Bildungsblasen für das Volk

Bericht

Kritisches Denken und Hinterfragen sind im bosnischen Bildungssystem nicht erwünscht, Schulen und teilweise auch Universitäten vermitteln schwarz-weiße ethnonationale Welten. Zwei engagierte Initiativen haben es sich zum Ziel gesetzt, zumindest im Kleinen Abhilfe zu schaffen

Education
Teaser Bild Untertitel
Education

Bildungsblasen für das Volk

Mangelndes Engagement kann man Štefica Galić nicht vorwerfen. Die umtriebige Journalistin und Aktivistin ist seit 2010 Chefredakteurin des von ihr mitbegründeten Nachrichtenportals tačno.net, das das Zeitgeschehen am Balkan und darüber hinaus mit Analysen und beständiger Kritik an Nationalismus und Korruption begleitet. 

Galićs Kampf für eine Aufarbeitung kroatischer Verbrechen im Bosnienkrieg brachte der ethnischen Kroatin unter den Nationalist/innen „ihrer“ Volksgruppe starke Anfeindungen und 2012 eine physische Attacke ein, die mit einem Krankenhausaufenthalt endete, doch davon ließ sie sich nie beirren.

Schockiert vom mangelnden Wissen vieler Jugendlicher und einem geteilten Bildungssystem, das die drei ethnischen Gruppen Bosnien-Herzegowinas zu Kämpfern erziehe, begründete sie 2017 in Mostar die „Schule für kritisches Denken“.

Ziel des Projekts ist das Zusammenbringen junger Erwachsener mit führenden linken und liberalen Intellektuellen, die zweimal im Monat in mehrstündigen Einheiten kritische Denkanstöße geben und die Prämissen in Frage stellen, die in Bosnien vielerorts als absolut gelten. Die Themen umfassen unter anderem Missbrauch von Geschichte, den Mythos von der „Reinheit“ der südslawischen Völker und ihrer Sprache, Fragen von Identität und Kultur genauso wie Inhalte aus Literatur und Philosophie. „Unser Ziel ist es, dass die jungen Leute neugierig und produktiv sind, Fragen stellen und nicht alles hinnehmen, was ihnen erzählt wird.“

David gegen Goliath

Die beiden bisher stattgefundenen Jahrgänge dauerten von Oktober bis Mai und umfassten insgesamt 28 Teilnehmer/innen aus allen Teilen Bosniens. „Beworben hatten sich viel mehr, aber wir haben auch unsere Kriterien.“ Dazu gehören ein Mindestalter von 18 Jahren und ein gewisses Grundwissen, um das Verständnis der besprochenen Inhalte zu gewährleisten, vor allem aber Motivation und echtes Interesse an der Diskussion. Es gäbe auch Leute, die nur teilnehmen wollten, um mit ihrer Meinung zu provozieren.

Für die Teilnehmer/innen ist die Schule gratis, die Vortragenden kommen zumeist nur für Fahrtkosten und Unterkunft auf. Galić schwärmt vom Gemeinschaftsgefühl, das sich entwickelt habe, und betont die Wichtigkeit, dass sich kritische junge Menschen mit ihrer Meinung nicht alleine fühlen.

Durch die Aufnahmekriterien und den kleinen Rahmen knüpfen die Teilnehmenden  bei der „Schule für kritisches Denken“ Kontakte zur intellektuellen Avantgarde der Region, der elitäre Zugang bringt aber auch Probleme mit sich. Manche Teilnehmer/innen betätigen sich in ihren Heimatorten als Multiplikatoren der antinationalistischen Ideen, die meisten möchten ihre Einstellung aber nicht an die große Glocke hängen. Gegen die Durchethnisierung der Gesellschaft einzustehen, fällt nicht leicht, im besten Fall stoßen die „kritischen Denker/innen“ auf Unverständnis. Galić erzählt von einer jungen Frau, die nach Abschluss der Schule blendende Artikel für das Portal tačno.net verfasst hatte und dann eines Tages völlig aufgelöst darum gebeten hätte, alle von ihr erzeugten Inhalte zu löschen, da sie derentwegen massiven Anfeindungen ausgesetzt sei.

Wissenschaft in die Geschichte bringen

Melisa Forić hat das öffentliche Schulsystem noch nicht aufgegeben. Als Vorstandsvorsitzende von „EUROCLIO HIP BiH“ arbeitet sie daran, den Geschichteunterricht aus dem ethnonationalen Eck zu holen und nach progressiven, humanistischen Kriterien zu gestalten.

Die Organisation mit dem komplizierten Namen ist die bosnische Zweigstelle der europäischen Historiker/innen-Vereinigung EUROCLIO, HIP steht für die Anfangsbuchstaben des Wortes „Geschichte“ in den drei auseinandergedrifteten Sprachen Bosnisch, Kroatisch und Serbisch (Historija, Istorija, Povijest).

Die Vereinigung organisiert regelmäßig Workshops und Weiterbildungen für ihre landesweit rund 200 Mitglieder, stellt kostenlos Unterrichtsmaterialien ins Netz und führt Projekte mit Historiker/innen aus den Nachbarstaaten durch. Wie auch bei der „Schule für kritisches Denken“ sind die Ressourcen begrenzt, sämtliche Arbeit für EUROCLIO verrichten engagierte Lehrer/innen ehrenamtlich neben ihren Unterrichtsverpflichtungen.

Während die Journalistin Galić sich selbst als Kämpferin bezeichnet, ist Forić eher von wissenschaftlichem Eifer beseelt. Der Zugang von EUROCLIO ist breiter und erreicht mehr Menschen als Galićs Projekt in Mostar, dafür müssen sich die Geschichtelehrer/innen an die Lehrpläne und Bedingungen im Schulsystem halten. Als großes Problem sieht Forić, die Geschichtspädagogik an der Universität Sarajevo lehrt, veraltete oder tendenziöse Schulbücher.

Zersplitterte Kompetenzen

Wer abseits von freiwilliger Arbeit etwas am Bildungssystem verändern will, stößt wie so oft in Bosnien -Herzegowina auf eine Reihe struktureller Schwierigkeiten. Aus dem Friedensvertrag von Dayton leiten die drei konstitutiven Ethnien des Landes das Recht ab, „ihre“ Kinder nach drei unterschiedlichen, ethnischen Lehrplänen in drei unterschiedlichen Sprachen zu unterrichten, die sich de facto nur minimal unterscheiden.

In der Republika Srpska werden die Schulbücher zentral festgelegt, in der Föderation der Kroaten und Bosniaken gibt es einen freien Schulbuchmarkt. Das föderale Bildungsministerium stellt eine Liste zugelassener Bücher zusammen, die 10 kantonalen Ministerien eine Entscheidungsebene darunter wählen daraus eine Shortlist. Aus dieser können wiederum die Schulen das gewünschte Schulbuch wählen, die Wahl wird aber laut Forić durch Geschenke und Vergünstigungen von Verlagen beeinflusst.

Um bei den zersplitterten Kompetenzen im Bildungsbereich überhaupt einen gemeinsamen Nenner zu finden und das völlige Auseinanderdriften der drei ethnischen Lehrpläne zu verhindern, hat die staatliche „Agentur für vorschulische, Grundschul- und mittlere Schulbildung“ gemeinsame Kernbildungsziele festgelegt. Die Vorschriften in den umfassenden Dokumenten hält Forić für weitgehend sinnvoll, nur hielte sich bei der Erstellung der Kurrikula de facto niemand daran.

Die Brücke queren

Die Notwendigkeit, gegen alle Widerstände an einer offenen, geeinten und kritischen Gesellschaft zu arbeiten, zeigt sich durch die kleinen erfolgreichen Blüten, die die humanistische Einstellung von Menschen wie Galić und Forić treibt.

Die Journalistin aus Mostar erzählt von einem 14-Jährigen Kroaten, die noch nie auf der bosniakischen Seite der Stadt gewesen war, weil er immer nur Bedrohliches darüber erzählt bekommen hatte. Seit dem Bosnienkrieg ist die Stadt in eine bosniakische und eine kroatische Hälfte geteilt, die Grenze verläuft parallel zum Fluss Neretva. Dessen berühmte Brücke aus osmanischer Zeit ist seit ihrem Wiederaufbau 2004 Sinnbild für eine Versöhnung der Ethnien, die es so nie gegeben hat. Einmal konnte Galić den Jungen überreden, mit ihr gemeinsam auf die bosniakische Seite zu gehen. Er sah, dass das Leben dort genauso ablief wie auf seiner Seite und die Menschen sich durch nichts von den Kroaten unterschieden. Seither erzählt er allen davon, lächelt die Aktivistin.

Dieses Extrembeispiel veranschaulicht, was die „Schule für kritisches Denken“ und EUROCLIO erreichen wollen: Intellektuelle Brücken schlagen, der ethnischen Teilung ihre pseudowissenschaftlichen Grundlagen nehmen und selbstständig denkende Menschen erziehen. Was es bräuchte, um einen solchen Zugang zu Bildung flächendeckend im öffentlichen Schulsystem durchzusetzen?

„Das geht nur durch eine Änderung der offiziellen Bildungspolitik durch Wahlen“, ist Galić überzeugt. „Und die Voraussetzung dafür ist wiederum Problembewusstsein.“

Florian Supé ist Praktikant im Büro der hbs Sarajevo