Der Konflikt als Projekt

Die planmäßige Teilung der Gesellschaft wird durch das Konzept des ständigen Kampfes Zwei gegen Einen vollzogen – bis zur totalen Niederlage des einen, der in der Minderheit ist. Diese Niederlage verursacht Animositäten bis hin zu Hass. Gleichzeitig wird alles obstruiert, was ein gemeinsames Ziel und Interesse sein könnte und auf kollektivem Wohl basiert, nicht auf dem des Clans. Alle partiellen Interessen sind über die staatlichen gestellt und gesichert, und da gibt es keine Dilemmata mehr.

Der Konflikt als Projekt

Fast ein Viertel Jahrhundert des politischen Erwachsenwerdens war in Bosnien-Herzegowina (BiH) notwendig, um erste Anzeichen des Erwachens der Gesellschaft zu bemerken. Leider sind die Reaktionen auf die permanente Krise weder organisiert noch richtig artikuliert. Beim Volk rührt diese Reaktion daher, dass systematisches Chaos und jede Art von Korruption die Grenzen des Erträglichen überschritten haben. Bei der politischen Elite kommt sie aus dem Gefühl heraus, dass Hochmut sich lohnt und dass sowohl das Volk als auch die Internationale Gemeinschaft ewig an der Nase herumgeführt werden können, ohne irgendwelche Konsequenzen. Der Staat mit all seinen verfassungsrechtlich dekomponierten Institutionen tut so, als beträfe ihn all dies nicht. Er zerfällt jeden Tag zunehmend, trotz des Schein-Optimismus der Oligarchen und der Internationalen Gemeinschaft. Die so genannten Leader in BiH, organisierte Verursacher zahlreicher Irrtümer in den letzten 25 Jahren, demonstrieren mittlerweile ihre Macht so offensichtlich, dass es der kritischen Masse unter den Bürge/innen zu viel geworden ist. Die Oligarchie antwortet darauf nach alt erprobtem Rezept – die Krise wird erfolgreich auf das Spielfeld des Nationalismus und interethnische Konflikte übertragen. Die Internationale Gemeinschaft ist „protokollarisch besorgt“. Und morgen sind dann alle wieder überrascht!

Falsche patriotische Politik

 Bei Prozessen dieser Art kommt es üblicherweise dort zum Zusammenbruch, wo es die Oligarchie am wenigsten erwartet. Der Bruch kam nicht anlässlich des Referendums zum Tag der RS oder dem Einsetzten der Ehrengarde, auch nicht des Antrags auf Aufteilung der staatlichen Institutionen, insbesondere dem Verfassungsgericht, oder der Offensive bezüglich des Föderalismus und einer dritten, ethnisch geschlossenen Entität … auch nicht wegen „kleinerer“ alltäglicher (un)zivilisierter Schikanen in Fragen wie Wasser, Strom, aus Profitgier trockengelegten Stauseen und fehlerhaften, aber existenziellen Gesetzen. Der Zusammenbruch kam beim Versuch, das Haager Kriegsverbrechertribunal wegen eines 15 Jahre alten Urteils auszutricksen. In der hochmütigen Überzeugung, problemlos damit durchzukommen, wurden die These über „Gerechtigkeit und Moral“, in dessen Namen keiner der Verantwortlichen zehn Jahre lang auch nur einen Finger gekrümmt hat, und das wahre Gesicht, der Charakter und die falsche „patriotische“ Politik der Machthaber, die angeblich ihren Untertanen dient, sie aber in Wirklichkeit bloß demütigt, entblößt. Das ironische dabei ist, dass jene, die die Institutionen jahrelang verunglimpft und sogar verleugnet haben, nun als ihre glühenden Befürworter und Beschützer der „Institutionen BiH“ als Sieger hervorgehen. Der Verlierer ist entlarvt als „Gerechter“, der seine ganze politische Karriere, die er durch familiäre Beziehungen geerbt hat, angeblich auf dem patriotisch motovierten Schutz Srebrenicas begründet, die er bei den Wahlen glatt verloren hat und sich nun über sie zu retten versucht – zumindest bis zu den nächsten Wahlen.   

Provokationen und künstliche Konflikte  

Das künstliche Zusammenflicken des Daytoner Bosnien-Herzegowina auf eine Weise, wie es der politischen Korruption gefällig ist, ist schon lange der wesentliche Sinn der hiesigen so genannten Staatsführung. Dieser eingefahrene Prozess beginnt immer von hervorgerufenen Provokationen und dem Verursachen von Konflikten. Dabei existieren zahlreiche „demokratische“ Mechanismen für eine Blockade, wenn man manipulieren will, aber so gut wie kein Mechanismus für eine Deblockade zugunsten einer Stabilisierung der Beziehungen und der Stärkung eines richtigen Staates. Das Spiel ist bis ins Detail bekannt, es ist immer gleich und wiederholt sich ständig mit dem gleichen Elan und den gleichen Kalkulationen. Ihr Bestandteil ist ein mediales „Verrücktmachen“ aller drei ethnischen Gruppen durch das Verursachen von Animositäten und Hass gegenüber den beiden anderen oder zweier gegen einen, innerhalb des Dreiecks, das der Annex IV des Daytoner Friedensvertrags als Verfassung BiH darstellt. Und  wie immer, eine Sekunde vor Zwölf, lassen die größten Erpresser plötzlich „kooperativ und tolerant“ etwas lockerer, berechnen dies aber der anderen Seite als Preis für Kooperation, fast zu dem Preis, den man zu Anfang von der anderen Seite haben wollte. Der Rest wird ein anderes Mal in einem anderen Spiel berechnet. Das Spiel wird dann auf Anfang zurückgesetzt, mit den gleichen Spielregeln. Die Floskel, dass man einen klugen Menschen nicht zwei Mal auf die gleiche Weise betrügen kann, gilt hier nicht. Bis zu den Vorahnungen, die nun langsam aufkommen.

Auf den konstruktiven Fehlern des Daytoner Konzepts basierend, der vorübergehend das formelle Verschwinden BiH´s verschoben aber das vitale Projekt dieses Verbrechens am Leben erhalten hat, haben Slobodan Milošević und Franjo Tuđman – als direkte Akteure beim Zerfall Jugoslawiens – gemeinsam mit Alija Izetbegović, der „zwar nicht für einen Zerfall ist, aber was soll man machen, so sei nun mal die Realität“, eine neue Generation derer heranzüchten, die diesen Plan weiterhin verfolgen.  

Das April-Paket

Der Punkt hinter die Möglichkeit, dass es auch anders kommen könnte, wurde formell mit dem Ablehnen des so genannten „April-Pakets“ an Verfassungsänderungen aus dem Jahr 2006 gemacht. Das Ziel dieses Zusatzes war, vom Dogma wegzukommen, dass nichts am Daytoner Konzept geändert werden darf, um effiziente Staatsreformen durchführen zu können. Unter anderem sollte der Ministerrat BiH in eine Regierung übergehen und ein Präsident BiH bestimmt werden. Dafür gab es damals eine Chance, aber sie wurde zerstört durch den An- und Verkauf einiger Seelen im Parlament. 

Da beginnt der eigentliche Prozess der Stärkung der Allmacht der drei Leader in BiH, die bewusst, organisiert und programmatisch ein Konzept der völligen Teilung von Gesellschaft und Staat in drei Teile entwickeln, mit immer mehr Elementen eines ausdrücklichen Autoritarismus und eines tatsächlichen Anti-Institutionalismus.  Mit Ausnahme eines relativ kurzen Zeitraums, als Sulejman Tihić an der Spitze der SDA einen liberaleren und sensibleren Ansatz gegenüber der Bedeutung der Gesamtstaatlichkeit verfolgte. Die Akteure eines gegeneinander Ausspielens bis zur Teilung – ungeachtet der jeweiligen Rotation der Funktion – waren und bleiben Milorad Dodik (SNSD), Dragan Čović (HDZ) und Bakir Izetbegović (SDA).

Das Ziel der drei ist die Unterwerfung der Institutionen zu ihren und den Füßen ihrem nächsten Umfeld. Solch eine Übernahme der Macht hat zu einer völligen Privatisierung der „Kaderpolitik“ geführt, die alle Prinzipien und Gesetzesstandards verhöhnt. Auf die private Auswahl inkompetenter Gefolgsmänner folgen keine Reaktionen aus der Öffentlichkeit, sogar, als reinen Amateuren Positionen zugeteilt werden, die eine entsprechende Ausbildung und komplexes und spezifisches Fachwissen und Kenntnisse erfordern.
Öffentliche Ausschreibungen, bis vor zehn Jahren noch halbwegs respektable Vorgänge, sind herabgesetzt worden auf eine Karikatur und auf offene Aufträge aus den Parteispitzen darüber, wo, wem und wann jemandem eine bestimmte Position zugeteilt wird, und das alles sogar öffentlich und trotz der Ergebnisse, die auf offiziellem Wege aufgrund öffentlicher Wettbewerbe erhalten wurden. Die Praxis der Eliminierung anerkannter Expert/innen und hochgebildeter Kader in der staatlichen Verwaltung und den Institutionen ist ein offenes Geheimnis. Die Verteidigung der „Macht“ ist somit gesichert. Die Folge zeigt sich in der Tatsache, dass die „Substanz der Fähigen und Gebildeten“ in BiH allein im letzten Jahr um 80.000 junge Menschen, die BiH verlassen haben, ärmer geworden ist.

Die Staatsführung auf eine kriminell-interessensgeleitete und korrumpierte Weise wird folgendermaßen durchgeführt:
Die planmäßige Teilung der Gesellschaft wird durch das Konzept des ständigen Kampfes Zwei gegen Einen vollzogen – bis zur totalen Niederlage des einen, der in der Minderheit ist. Diese Niederlage verursacht Animositäten bis hin zu Hass. Gleichzeitig wird alles obstruiert, was ein gemeinsames Ziel und Interesse sein könnte und auf kollektivem Wohl basiert, nicht auf dem des Clans. Alle partiellen Interessen sind über die staatlichen gestellt und gesichert, und da gibt es keine Dilemmata mehr. Dem anderen werden Blanco-Einverständnisse für sein „Anrecht auf ein Drittel“ erteilt, denn dieses System beruht auf einem Reziprozitätsprinzip, entgegen allen Übereinkünften über das Gemeinwohl. Damit werden die Leader des „Drittels“ beschützt. Nach diesem Prinzip – dass sich niemand in die Interessenszonen des anderen einmischt – funktioniert auch das Staatspräsidium BiH. So wird bei der Auswahl der Minister und hoher Funktionäre in staatlichen Unternehmen, aber auch bei den Botschafter/innen und des diplomatischen Personals        verfahren, in deren Profil das Wichtigste die „Zugehörigkeit“ ist. Kein anderes Kriterium zählt mehr. Eine Außenpolitik gibt es sowieso nicht mehr.

Der Wahlkörper, der eventuell seine Unzufriedenheit über eine solche Politik bei den Wahlen zum Ausdruck bringen könnte, ist geteilt. So aufgesplittet bleibt es unter der Kontrolle der nationalen Partei und seinem „Leader“.  Laut Statistiken werden mehr als 60% der legal Beschäftigten auf die eine oder andere Weise aus dem Staatsbudget bezahlt, sowohl in der RS als auch in den Städten und Kantonen der Föderation, von der Entitäts- bis zur Staatsebene. Keinen dieser begehrten Arbeitsplätze kann man mehr bekommen ohne eine „Verifizierung“ einer der führenden nationalen Parteien. Die beschäftigten Wähler/innen sind dadurch Geiseln, auch das ist ein offenes Geheimnis. Fügt man diesen Stimmen auch die stimmberechtigten Familienmitglieder der Beschäftigten hinzu, bleibt das existierende Regierungstrio vor jeglicher Veränderung bei den Wahlen geschützt.     

Revision der Klage  

Auf einer solchen Grundlage ist die Basis jeder Wahlkampagne die Heraufbeschwörung von Animositäten, die durch das Bildungssystem, völlig unterschiedlichen Schulbücher, das Konzept „zwei Schulen unter einem Dach“, die Medien, die die Verbreitung von Hass und interethnische Konflikte zum „Marketing“ machen, verstärkt werden. Es ist eine Tatsache, dass es so gut wie keinen Fall gibt, bei dem sich die Wähler/innen gegen ihren „Volksstamm“ und zugunsten des existenziellen Gemeinwohls entschieden haben. Ein gutes Beispiel dafür ist das Urteil im Prozess BiH gegen Serbien vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Nur zehn Tage bevor überraschend die Möglichkeit eines Revisionsantrags gegen das Urteil aus 2007 bekannt gegeben wurde, war eine Delegation des Ministerrates BiH bei sehr erfolgreichen Gesprächen in Serbien. Von dort kamen sehr gute Nachrichten über den Bau einer Autobahn und die Erneuerung der Bahnstrecke Sarajevo-Belgrad mit einer Erweiterung des Netzes in ganz BiH sowie einer Reihe von Großprojekten, für die auch ausländische Investoren gleich Interesse bekundeten. Doch die offensichtliche Auffassung der SDA-Spitze war, dass eine Konsolidierung der Partei, die Rechtfertigung für die Wahlniederlagen in Srebrenica und Stolac, das „Projekt“ Mostar, innere Parteiprobleme usw. nicht durch positive Großprojekte erreicht werden können, sondern allein durch das zusammenrotten des Volkes, mithilfe von Traumata aus dem unvollendeten Krieg und der Vergangenheit. Wenn es sein muss, auch mit Betrug.   

 „Wir“ und „sie“

Die Hintergrund“philosophie“ im Fall SDA, SNSD, HDZ wie auch der anderen Produzenten der gesellschaftlich-staatlichen Dekadenz, ist neben der kartellartigen Gefolgschaft alt, erprobt und allgemein bekannt. Die SDA reitet schon seit der Zeit ihres Gründervaters auf der Philosophie einer für BiH zerstörerischen Logik, nämlich, dass „jeder Muslim in der Welt dem hiesigen Muslim näher steht als der Nachbar, der dies (Muslim – Anm. d. Übers.) nicht ist“. Diese Doktrin der „muslimischen Brüder“ ist ganz klar ein Messer in den Rücken der Substanz BiH´s. Genau wie die untertänige These gegenüber Istanbul: „Wir wollten keinen Zerfall, aber was sollen wir tun, wenn die es wollen, denn sie haben ja ihr Belgrad und ihr Zagreb…“. Dodik pflegt ganz gezielt und planmäßig die Mythen des Dobrica Ćosić und die Empfänglichkeit für den Traum über die Brüder jenseits des anderen Drina-Ufers, „mit denen wir schon immer eins waren, als Sieger in Kriegen und Verlierer im Frieden…“. Dafür bekommt er Stimmen. Richtig, Čović hat sich profitmäßig von der reinen Ideologie entfernt und verwandelt die Politik in eine reines lokal-herzegowinisches Business, das in ganz BiH verzweigt ist. Von dort her rührt auch die dubiose These über eine separate dritte Entität – es sei denn, es kommt tatsächlich zum Zerfall BiH´s. Für ihn und sein Kartell ist ein ganzes BiH natürlich nützlicher, so haben sie auf gerissen-aggressive Weise und im Namen der „Ungleichberechtigung“, mit Hilfe von Zagreb, alle Schlüsselfunktionen für sich gesichert, die den Geldfluss kontrolliert: aus seinen Reihen kommen der Finanzminister BiH, der Finanzminister der Föderation, der Direktor der Behörde für indirekte Besteuerung, der Direktor der Finanzdirektion im Distrikt Brčko, der Direktor der Aufsichtsbehörde für Versicherungen der Föderation BiH, der Direktor des Banksektors der Föderation BiH … ganz zu schweigen von der fast vollständigen Kontrolle über den Handel in BiH, die Wettbüros usw.

Partnerschaft mit Verbrechern  

In all diesen Geschichten sind den unersättlichen Leadern in BiH ein Miteinander und Toleranz ein Dorn im Auge, was die Erhaltung ihrer Macht angeht. Nur das aktuelle, dreigeteilte und hinter verschlossenen Türen abgesprochene Regierungskonzept ist eine Garantie für den Erhalt dessen, was sie illegal erworben und vom Volk gestohlenen haben. Andernfalls rufen die Gefängnisse. Dieses „Konzept“ verlangt nach der Bildung einer imaginären Politik, die sich durch Hysterisierung der geistig verarmten und verblendeten Anhänger, gekaufter Intellektueller und neureicher Tykoone aufrecht hält. All jene, die nicht Teil dieser Kette sind, und es gibt sie, sind machtlos, da sie in der Minderheit zu Hause sitzen. Als solche sind sie in den Augen der Internationalen Gemeinschaft irrelevante Akteure. Für die Bürokraten aus Brüssel zählen nur die größten. Wenn sich „lokale Stämme prügeln“, interessiert sie nicht, wer im Recht ist. Für sie zählt nur, wer in der Mehrzahl ist, denn nur sie sind von striktem Interesse, wenn sie ihrer Logik einer Demokratie folgen. Eine Partnerschaft mit Verbrechern, die in der Mehrheit sind, im Gegensatz zu der normalen und fähigen Minderheit, ist nicht nur in BiH eine Spezialität der Internationalen Gemeinschaft.   

Es ist offensichtlich, warum sich Brüssel so viel Mühe gibt, den Balkanstaaten die Tür zur Europäischen Union zu öffnen. Europa ist wegen der Lage in der Region besorgt. Viele befürchten, dass es schon zu spät sein könnte. Das macht Sinn, besonders bei denen, die verstehen, dass eine EU-Erweiterung das Verständnis der hier vorherrschenden notorischen  Tatsachen erfordert: Führende Leader in BiH zeigen offen, dass sie nur sich selbst brauchen und auch ausreichen, und das sie das beschützen, was sie für sich „erreicht“ haben. Außerdem hat Europa nicht bewiesen, dass es verstanden hat, dass mit solchen Leadern nichts Positives bewirkt werden kann, noch hat es Bereitschaft gezeigt, radikale Veränderungen einzuleiten. Sollte das „erwachende Volk“ auf den Straßen zeigen, dass lokale Tyrannen der politischen Vergangenheit angehören, wäre dies weder für die Region noch für Europa gut. Das Volk zeigt diese Bereitschaft dazu, wenn auch unorganisiert, immer deutlicher. Und dies ist keine Garantie für einen demokratischen Epilog. Im Gegenteil.                  

Ins Deutsche übersetzt von Alma Sukić, hbs Sarajevo