Georgien: Der große Diktator

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Verzerrt zwar, aber Stalins Schatten reicht bis in die Gegenwart

Geteilte Demokratie: Über sechzig Jahren nach seinem Tod erzeugt Josef Stalin im postsowjetischen Raum immer noch ein besorgniserregend hohes Maß an Bewunderung. Die Heinrich-Böll-Stiftung arbeitet daran, den Kreis der in der Geschichtsaufarbeitung Agierenden zu erweitern.

Drei Jahre ist der Diktator schon tot, als Nikita Chruschtschow am 25. Februar 1956 in einer geheimen Sitzung des 20. Parteitags der KPdSU mit Josef Stalin abrechnet. Es dauert eine gute Woche, bis Gerüchte über diese Rede Georgien erreichen. Sie treffen viele Georgier/innen in ihrem Stolz, stammte der nun diskreditierte Herrscher über die mächtige Sowjetunion doch aus ihren Reihen. Am 5. März versammeln sich die ersten Menschen vor dem Stalin-Standbild in Tbilisi, jeden Tag werden es mehr, bald verlieren die Behörden die Kontrolle über die Stadt. Am 9. März dringen sowjetische Panzer in die Stadt ein, machen dem – friedlichen – Aufstand ein gewaltsames Ende.

Über sechzig Jahren nach seinem Tod am 5. März 1953 erzeugt Josef Stalin im postsowjetischen Raum immer noch ein besorgniserregend hohes Maß an Bewunderung. Eine Erklärung dafür liefert die Studie „The Stalin Puzzle“, die in Zusammenarbeit mit der Carnegie Stiftung für den Internationalen Frieden 2013 entstand. Dafür wurden Menschen in Armenien, Aserbeidschan, Georgien und Russland nach ihrem Bild von Stalin gefragt – die erste vergleichende Befragung überhaupt. Sie sind im Blick auf ihre sowjetische Geschichte offenbar eher verwirrt, als dass sie sein diktatorisches Regime wirklich gutheißen. Der Name Stalins wird in allen vier Ländern immer noch mit dem Sieg über Nazi-Deutschland in Verbindung gebracht, insbesondere unter den Älteren.

In Georgien haben die vom damaligen Präsident Micheil Saakaschwili veranlassten Entstalinisierungsversuche nur begrenzte Wirkung entfaltet. Nach der 2012 vom Caucasus Research Resource Center durchgeführten Befragung haben viele Georgier/innen immer noch ein positives Bild von Stalin, wenn auch mehr als einer Art nationalen Ikone denn als politisches Vorbild. Ein „Erinnerungsmuseum“ in seiner Heimatstadt Gori pflegt dieses Bild. Umgekehrt präsentiert sich das Land im „Museum der sowjetischen Okkupation“ in Tbilisi als bloßes Opfer der Okkupation.

Das geringe Niveau geschichtswissenschaftlicher Forschung und die Instrumentalisierung konträrer historischer Narrative für politische Zwecke ist allen südkaukasischen Nationen gemein. Während im geschichtspolitischen Diskurs die meist viele Jahrhunderte zurückliegende „heroische Vergangenheit“ der jeweiligen Nation dominiert oder widerstreitende territoriale Ansprüche mit abenteuerlichen Geschichtskonstruktionen untermauert werden, steht eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts und insbesondere mit der Geschichte der sowjetischen Periode weitgehend aus. Auch die Auseinandersetzung mit den Repressionen der Stalinzeit bleibt von politischer Opportunität abhängig und folgt vorgegebenen, aus aktuellen politischen Konfrontationen gespeisten Interpretationsmustern.

Gestützt auf Vorarbeiten einiger ihrer südkaukasischen Stipendiaten und Stipendiatinnen hat die Heinrich-Böll-Stiftung gemeinsam mit dem Deutschen Volkshochschulverband International seit 2009 Projekte zum gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Umgang mit dem stalinistischen Terror initiiert. Dem Vorhaben lag der Gedanke zugrunde, dass eine nachhaltige Entwicklung der Demokratie nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie eine bewusste Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit einschließt.

In Zusammenarbeit mit dem „Soviet Past Research Laboratory“ (SovLab) wurde eine „Topographie des Roten Terrors“ erarbeitet: Jetzt kann man in Tbilisi mit der Karte in der Hand Gebäude und Plätze identifizieren, die mit der Repression der sowjetischen Herrschaft verbunden waren. Das Haus von Stalins Schergen Lawrentij P. Berija zum Beispiel, dem Statthalter in Georgien und späteren sowjetischen Geheimdienstchef, diente eine Dekade lang dem Menschenrechtsbeauftragten als Amtssitz und beherbergt heute das georgische Olympische Komitee.

Im Rahmen des Projekts „Rethinking Soviet Past“ wurden Dokumente zu den Ereignissen von 1956 öffentlich zugänglich gemacht. Sie stammen u. a. aus den Archiven des georgischen KGB und des  Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Georgiens. Solche Dokumente sind in Georgien grundsätzlich frei zugänglich, aber erst mit der Partnerorganisation  Institute for Development of Freedom of Information (IDFI) wurden sie aus den Kellern gehoben.

Die Heinrich-Böll-Stiftung arbeitet nun daran, den Kreis der in der Geschichtsaufarbeitung Agierenden kräftig zu erweitern. Um die Erinnerungskultur zu institutionalisieren, wird eine Zusammenarbeit mit den staatlichen Institutionen angestrebt: damit die Geschichtsaufarbeitung auch zur Aufgabe des Staates gemacht werden kann.

Dieser Artikel wurde im Rahmen der Publikation "Für Demokratie - Vom Engagement der Heinrich-Böll-Stiftung in der Welt" erstellt.

Lesetipp: Thomas de Waal, Maria Lipman, Lev Gudkov and Lasha Bakradze: The Stalin Puzzle: Deciphering Post-Soviet Public Opinion, Washington 2013.