogdan Bogdanović beschrieben hatte. Aus dem Milošević-Serbien, dessen Pressesprecher damals Šešelj war, praktisch vertrieben, stellte Bogdanović  fest, dass Menschen wie Šešelj Teil einer spezifischen Art des Adels in Serbien sind – „der Schwachsinnigen-Adel“.

Neue Kriege

Trotz Šešeljs persönlicher Negierung, er sei während seiner Inhaftierung als Dissident in der Strafanstalt in Zenica sexuell misshandelt worden, wäre es durchaus möglich, dass er einer der Beispiele dafür ist, dass ein tragisches Schicksal ein Opfer in einen Täter verwandelt. Wie dem auch sei, ich habe keinen Zweifel daran, dass vom Beginn des Prozesses gegen Vojislav Šešelj dieser Mensch vor einem Ärzteteam anstatt vor den Richtern im Kriegsverbrechertribunal hätte sitzen sollen. Wie auch in anderen Fällen diverser Psychopathen, die nach ihren Verbrechen in psychiatrischen Kliniken enden, war ich auch hier der Meinung, dass Vojislav Šešeljs Platz zuerst in einer solchen Einrichtung, und danach im Gefängnis ist. Tragisch ist, dass Vojislav Šešelj in den vergangenen Jahrzehnten in Serbien konstant als Intellektueller und bedeutende öffentliche Person empfunden wird! In einer solchen Umgebung und mit einem solchen Menschen in Freiheit ist der Balkan konstant von neuen Kriegen bedroht!

Das Generieren des Bösen

Ich möchte an einen Abschnitt im Buch „Die Geschichte Serbiens vom 19. bis 21. Jahrhundert“ von Holm Sundhausen erinnern, das 1999 erschienen war. Holm Sundhausen schreibt darin: „ (…) Gewalt bricht nicht von alleine aus; sie geschieht nicht (so, wie auch ein Volk nicht geschieht). Gewalt wird generiert. Die paramilitärischen Einheiten und die Freischärler-Banden der Kriegsherren (Ražnatović Arkan, Šešelj usw.) und die Spezialeinheiten der (Geheim-)Polizei spielen in den Darstellungen der Kriege aus den 90er Jahren eine große Rolle. Es handelt sich hierbei nicht um primitive, rückschrittliche Bauern, die loszogen, um Stadtbewohner anzugreifen, sondern zu Beginn um kleinere Gruppen, die aus den Städten kamen und kleinere Zwischenfälle inszenierten, die – einmal begonnen - eine Eigendynamik entwickelten. Es geht nicht um spontane Reaktionen marginalisierter Randgruppen, sondern um von den Führern organisierte und kalkulierte Gewalt, ähnlich Terroranschlägen“. 

All die Dinge, die das Tribunal zugelassen hat – dass kriminelle Handlungen als rechtmäßige  Unterstützung des Kriegszustandes gelten, dass die Vertreibung der Zivilbevölkerung als humanitäre Geste definiert wird, dass Hassreden als Mittel zur moralischen Unterstützung der Soldaten und ethnische Säuberung als Schutz der serbischen Bevölkerung entschuldigt wird, bergen eine große Gefahr für uns alle.

„Das eigentliche Dilemma ist für uns: Wollen wir zulassen, dass die internationale Gerechtigkeit zerstört wird, oder kämpfen wir für unsere Rechte“, fragte Florence Hartmann. Und genau jetzt entscheiden wir, zu welcher Kategorie wir in einem zukünftigen Geschichtsbuch über Opfer, Täter und stumme Zeugen gehören wollen.

Übersetzung ins Deutsche: Alma Sukić, Büro Sarajevo der Heinrich-Böll-Stiftung