Srebrenica und die Nachkömmlinge im Ungeiste

21 Jahre nach Ende des Bosnienkrieges wurde der Mastermind der serbischen Kriegsverbrechen, Radovan Karadžić, vom Internationalen Jugoslawientribunal in Den Haag zu 40 Jahren Haft verurteilt. Der Nationalismus, die Aufwiegelung gegen andere ethnische Gruppen, bestimmen jedoch nach wie vor den Politalltag in Bosnien.

Die Stadt Pale, nur wenige Kilometer von der bosnischen Hauptstadt Sarajevo entfernt, vor einigen Tagen: Eine Gruppe Unbelehrbarer steht vor einem Studentenheim und weiht es auf den Namen: „Dr. Radovan Karadžić“. Initiator der Aktion:  Der amtierende Präsident der Republika Srpska, Milorad Dodik, Seite an Seite mit der Ehefrau Karadžićs und dessen Tochter.

Wenige Tage nach dem bizarren Einweihungsprozedere in der ehemaligen Serbenhochburg, von der aus der Krieg gegen bosnische Muslime und Kroaten befehligt wurde, folgte nun das Urteil, auf das viele insbesondere auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien seit Jahren gewartet haben: Radovan Karadžić, der ehemals mächtige Präsident der bosnischen Serbenrepublik, wird vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu 40 Jahren Haft verurteilt. Der Richterspruch lautet auf: Schuldig im Sinne der Anklage wegen Völkermordes, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.  

Auch wenn die Richter es nicht als erwiesen ansahen, dass die zahlreichen Ermordungen und Vertreibungen in sieben Städten wie etwa Prijedor und Foča den Straftatbestand des Genozids erfüllen, so wurden doch 10 von 11 Anklagepunkten bestätigt. Insbesondere der wohl wichtigste Punkt der Anklage: Die Massentötungen in Srebrenica.

Mit dem Haager Spruch wurde das Massaker von Srebrenica, der grausamste kriegerische Akt seit Ende des Zweiten Weltkrieges auf europäischem Boden, neuerlich als Völkermord geahndet.

Im Juli 1995 trennten serbische Truppen in der mehrheitlich von Muslimen bewohnten Stadt Srebrenica Frauen und Männer, Mädchen und Jungen. Später wurden mehr als 7000 muslimische Jungen und Männer, die in der UN-Schutzzone Zuflucht gesucht hatten, ermordet. Ein Genozid, wie das Haager Tribunal bereits in anderen Prozessen festgestellt hatte. Und ein Verbrechen, das bis heute nachweht: Noch immer sind nicht alle Opfer gefunden, sie liegen verstreut an 150 Orten des Drina-Tals und in der Region Sarajevo. Von tausenden Vermissten ist der Verbleib nach wie vor ungeklärt.

Srebrenica: Grausamkeit, nationalistische Enthemmung

Srebrenica steht wie kein anderes Vergehen für die Grausamkeit des Bosnienkrieges. Für nationalistisch aufgeladene Enthemmung. Für die Vernichtung tausender Zivilisten. Und vor allem: Für die wahnhafte Auslöschung moralischer Werte auf dem Territorium des westlichen Balkan. Der Oberbefehlshaber der bosnischen Serben, Ratko Mladić, befehligte mutmaßlich die Tötungen vor Ort, auch er steht in den Haag vor Gericht. Sein Schuldspruch wird für November 2017 erwartet.

Der Krieg in Bosnien und der Herzegowina, der ehemaligen Teilrepublik Jugoslawiens, der von 1992-1995 wütete, ragt aus der Geschichte der Nachfolgekriege im Kontext des zerfallenen Vielvölkerstaates heraus. Als maßgeblicher Drahtzieher hinter den ethnischen Säuberungen, Vertreibungen und Tötungen stand Radovan Karadžić. Er vollzog auf bosnischem Boden das, was der einstige Präsident Serbiens Slobodan Milošević, für ganz Jugoslawien angedacht hatte: Die Vorherrschaft des serbischen Volkes, die Vertreibung und Auslöschung der anderen Ethnien, die Vereinigung der serbischen Gebiete zu einem Großserbien.

Dass Milosevic im Gefängnis in Den Haag starb, noch bevor er verurteilt werden konnte, stellt bis heute für die Aufarbeitung der Kriegsereignisse eine herbe Niederlage dar. So konnten seine Anhänger, in Belgrad aber auch in der angrenzenden Republika Srpska, weiterhin im Sinne revisionistischer Verklärung an seiner vermeintlichen Unschuld festhalten, sein Heldentum zelebrieren. Für den notwendigen Aussöhnungsprozess hatte dies fatale Folgen. Schuldeingeständnisse der beteiligten Parteien, gar der Versuch, im Sinne einer unparteiischen Aufarbeitung der Kriegsgeschehnisse eine gemeinsame Basis für ein friedliches Miteinander zu  formulieren – man sucht all das bislang vergeblich.

Einer der maßgeblichen Prozesse des ICTY

Für die Aufarbeitung der Kriegsperiode auf dem Balkan ist die Verurteilung Karadžićs als hochrangigstem Verantwortlichen für den Bosnienkrieg daher von besonderer Bedeutung: Es habe viele bedeutende Prozesse gegeben, so erklärte vor wenigen Tagen der Hauptankläger des Internationalen Tribunals, Serge Brammertz. Jener gegen Karadžić sei jedoch einer der wichtigsten in der Geschichte des ICTY.

Denn trotz der Tatsache, dass das ICTY außerhalb von Srebrenica den Straftatbestand des Genozids nicht als erfüllt ansah, wird das Gerichtsurteil doch in die Geschichte eingehen – als Zeugnis dafür, dass auch die Rädelsführer, die Architekten von Kriegen zur Rechenschaft gezogen werden. Es ist eine unmissverständliche Botschaft, die von dem Schuldspruch ausgeht: Ihr kommt, egal wie lange ihr euch vor der Justiz versteckt haltet, nicht davon.

Kritikern galt der Prozess, der im Oktober 2009 begann, als zu lang. Dennoch: Die Verurteilung Karadžićs ist ein wichtiger, wenn auch später Schritt, um so etwas wie Gerechtigkeit walten zu lassen. Gerechtigkeit, so relativ diese Kategorie auch sein mag, für Srebrenica. Gerechtigkeit für die Millionen von Vertriebenen, für die Zehntausende vergewaltigter Frauen. Gerechtigkeit für die Angriffe auf den  kleinen, unmittelbar im Zentrum Sarajevos gelegenen Marktplatz Markale, auf dem Dutzende von Zivilisten starben. Gerechtigkeit für die Belagerung der von Bergen umgebenen bosnischen Hauptstadt, die unvorstellbar lange, von April 1992 bis 1996 andauerte. Für die Sniperangriffe, die Heckenschützen, die den Bewohnern der Stadt das Leben jahrelang zur Hölle machten. Für die zahlreichen zivilen Opfer, die beim Versuch, in der besetzten Stadt zu überleben, hingerichtet wurden, beim Einkaufen, beim Wasserholen. Schließlich Gerechtigkeit für ein Ausmaß an Hass und Terror, das auf europäischem Boden als längst überwunden galt.

Die Verurteilung Karadžićs, der nach jahrelanger Flucht erst 2008 in Belgrad entdeckt und verhaftet worden war, schafft denn auch einen Resonanzraum für weitere Urteile gegen hochrangige Serbenführer wie Ratko Mladić oder den Ultranationalisten Vojislav Šešelj, der aus der Haft entlassen wurde – groteskerweise steht der Richterspruch seit Jahren aus. Nicht immer hatte das ICTY bei seinen Entscheidungen eine glückliche Hand. Zu komplex waren mitunter die Fälle, zu schwer die Nachweisführung für tatsächliche Täterschaft im Kontext einer ununterbrochenen Befehlskette.

Nationalisten weiter an der Macht

Das Karadžić-Urteil ist vor allem für die weitere Entwicklung des State- und Nationbuilding-Prozesses in Bosnien-Herzegowina ein mahnendes Zeichen: Das begangene Unrecht bekommt einen Namen. Es wäre wünschenswert, dass das Urteil samt seiner Konnotationen zum Entstehen der RS und ihrer Verfasstheit nun auch nach innen eine reinigende Wirkung entfacht.

Denn 20 Jahre nach Kriegsende ist Bosnien noch immer kein funktionierender Staat. Zu mächtig sind die nationalistischen Kräfte, die das Land in Geiselhaft halten und sich gegen rechtstaatliche und demokratische Prinzipien, gegen tiefgreifende Reformen stemmen. Es ist evident, dass die führenden Politiker ihre Lehren aus dem verheerenden Krieg noch nicht gezogen haben. Nahezu täglich wird der Versuch unternommen, das Land weiter zu spalten, die durch das Daytoner Abkommen festgeschriebene Segregation weiter zu zementieren und zu vertiefen. Aktuell wird über die Teilung Mostars diskutiert. Auch das staatliche Fernsehen soll ethnisiert und atomisiert werden. Abspaltung und Abgrenzung  - die Rezepte der Vergangenheit statt zukunftsgerichteter Politik.

Wie stark nach wie vor das Denken entsprechend ethnischer Trennlinien ist, belegte das Gerangel um den bosnischen Unabhängigkeitstag am 1. März. An diesem Tag wird des Referendums im Jahr 1992 gedacht, bei dem die Bosnier mehrheitlich für eine Loslösung aus dem jugoslawischen Staatsverband votiert hatten. Dass sich führende serbische Vertreter, einschließlich RS-Präsident Milorad Dodik und der serbische Vertreter des bosnischen Staats-Präsidiums, Mladen Ivanić, weigern, den bosnischen Unabhängigkeitstag zu akzeptieren und statt dessen an einem Feiertag festhalten, der vom Verfassungsgericht des Landes als verfassungswidrig eingestuft wurde, spricht Bände über die moralische Verfasstheit der sogenannten Polit-Elite.

Die RS – Folge ideologischer Vernichtungspolitik

Nur wenige Tage nach dem historischen Volks-Entscheid 1992 rief  Karadžić die Republika Srpska aus. Anschließend begann er seinen unheilvollen Feldzug gegen alles Nicht-Serbische. Die RS, die im Friedensabkommen von Dayton 1995 in ihrer Ausdehnung mit rund der Hälfte des bosnischen Territoriums als eine der beiden Entitäten des Landes festgeschrieben wurde, ist insbesondere hinsichtlich ihrer stark serbisch dominierten Bevölkerungsstruktur eine Folge dieser ideologischen Vernichtungspolitik, respektive der ethnischen Säuberungen, Folterungen, Vergewaltigungen.

Doch die unheilvollen Zeiten sind längst nicht vorbei: Serbenpräsident Dodik verfolgt, nicht zuletzt aufgrund wachsender innenpolitischer und ökonomischer Probleme in der Republika Srpska das klare Ziel einer Radikalisierung. Monatelang kündete er ein Referendum in der RS an. Damit sollte über die Zuständigkeiten übergeordneter Gerichte auf Staatsebene abgestimmt werden. Immer wieder droht Dodik zudem unverhohlen mit  Sezession aus dem bosnischen Staatsverband. Dass er nun in dem einstigen Epizentrum der serbischen Kriegsführung, vor der abzusehenden Verurteilung Karadžićs, ein Studentenheim mit dem Namen des Kriegstreibers einweihte, würde anderswo als groteskes Theater abgetan, in Bosniens Politik  sind solche Provokationen an der Tagesordnung, um die eigenen Machtpositionen abzusichern. Mit nationalistischen Untertönen lassen sich noch immer Wahlen gewinnen.

Arm in Arm mit Kriegsverbrechern

Ihren Ethno-Nationalismus haben auch die anderen Parteien keineswegs überwunden. Auch sie bringen internationalen Rechtsprinzipen regelmäßig offene Verachtung entgegen. So bereitete Dragan Čović, mächtiger Vorsitzender der kroatischen HDZ und derzeit Mitglied des dreiköpfigen bosnischen Staatspräsidiums, dem aus der Haft entlassenen kroatischen Kriegsverbrecher Dario Kordić 2014 einen feierlichen Empfang. Čović, der sich in Brüssel dieser Tage als überzeugter Europäer geriert, posierte anschließend mit dem verurteilten Kriegsverbrecher vor den Fotografen, Arm in Arm.

Und auch das bosniakische Präsidiumsmitglied Bakir Izetbegović stellt gerne unter Beweis, dass ihm die Kriegsgräuel der eigenen Kämpfer eher als Petitesse gelten: Die Idee, stellte der Vorsitzende der nationalistischen SDA kürzlich fest, Kommandeure der bosnischen Armee zu belangen, sei der Versuch, ein „künstliches Gleichgewicht“ herzustellen.

In der bosnischen Tagespolitik zeigt sich immer wieder aufs Neue, wie destruktiv diese alten Kräfte nach wie vor wirken. Mit mal aufgeheizter Rhetorik, mal mit verbrämendem Euphemismus lenken die nationalistischen Akteure erfolgreich von den eigentlichen Problemen des bitterarmen Landes ab. Statt die drängenden Herausforderungen Bosniens anzugehen, die hohe Arbeitslosigkeit (rund 50 Prozent) und Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen, stehen Machtdemonstrationen zum Vorteil der eigenen ethnischen Gruppe nach wie vor auf den politischen Agenden ganz oben. Nebenbei wird das Land ausgeplündert - die Korruption ist endemisch - bis in höchste Staatsämter hinein.

Es ist eben dieser betonierte, kleingeistige Nationalismus, der Bosnien seit Jahren hemmt, längst überfällige Reformen auf den Weg zu bringen. So wurde ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte aus dem Jahr 2009 über die systematische Benachteiligung der Anderen – all jener, die sich nicht den drei konstituierenden Gruppen der Bosniaken, Serben und Kroaten zurechnen - nicht implementiert. Damit bricht Bosnien seit Jahren fortgesetzt europäisches Recht.

Rechtsentscheidungen wie lästige Fliegen

Entscheidungen heimischer oder auch internationaler Rechtsinstitutionen werden von der politischen Elite Bosniens regelmäßig weggewischt wie lästige Fliegen. Daran wird auch der jüngst in Brüssel übergebene Antrag auf EU-Mitgliedschaft vorerst nichts ändern. Zwar kann die politische Klasse die europäische Rhetorik („wir sind auf dem richtigen Weg)“ inzwischen jederzeit  öffentlichkeitswirksam abspulen, doch wird es nun darum gehen, diesen Worten endlich auch Taten folgen zu lassen.

Es bleibt zu hoffen, dass der langjährige und arbeitsreiche EU-Integrationsprozess die Weichen neu stellen und einen moralischen, an demokratischen Leitlinien orientierten Neustart bedingen kann. Ein Neustart, der die Ära der Kriegsverbrecher und ihrer Nachkömmlinge im Geiste endlich zu beenden vermag.

Rabatte, welcher Art auch immer, dürfen seitens der Internationalen Gemeinschaft nicht gewährt werden. Die eigenen Standards, allen voran das Prinzip der Rechtstaatlichkeit, müssen klar kommuniziert und in allen Bereichen rigoros eingefordert werden.

Solange Kriegsverbrecher indes als Helden gefeiert werden, so lange Urteile wie die gegen Karadžić den Beteiligten nur ein selbstgefälliges „weiter so“ abringen, solange die unzähligen Opfer der Anderen weiterhin verachtet, die Täter aber glorifiziert werden, hat Bosnien aller gegenteiligen Versicherungen der politischen Akteure zum Trotz noch einen langen Weg zu gehen.

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